Ausgabe 14

  • 16/11/2024

Vorwort #14

HINWEIS: IN DIESER ONLINE-AUSGABE BEFINDEN SICH NUR TEXTE DER RUBRIK „FREIER TEIL“. FÜR DEN GENUSS EINER VOLLSTÄNDIGEN AUSGABE KONTAKTIEREN SIE UNS PER MAIL (autorenseelsorge@literatur-wuerzburg.de) ODER BESTELLEN SIE EIN EXEMPLAR AUF liberladen.org.

Die letzten Sommerabende vergehen und wir fühlen uns Disko(blau). Und Ihr? Ist es das grelle Licht, das einem auf der Tanzfläche so penetrant ins Gesicht scheinen muss? Das Gefühl, sich in langen Nächten, blauem Licht zu verlieren oder sich einfach in diesem Moment aufzulösen?
Wir haben keine genaue Antwort darauf, denn: Diskoblau kann das alles sein. Von rauchenden Gefühlen, Fragmenten an längst verschlossene Erinnerungen bis hin zu Orten, die tief in uns wurzeln. Unsere Autor:innen haben uns gezeigt, es gibt eine ewig große Freiheit an Interpretationszugängen. Sie tanzen mit Worten in ihren Texten, drehen sich im Kreis zwischen Entfremdung und Selbstfindung und schweben mitten im Rausch.
Die Rubrik „Diskoblau“ und der Freie Teil machen durch Gespräche auf Papier viele kleine reflektierende Facetten von ihnen sichtbar, die sie mit uns geteilt haben und nun auch mit Euch.

Liebe Leser:innen, auch Ihr seid nun herzlich eingeladen, einzutauchen in unserer Kollektiven Literaturzeitschrift Würzburg Ausgabe 14 und Euch in den Texten zu verlieren oder vielleicht auch zu finden.


Landpartie

Die Fensterrahmen sind leuchtend weiß. Die hölzerne Fassade ist blassblau gestrichen – das traditionelle Dunkelrot erschien uns zu aufdringlich. Ein großer Garten und mehrere Hektar Wald umgeben das Haus. Zwischen den Bäumen liegt ein kleiner See mit eigenem Steg. Paul und ich haben uns einen Traum erfüllt mit diesem Grundstück.
Ich knie im Dreck. Winzige Steinchen bohren sich durch den Stoff der zerschlissenen Jeans in meine Haut. Ich drücke die Erde rings um den Setzling leicht fest. Die zarten Blättchen am Ende des dünnen Stängels erzittern. Mein Blick bleibt für einen Moment an meinen Händen hängen. Die Finger heben sich gespenstisch weiß vom dunklen Boden ab. Die Knöchel sind blutig und unter den brüchigen Nägeln ist immer etwas Erde. Seitdem der Garten zu meinem Lebensmittelpunkt geworden ist, gehören die gepflegten Hände, auf die ich früher so viel Wert gelegt habe, der Vergangenheit an. Wir wollten uns nur noch auf das Wesentliche konzentrieren hier. Auf uns und auf die Dinge, die uns glücklich machen. Paul wollte lernen, aus unserem eigenen Holz Möbel zu schreinern. Ich wollte endlich wieder mit dem Schreiben anfangen. Doch einen Arbeitstisch habe ich immer noch nicht und mein Computer verstaubt in einer Umzugskiste. Seit Monaten habe ich kein Wort zu Papier gebracht.
Die Samen für meine Setzlinge habe ich mit viel Sorgfalt ausgewählt. Sie stammen ausschließlich von den größten und schönsten Exemplaren der letzten Ernte. Ich habe die Kerne getrocknet und mit einer Lupe gründlich auf Schäden untersucht, bevor ich sie für den Winter in kleine, säuberlich beschriftete Papiertüten verpackt habe. Ehe ich die Kerne vor ein paar Wochen in Töpfchen mit Aussaaterde gesetzt habe, habe ich ihre Ränder mit einer Feile abgeschliffen, damit sich die Keimlinge leichter aus der harten Schale befreien konnten. Ich habe alles in meiner Macht Stehende dafür getan, meinen Pflanzen den perfekten Start ins Leben zu ermöglichen. Ich setze mich auf meine Fersen und lege meine Hände auf meine Oberschenkel. Für einen Moment schließe ich die Augen und genieße die Sonne auf meiner Haut. Der Winter hier oben war eiskalt und stockfinster. Und einsam. In den vergangenen Monaten gab es Tage, an denen ich mir nicht vorstellen konnte, dass es irgendwann wieder besser werden würde. Doch inzwischen ist auch der letzte Schnee geschmolzen, das letzte Eis getaut. Licht und Wärme sind zurückgekehrt. Und irgendwie geht es weiter.
Das Geräusch eines herannahenden Fahrzeugs lässt mich aufhorchen. Hinter unserem Grundstück geht die schmale Schotterstraße in einen noch schmäleren Waldweg über. Niemand kommt hier zufällig vorbei. Ich öffne die Augen und werfe einen Blick über meine Schulter. Obwohl ich weiß, was ich dort sehen werde, kann ich nicht anders. Im nächsten Moment taucht der Pick-up zwischen den Bäumen auf.
Paul hält am Straßenrand vor dem Haus. Es ist Tage her, dass ich ihn zuletzt gesehen habe. Er hat sich nicht verabschiedet und nicht gesagt, wohin er geht. Das macht er schon lange nicht mehr. Und ich habe nicht nachgefragt. Durch den Zaun hindurch beobachte ich Paul dabei, wie er aussteigt. Wie immer ist er nicht allein. August, der eben noch auf dem Beifahrersitz saß, folgt ihm nach draußen und die beiden umrunden den Pick-up. Der Hund ist es auch, der mich als erstes bemerkt. Es ist nur ein ganz kurzes Zögern, das ihn verrät. Dann ist er mit seiner Aufmerksamkeit auch schon wieder ganz bei Paul. Paul selbst entdeckt mich erst, als er durch das Gartentor tritt. Unsere Blicke treffen sich. In Pauls dunkel umschatteten Augen liegt ein Ausdruck, der mir inzwischen nur allzu vertraut ist. Er sieht mich an, als könnte er mich und meinen Anblick nicht mehr ertragen. Mich und meine Pflanzen. Immer und immer wieder meine Pflanzen.
Ungelenk erhebe ich mich aus dem Beet und wische mir die Hände an der Hose ab. »Hallo«, sage ich. Dann weiß ich nicht weiter. Alles, was es zu sagen gibt, haben wir längst gesagt. Nichts davon hat etwas geändert. Wie sollte es auch.
»Hej«, entgegnet Paul, obwohl er sonst noch immer kein Wort Schwedisch spricht. Vielleicht klingt es deshalb so seltsam aus seinem Mund. Dann geht er an mir vorbei, ohne mich noch einmal anzusehen. Er durchquert den Garten und August weicht ihm dabei keinen Moment lang von der Seite. Ich war diejenige, die sich immer einen Hund gewünscht hat. Ich bin Paul so lange damit in den Ohren gelegen, bis er schließlich nachgab. Doch wir fanden nie richtig zueinander, August und ich. Bei Paul schien er sich von Anfang an einfach wohler zu fühlen. Bei Paul, der sich mit ihm im Gras balgt. Bei Paul, der unermüdlich Bälle und Stöckchen wirft. Bei Paul, der ihn heimlich unter dem Tisch füttert und glaubt, ich würde es nicht bemerken.
Ich schaue den beiden nach, bis sie durch die offenstehende Tür im Inneren des Hauses verschwunden sind. Ich warte. Bis Paul wieder auftaucht, vergehen nur ein paar Minuten. Er trägt jetzt ein frisches Hemd. Kariertes Flanell. Er trägt diese Hemden erst, seit wir hier sind. Als wären sie ein unabdingbarer Teil einer ganz bestimmten Vorstellung, die er von sich und seinem Leben in der Wildnis hat. Den Riemen über seiner Schulter bemerke ich erst, als er vor mir steht. Mein Blick wandert von der kleinen Reisetasche zu seinem Gesicht. Wir sehen uns an. »Ich habe ein kleines Haus im Dorf gefunden«, sagt Paul. »In ein paar Tagen komme ich noch mal vorbei und hole meine restlichen Sachen. Dann sollten wir auch besprechen, was wir damit machen.« Er nickt an mir vorbei und meint damit unser Haus, unseren Garten, unseren Wald.
Einen Moment lang bleibt er noch stehen, unschlüssig, und wartet auf eine Antwort. In seinen Augen sehe ich mich selbst. Ich schweige. Dann löst er den Blick. Er gibt dem Hund ein Zeichen und August prescht an uns vorbei Richtung Tor. Als könnte er es kaum erwarten, endlich wieder von hier fortzukommen. Paul folgt ihm.
Es war ein warmer Tag im Spätherbst, an dem alles anders wurde zwischen Paul und mir. Wir saßen Seite an Seite auf dem Steg an unserem See. Unsere Beine baumelten ins Wasser, das selbst im Sommer nicht richtig warm geworden war. »Ich freue mich so darauf, unsere Kinder hier aufwachsen zu sehen.«, sagte Paul irgendwann.
Ich sah ihn von der Seite an. Sah das Lächeln, das seine Lippen umspielte. Die kleinen Fältchen um die Augenwinkel. Wir hatten so lange von all dem hier geträumt, dass wir uns nie gefragt hatten, was danach kommen würde. In meiner Vorstellung hatte es immer nur uns beide gegeben, und den Hund. Niemanden sonst.


Auf die Straße

Eine Minute. In einer Minute müssen die U-Bahnen, Straßenbahnen und Autos stehenbleiben. In einer Minute müssen die Gasleitungen abgeschalten und die Fahrstühle verlassen werden. In einer Minute kannst du dir überlegen, wo du am sichersten bist. Eine Minute, abzüglich Reaktionszeit. Eine Minute, um eine passende Aktion durchzuführen. Eine Minute.
In einem Vorort von Bucureşti gibt es eine Erdbeben-Messtelle. Es ist ein kleines Gebäude, mit vielen Antennen. Bucureşti ist eine der am stärksten von Erdbeben bedrohten Städten auf der Welt, sagte ein Wissenschaftler in einem Nachrichtenportal. Ich schrieb seinen Namen und sein Zitat ab. Ich saß im Garten der Redaktion unter einem Pavillon im Schneidersitz. Vor mir stand eine leere Kaffeetasse, eine zerknüllte Brottüte, in der Börek gewesen war, und meine Carpaţii Schachtel. Mein Kollege Mihai kam an diesem Tag bisher drei Mal raus zum Rauchen. Er schaute mich dann immer an, nickte freundlich, und zog dann schweigend an seinen Lucky Strikes. Das Warnsystem gibt dir eine Minute Zeit. Mehr geht nicht. Schneller ist nicht messbar. Du kannst nur messen: in einer Minute wird es kommen. Genug Zeit, um unter den Tisch oder aus dem Fenster zu springen. Wann es tatsächlich benutzt werden kann, ist unklar. Es existiert noch nicht. Durchschnittlich drei Mal in einem Jahrhundert kommt ein schweres Beben über die Stadt, aus der Vrancea-Erdbebenzone südlich der Karpaten. Wenn man in Bucureşti lebt und nicht allzu jung stirbt, dann wird man durchschnittlich gesehen eines oder zwei miterleben. Ich saß an einem Artikel. Wenn ich in der demokratischen Zeitung erneut auf das Thema aufmerksam mache, wird sich bestimmt überhaupt nichts bewegen. Gebäude werden ohne Regularien gebaut. Es gibt Regularien in Rumänien. Es ist nicht offiziell bekannt, wie viele Gebäude baufällig sind. Eine NGO spricht von 10.000 Gebäuden. Wie viele Menschen leben in 10.000 Gebäuden, wenn man bedenkt, dass die Stadt voller großer Blocks ist? Ich tippte einen Text auf meinem Laptop. Ich hatte bereits zwei Bilder: eines von einem Riss in meinem Block, eines von einem Riss vom Bauhausgebäude am Piaţa Amzei und ein Archivbild vom Erdbeben in den 70ern. Der Artikel soll informativ und predigend sein. Bitte tut doch irgendwas. „Man kann doch nicht einfach mit offenen Augen zusehen, wie vor einem alles den Bach runter geht“ – in der Art. Die Chefin hörte sich das Thema kurz an und nickte. „Gute Sache. Ich bin, Gott sei Dank, sicher. Mein Mann und ich leben in einem kleinen Haus außerhalb der Stadt“, sagte sie und schaute wieder auf ihren Bildschirm. Sie tippte mit ihren knochigen Fingern auf die Tastatur ihres Rechners.
Ich setzte mich auf meinen Platz gegenüber von Catalin und flüsterte drei Mal halblaut „Entschuldigung“, bis ich ihre Aufmerksamkeit hatte.
„Ja?“, fragte sie. Ihr Kopf schaute zur Hälfte neben ihrem Bildschirm hervor. Ihre Augen sahn müde und ihre Haare gekämmt aus.
„Hast du Angst vor einem Erdbeben?“
„Nein.“
„Gar nicht?“
„Ich lebe in einem modernen Block.“
„Ist der sicher?“
„Ja. Trotzdem wird es schrecklich, wenn ein Erdbeben kommt.“
„Total“, sagte ich, nahm mir eine Zigarette und stellte mich vor die Tür. Ich ließ sie langsam in die Angeln krachen. Mihai stellte sich nach ungefähr einer Minute neben mich. Wir schwiegen, rauchten und zuckten zeitgleich zusammen, als auf einer angrenzenden Baustelle irgendwas laut auf den Boden knallte. Wir hoben unsere Schultern, blickten uns kurz an und machten weiter mit dem in die Gegend starren.
„Hast du bald Feierabend?“, fragte er mich, als er seine Zigarette grob in den Aschenbecher drückte.
„Ich arbeite immer bis 16 Uhr.“ „Ah.“
„Du?“ „Unterschiedlich.“ Vorsichtig schloss er die Terassentür hinter sich. Es war 15.30 Uhr. 30 Minuten schrieb ich noch an einem Text, fünf Minuten sortierte ich meinen Schreibtisch und meinen Rucksack und in drei Minuten stand ich an der Bushaltestelle, neben zahlreichen anderen arbeitstätigen Menschen, die müde auf die Straße blickten. Sechs Minuten Wartezeit. Ein Supermarktmitarbeiter vom Mega Image hinter mir kam mit zwei großen Müllsäcken aus dem Laden und warf sie in eine große Tonne, die neben dem Gebäude stand. Der Bus hielt zwei Minuten. Zwei Mal eine Minute, um sich in Sicherheit zu bringen. Ich schaute mir die Sekunden auf der Stoppuhr auf meinem Handy an. Sie gingen langsam voran. Ich schaute hoch und beobachtete die Menschen, die sich kreuzigten, während rechts vom Bus die Kirche ins Blickfeld kam. Zwanzig Sekunden waren dabei vergangen. Insgesamt 16 Minuten stand ich im Bus. Nach zwölf Minuten war ich in meiner Wohnung. Ich warf meinen Rucksack ins Eck, zog mich bis auf die Unterhose aus, machte alle Fenster auf, trankt drei Gläser Wasser, warf mich auf mein Klappsofa und starrte an die Decke. Sieben Minuten. „Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig“, zählte ich in meinem Kopf. Als ich zwanzig Mal „Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig“ zählte, kam mir eine Minute durchaus lange vor. Könnte ich in der Zeit aufstehen und aus meiner Wohnung rennen? Ich müsste die Tür aufreißen, acht Stockwerke hinunter und bis zur Straße rennen. Fünf Minuten stellte ich mir das vor. Ich stand auf, zog mir ein frisches Hemd und Hose an und trank noch ein Glas Wasser. Auf meinem Handy stellte ich mir einen Wecker auf sieben Minuten. Ich nahm mir ein Buch, setzte mich hin und versuchte zu lesen. Manchmal hob ich meinen Kopf, schaute durch mein Zimmer und wartete auf das Klingeln. Als ich gerade das Wort: „Flanieren“ las, klingelte mein Wecker. Ich warf das Buch in die Ecke und rannte zu meiner Haustür, riss sie auf und zog meinen Schlüssel heraus. Dieser klimperte in meiner Hosentasche bei jeder Stufe, die ich hinunterrannte. Als ich die Haustür aufriss, rammte ich fast eine alte Frau. „Scuză!“, rief ich, während ich die letzten Meter bis zur Straße hastete. Eine Minute und dreißig Sekunden hatte ich gebraucht. Wahrscheinlich war ich am Ende der ersten Minute am Ende der Treppe angelangt. Wenn das Erdbeben gekommen wäre, wäre ich hingefallen und mein Genick hätte laut geknackst. Die Passanten, Restaurantmitarbeiter und Autofahrer schauten mich alle für einen Moment an, während ich durchatmete und am Bürgersteig der Straße stand. An der Straße, der Calea Victoriei, waren überall große Wohnblocks, die sie umringten. Sie waren eindeutig moderner als meine Bruchbude, aber auch sie könnten zusammenklappen und auf mich fallen. Trotzdem hatte dieser Ort etwas Sichereres, als mein Betongefängnis. „Eine Minute schaff ich“, sagte ich meinem Spiegelbild, nachdem ich in meine Wohnung zurückgegangen war und mein nun verschwitztes Hemd ausgezogen und in die Ecke geworfen hatte. „Eine Minute“, dachte ich. Das würde ich schaffen, wäre das Frühwarnsystem bereits da.


shinin‘ shiny moons

[…] i won‘t compose an ending to defend myself from blistering rays of hope […] – i will not be safe;
alabaster deplume

leck flames falt heimlich multiverse
an deinen verbognen haenden blosz
moral vom toten schattenleibe noch
leiern sprachspuren on repeat quasi
unter dreckstarrenden fingernaegeln
hervor & sometimes irre substanzen
u’ll have to confess ur sins & crimes
to wider just jene weltanschauungen
aus den untiefen deiner hosentaschen
where u collect holes & mesmerizing
architectures verwegenes blendwerk
trifft goettlicher tau ruede antithesen
scharniere zwischen harten gelenken
deren krachen & knacken huebscher
versteinerungsanalogien induzierten
halt fuer explosive erosive gedanken
than ur liquid mimicry cast in wood
weil wuerden nicht mehr mal asche-
lose zu submissionen ausgesetzt nun
werden bearin’ ur wild ants’ crosses
muesstest du ihre rauchenden worte
muehsam mithilfe diverser gestalten
zusammenfangen copying some fine
methods u learned from pretty nice
entomologists wie leise nichts sagen
& auf wundersame braende warten


Lieber, Mond?

Bläulich schimmert das Wasser im Pool. Kerzenlicht flackert in Bambussträuchern und Bonsaibäumen, lässt Sonnenschirme aus rotem Stoff leuchten. Kellnerinnen in farbigen Kostümen fügen sich in den Klangteppich elektronischer Livemusik ein. Pailletten reiben aneinander, Gold und Diamanten liegen locker auf straffer Haut. Auf Teppichen stehen silberne Designstühle und bunte Skulpturen, in denen sich die Gäste spiegeln. Dosen bedruckt mit Pop Art von Andy Warhol berühren Lippen. Der Nachtisch schmeckt nach Unendlichkeit. Es werden Pillen und Pulver auf Tontellern, getrocknetes Gras in Papierrollen und als grüne Pastillen gereicht.
MZ nimmt sich den Tag darauf frei, schläft viel. Am Dienstag wird er wie gewohnt um 9:30 Uhr geweckt. Neben ihm bewegen sich Schalen, die in Form und Farbe Planeten ähneln. Grüntee, Smoothie, Bananenpancakes, Obst und Wasser drehen sich im Kreis. Der Dampf aus zwei Schalen kräuselt sich in der Luft, vereint sich mittig der Gefäße. MZ schiebt die Kühlmaske von den Augen. Darauf steht: „Du sagst, ich bin ein Träumer. Aber ich bin nicht der einzige“. Er greift nach einer Traube aus der Merkur-Schale und wartet, bis sich der grüne Smoothie in der Uranus-Schale langsam in seine Richtung bewegt. Saugt am Strohhalm, die Temperatur stimmt, er trinkt die Schale in wenigen Zügen aus. Es folgen ein, zwei, drei Pancakes. Mit zehn mittelgroßen Schlucken leert er die Schale Tee, in drei Zügen das Wasser aus der Mond-Schale. MZ lässt seinen Kopf in die grauen Seidenkissen sinken, bewegt seine Handfläche über den Sensor an der Bettkante. Das Frühstück verschwindet und ein iPad erscheint. MZ liest dreißig Minuten lang vorsortierte Emails. Seine Gedanken zu den Antworten diktiert er wie jeden Tag seinem Kollegen Bastian. Am liebsten mag MZ es, wenn Basti in der Ecke neben dem rechten Fenster steht. Dort, wo die große Sukkulente steht. Dort, wo das rote Mobile des Bildhauers Alexander Calder sich bewegt und kleine Schatten an die Wand zeichnet. Noch ein klein wenig weiter nach rechts. So steht Basti richtig. Während der zweiten Mondlandung, im November 1969, berührt das erste Kunstwerk den Mond. Nur sieben Leute, inklusive sechs Künstler, wissen davon. An Bord von Apollo 12 wird ein kleiner Keramikschirm transportiert. Er sieht aus wie einer dieser Party-Schirme, die am Glasrand farbiger Cocktails stecken oder auf Muffins für Geburtstagsfeiern landen. Sechs US-amerikanische Künstler haben sich auf dem Keramikschirm verewigt. Andy Warhol, Robert Rauschenberg, David Novros, Forrest Myers, Claes Oldenburg und John Chamberlain. Warhol hat seine Initialen, die zugleich eine Rakete darstellen sollen, ganz oben links auf den Schirmstock gezeichnet. Daneben ein schwarzes Quadrat von Novros, darüber Rauschenbergs Linie. Auf dem Schirmdach ist eine Mickey Maus von Oldenburg verewigt, sowie die Schaltkreiszeichnung von Chamberlain und Myers Figur aus sich mehrfach kreuzenden Linien. Von dem Keramikschirm gibt es weitere zehn Exemplare. Nur einesdavon ist auf dem Mond und bereits von Mondstaub überdeckt. Die anderen Schirme befinden sich auf der Erde. Recherchen eines wissenschaftlichen Instituts ergaben, dass die Kunstwerke unter anderem in den Plastikbecher eines Obdachlosen gelegt oder in einem Keramikkochtopf versteckt, der auf einem Flohmarkt verkauft wurde. Ein Exemplar soll auf dem Grab einer Frau namens K. Zaan stecken. Dass sich ein Unikat auf dem Mond befindet, ist nicht offiziell bestätigt. Als Indiz dient alleinig ein Telegramm, das damals an den Künstler und Initiator der Idee, Forrest Myers, zwei Tage vor dem Raketenstart adressiert wurde.
Auf diesem steht: „Alles hat funktioniert. Die Systeme sind bereit“. Weitere Recherchen ergaben, dass wahrscheinlich ein Ingenieur den kleinen Schirm mittransportiert und auf dem Mond stationiert hat. Dieser Ingenieur ist laut Forschungsergebnissen bereits verstorben, was allerdings nicht stimmt. Denn die Recherchen haben nicht den richtigen Ingenieur aufgespürt. 1969 ist MZ noch nicht auf der Welt. Trotzdem fühlt sich das alles für ihn wie eine verpasste Chance und manchmal gar als Kränkung an. MZ sammelt Kunst. Schon als kleines Kind stand er vor der Sammlung seines Vaters und hatte das Gefühl, etwas Großartiges geschaffen zu haben. Mit sechs Jahren wirft er seiner Mutter vor, dass er nicht früher geboren wurde.
So weiß er nicht, ob und wo das Kunstwerk bei der zweiten Landung auf dem Mond platziert wurde. Seine Mutter hatte darauf keine Antwort, ganz abgesehen davon, dass diese Art von Frage nicht auf eine Antwort wartet. Jetzt sagt MZ zu seiner Mutter „Stell dir vor, es gibt keine Grenzen“. Er stellt eine kleine Teetasse auf die Erde und träufelt Wasser aus dem Rokkō-Gebirge in Japan auf den Grabstein.
MZ ist sich sicher, dass er das Kunstwerk auf dem Mond finden wird, genauso wie die weiteren Keramikschirme. In seinen Träumen sieht er die Schirme vor sich in einer Ausstellung. Er ist Sponsor und Kurator, die Kunstwerke sind seine. Damit MZ noch mehr Einfluss auf den Kunstmarkt bekommt, muss er ihn beherrschen. Deshalb will er bei den nächsten Mondreisen dabei sein, trainiert sich bereits in Schwerelosigkeit. Vor ein paar Monaten startete er eine öffentliche Ausschreibung. Acht Künstlerinnen und Künstler sollen mit ihm zum Mond fliegen. MZ zahlt alles. „Lieber Mond“ heißt die Mission und dauert insgesamt sechs Tage. Es soll Kunst entstehen und MZ wird ein Teil dieser Kunstwerke sein. Sein Name wird überall auftauchen. Nebenbei werden die Künstler*innen den Traum des Weltraumtourismus als erstrebenswert darstellen. Unternehmer der Tech- und Startup Szene haben Kunstschaffende längst als soft power für sich entdeckt. Und die Künstler beißen an, genauso wie hungrige Fische den Köder. MZ will mit seinen Freitickets gleichzeitig die Gemüter beruhigen. Unter seinen Posts auf Instagram oder X melden sich viele, die darauf hinweisen, das Geld doch klüger zu verteilen. Die Einstellungen zum Weltraumtourismus gehen auseinander. Das Problem ist, dass Leute Fragen stellen, sobald Themen öffentlich werden. MZ, kannst du uns Geld geben? MZ, kannst du uns mit auf den Mond mitnehmen? MZ, denkst du nicht auch, dass wir erstmal die Ungerechtigkeit auf der Erde lösen müssen? Wer kann sich einen Urlaub für 20 Millionen Dollar leisten, außer Milliardäre? Hier ist es wieder, dieses Fragezeichen, das MZ verabscheut, weil es seiner Ansicht nach für Kapitulation und Schwäche steht. Weil das Fragezeichen alles so unnötig kompliziert macht. Weil MZ Kopfschmerzen davon bekommt.
MZ ist Unternehmer, Kunstsammler, Billionär und Weltraumtourist. So steht es zumindest im deutschen Wikipedia-Artikel. Seine Ideen fallen ihn am Morgen ein, zwischen Merkur und Uranus, zwischen Traube und Smoothie. Dass ab einer Million Menschen aufhören, Fragen zu stellen, ist erstaunlich. Erschreckend ist es, dass es ab einer Billion das Konzept der Frage nicht mehr gibt. MZ, der Billionär, stellt deshalb keine Fragen, hat noch nie welche gestellt. Ihm ist das Konzept der Frage fremd. Es gibt nur Antworten, Möglichkeiten. Geld hebt Grenzen auf, vermittelt das Gefühl von Unendlichkeit. Ohne Grenzen und Endlichkeit werden gesellschaftliche Maßstäbe ausgehebelt, lösen sich Fragen in Luft auf. Ein Individuum kann sich aus gesellschaftlichen Strukturen lösen, vor ihm ein Horizont an Möglichkeiten. Manche würden das Befreiung nennen. Andere Ignoranz und Egoismus. MZ sieht diese Zweideutigkeit nicht. In seinem Leben sind Dinge klar, es gibt weder Ambivalenz noch Zweifel. Für ihn steht fest, dass er 2024 einen spaßigen Ausflug machen wird. Ausflug klingt nach Rucksack, Wanderschuhe und Butterbrot. Deshalb nennt er den Ausflug einen Trip. Trip bedeutet Reise ohne allzu große Vorbereitung. „Wir wollen eine tolle Zeit zusammen haben“ schreibt er auf seinem Instagram-Profil. „Wenn wir das teilen, können alle eine gute Zeit haben. Ich will alle lachen sehen“.
Der Mond ist für MZ ein Planet, der für Zukunft und das Wahrwerden von Träumen steht. Das Leben findet jetzt und hier statt, sagt MZ, lässt eine Traube durch die Finger gleiten, schiebt sie sich in den Mund. Am Abend steht er auf der Bühne und spricht über die Kunst der Momenthaftigkeit, über Unendlichkeit. Seine Augen funkeln im Scheinwerferlicht wie Sterne an einem klaren Abendhimmel. Applaus schwappt um seinen Körper wie klares, sauberes Meerwasser in einer Bucht. MZ fühlt sich gut, er ist sich dieses Momentes bewusst, er nimmt ihn sich wie einen Pancake, er isst ihn mit der Hand.
MZ lässt weiter nach den Minischirmen suchen. „Wir werden die Schirme finden, alle“, versichert ihm Basti, der in der Ecke am Fenster steht. „Ich weiß“ sagt MZ. Basti schaut kurz auf, dann blickt er auf das Tablet in seiner Hand, nuschelt „ja“ und muss sich räuspern. „Weißt du eigentlich, warum ich dich gerne Basti und nicht Bastian nenne“ sagt MZ und macht eine Dehnübung im Bett. Bastian schüttelt den Kopf. „Weil du schon so alt bist, dass ich es nicht aushalte, dich Bastian zu nennen. Es fühlt sich besser an, dich mit der Kurzform anzusprechen. Der volle Name klingt nach Alter, er riecht nach Endlichkeit“. Bastian atmet etwas lauter aus. Am liebsten würde er sich kurz hinsetzen. Aber in der rechten Ecke ist kein Stuhl. Da steht nur diese stachelige Sukkulente und die Deckenskulptur wirft Schatten an die Wand neben ihm. Die Schatten bewegen sich, sehen aus wie kleine Schirme. Sehen aus wie Fragezeichen. Bastian wird schwindelig.
Plötzlich hat Bastian das Gefühl, dass er hier raus muss und zwar sofort. Dass er all das hier beenden, dass er MZ die Kündigung reichen sollte. Sich als alt bezeichnen zu lassen, ist eine Sache. Sich als alt bezeichnen zu lassen, obwohl er als Ingenieur an den ersten beiden Mondlandungen beteiligt hat, eine andere Sache. MZ weiß davon nichts, weil Bastian es ihm nie erzählt hat. Weil er auf Empfehlung an diesen Job gekommen ist. Und warum erzählen, wenn niemand fragt? Plötzlich überkommt Bastian ein Gefühl der Wut. Doch anstatt zu gehen, bleibt er. Wenn MZ sich am Können anderer labt und damit Geld verdient, wenn er sich um nichts als um seine eigenen Träume schert, dann lohnt es sich, hier in der Ecke stehenzubleiben und das Versprechen ins All zu jagen, dass das Kunstwerk gefunden werde. Es ist ein Akt der Rebellion, MZ nie die Keramikschirme auszuliefern. Vielleicht, denkt sich Bastian, wird diese Entscheidung sogar die Menschheit vor falschen Träumen und trügerischem Fortschritt schützen. Wird so etwas wie Zukunft machbar machen. Während Bastian sich all das denkt, hat er eine Hand in der linken Hosentasche. Vorsichtig umfährt sein Zeigefinger den kühlen Gegenstand in der Hosentasche. Vorsichtig umfährt sein Zeigefinger den kühlen Gegenstand in der Hosentasche. Er spürt die Spitze, die Rundung, Kerben. Draußen beginnt es zu regnen. Mit ruhiger Stimme sagt Bastian „Ich freue mich stets, Ihre Meinungen zu hören“. MZ schaut von seinem Smartphone auf. Das erste Mal innerhalb der letzten acht Jahre schaut er Bastian fragend an.


Der Geruch von Salz

Letzte Nacht mag Einer sein Glück gefunden, ein Anderer eine wichtige Entscheidung getroffen haben, Karl jedoch stand am Fenster seines Schlafzimmers und starrte auf die Straße. Normalerweise tat er das nicht, normalerweise schlief er durch, und wachte nicht mittendrin auf. Letzte Nacht war das anders. Karl fragte sich zuerst warum, dann, wann er das letzte Mal nachts unterwegs gewesen war. Musste eine Weile her sein, er kam nicht drauf.
Beim auf die Straße Starren erinnerte sich Karl plötzlich an das Geschrei von Möwen und den Geruch von Salz. Karl fand sich mehr Mittelmeertyp als Stadtmensch und dann fiel ihm ein, wie er mal mit einer Verflossenen ans Mittelmeer gefahren war und wie sie dort in einem kleinen Hotel wohnten und in der Früh vom Geschrei der Möwen geweckt wurden.
Eine Verflossene, dachte Karl, das kling vielleicht komisch. Eine Ex wäre aber zu viel gesagt. Sie hatten damals nur dieses eine Wochenende miteinander gehabt. Sie hieß Sara.
Sara war nicht die letzte Frau in Karls Leben. Die letzte war aber auch nicht mehr da und Karl wandte sich dem Bett zu. Neben seiner aufgeschlagenen Decke und seinem eingedrückten Kissen befanden sich eine zusammengelegte Decke und ein zurechtgelegtes Kissen. Der Bezug war der gleiche wie auf seiner Seite des Betts. Wenn, dann wird gleich alles frisch bezogen, dachte Karl. Er mochte Symmetrie. Symmetrisch waren längst auch seine Tage. Wollte er gar nicht, hatte sich aber ergeben. Ein schleichender Prozess. Irgendwann konnte er seine Tage nicht mehr voneinander unterscheiden. Und so verblasste Karls Erinnerung an den Geruch von Salz und das Geschrei von Möwen. Karl war beides bis zur letzten Nacht entfallen. Zu beschäftigt, dachte Karl. Dabei hatte er Sara und auch seiner Letzten so oft davon erzählt, wie er am Mittelmeer wohnen wollte. Von dem kleinen Haus, das er erst noch finden musste, von dem aus er dann das Mittelmeer sehen und das Salz riechen und das Geschrei der Möwen hören könnte. Karl erzählte ihnen oft davon. Nur immer weniger, desto symmetrischer seine Tage wurden.


Warum er letztlich im Fluss landete, wusste niemand. Außer vielleicht der Fluss selbst, aber der gluckerte oder brauste einfach weiter über Steine, Tiefen und Untiefen, als ob nichts gewesen wäre.
Für die einen war klar, dass es ein Unfall war. Abgerutscht war er, am vom Regen aufgeweichten Pfad über der Felswand abgeglitten. Er war ja doch ein Städter geblieben. Ein Zuagraster, sonderlich überraschend oder ganz ungewöhnlich wäre so ein Unfall also nicht. Manche sprachen von Selbstmord. Er habe sich eben nicht mehr herausgesehen, der junge Kaplan. So wie er dann da lag, mit verrenkten Gliedmaßen ans Ufer gespült, bekam man sogar ein bisschen Mitleid mit ihm.
Am Anfang, als er gekommen war nach Auerhof, waren ihm die Herzen noch zugeflogen. Besonders das von der Katharina. Hat auch flott ausgesehen, der Kaplan. Groß und schlank, volles Haar, voller Energie und Ideen, frisch vom Seminar und noch gestärkt von der schönen Weihe im Dom. Ein paar Auerhofer waren sogar dabei gewesen, als sich der zukünftige Kaplan vor dem Bischof hingelegt hat im Dom gemeinsam mit drei anderen Kame‑ ‑raden Selbstmord. Er habe sich eben nicht mehr herausgesehen, der junge Kaplan. So wie er dann da lag, mit verrenkten Gliedmaßen ans Ufer gespült, bekam man sogar ein bisschen Mitleid mit ihm.
Am Anfang, als er gekommen war nach Auerhof, waren ihm die Herzen noch zugeflogen. Besonders das von der Katharina. Hat auch flott ausgesehen, der Kaplan. Groß und schlank, volles Haar, voller Energie und Ideen, frisch vom Seminar und noch gestärkt von der schönen Weihe im Dom. Ein paar Auerhofer waren sogar dabei gewesen, als sich der zukünftige Kaplan vor dem Bischof hingelegt hat im Dom, gemeinsam mit drei anderen Kameraden aus seinem Jahrgang. Muss man sich ja früh anschauen, was man da neu bekommt. Und Kirche ist noch wichtig in Auerhof. Zumindest nehmen ein paar Leute sie noch sehr wichtig. Da schauen sie dann ganz genau.
Und zunächst hat der Kaplan das Spiel ja mitgespielt. Die Ministranten und die Jugend hat er geleitet, und gar nicht schlecht. Die Ministranten haben endlich einmal gewusst, was sie machen müssen in der Messe, und die Jugendgruppe ist ordentlich gewachsen. Mit den Jugendlichen hat er viel Zeit verbracht, auch außerhalb der Jugendstunden. Musizieren, Schwimmen, Radfahren, Wandern, Ausflug in die Stadt.
Wahrscheinlich hat er zu viel Zeit mit den Jugendlichen verbracht, besonders mit der Katharina. Das gehört sich nicht, so etwas. Die ist sogar einmal hinter ihm auf seinem Motorrad gesessen und hat ihre Arme um seine Hüften gelegt, als er sie heimgeführt hat, spät nachts, als die Eltern schon voller Sorge waren. So einer war er also, der Kaplan. Die Bandprobe habe länger gedauert, hat er dann gesagt. Katharinas älterer Bruder hat sich gar nicht erst bemüht, seinen Zorn zu verbergen. Mit geballten Fäusten ist er dagestanden und hat dem Kaplan voller Hass ins Gesicht geblickt.
Die Jugendband, die der Kaplan gegründet hatte, war jedenfalls ein Erfolg bei den Jugendlichen. Der Kaplan war selbst Sänger und Gitarrist. Kein Wunder, dass sich die Katharina in ihn verschaut hat. Einmal im Monat hat die Band bei den Gottesdiensten gespielt. Furchtbar. Viel mehr junge Leute als sonst, das schon. Aber trotzdem: Furchtbar. Da hat die Gemeinde ja nicht mitsingen können, bei dieser Rockmusik. Schon gar nicht bei den Liedern auf Englisch. Nicht, dass die Gemeinde an den anderen Sonntagen bei den deutschen Liedern besonders mitsingen würde. Aber verstehen tun sie die deutschen Lieder zumindest. Wer braucht es, dieses Englische? Das haben sie ihm dann auch gesagt, die Auerhofer. Also dem Herrn Pfarrer. Aufgeregt haben sie sich, aber ordentlich. Weil es einfach nicht passte, zwischen ihnen und dem Kaplan. Und der Herr Pfarrer hat auf sie gehört. War ja ohnehin ihrer Meinung. Seit fast zwanzig Jahren ist der jetzt schon in der Gemeinde, der weiß, was läuft. Und dann geben sie ihm so einen eigenartigen Jungspund an die Seite. Der von Innovation spricht und davon, dass man das Evangelium ganz anders verkünden müsse. Als Wechselspiel zwischen alt und neu. Zwischen Kern und Schale. Da hat er nicht lang zugeschaut, der Herr Pfarrer, sondern flott Bericht erstattet beim Herrn Bischof. Der Kaplan ist dann vom Bischofssekretär angerufen und gerügt worden. Aber das hat ja auch nichts geändert. Einfach gleich weitergemacht hat er. Ein richtiger Sturschädel war das.
Den Flüchtlingen im Dorf hat er sich auch noch angenommen, das sei Christenpflicht, hat er gemeint. Fußball gespielt hat er mit denen, und gekocht und seine scheußliche Musik mit ihnen gemacht. Was wollte er denn mit denen? Das waren ja nicht einmal Christen. Und die Jugendlichen waren natürlich auch dabei, ganz begeistert waren sie. Haben dann die Flüchtlinge in ihrem Alter zu sich nach Hause eingeladen. Die konnten dann ja auch schon ganz gut Deutsch, immerhin. Aber warum das Ganze? Taufen hat sich nur einer lassen von denen. Und ausgerechnet den haben sie dann abgeschoben. Haben ihm wohl nicht abgenommen, dass er den wahren Glauben für sich entdeckt hat.
Kurz nach der Abschiebung hat sich etwas geändert beim Kaplan. Seine Stimmung, sein Auftreten, alles. Eloquent war er immer noch, das muss man ihm lassen. Und eine Erscheinung. So jung und kräftig und groß und gutaussehend. Aber da war irgendwie ein Schatten über ihm. Fast wie im Comic, wenn die Figuren plötzlich eine Gewitterwolke über dem Kopf verpasst bekommen. Die Wolke hat ihn seither nicht mehr verlassen, den Kaplan. Und als dann auch noch ein paar aus der Kerngemeinde die xenophoben Schmierereien auf der Wand des Flüchtlingsquartiers verharmlost haben, da ist ihm fast der Kragen geplatzt. Da hat er der Gemeinde eine Standpauke gehalten in der Messe. Nicht vom Ton her, im Gegenteil, er hat sogar sehr leise gesprochen. So leise, dass der Mesner aufgestanden ist und draußen in der Sakristei das Mikro lauter geschaltet hat vom Kaplan. Macht er normal nie, der Mesner. Aber diesmal wollte er, dass alle den Kaplan hören können. Im Ton lag sie also nicht, die Standpauke, aber in den Worten. Er verstehe nicht, warum so etwas geschehen kann. Hier, bei uns, wo alle alles haben. Idylle mit Bergen, Seen, Wäldern, Schlössern und Heurigen. Warum kann man da nicht ein bisschen offen sein für das Andere? Das Neue. Unbekannte. Einfach ein bisschen Interesse zeigen und aus dem eigenen Trott herauskommen. Matthäus 12:34 hat er zitiert, obwohl das gar nicht dran war an diesem Tag. Weh euch, ihr Schlangenbrut. Das hat sich die Kerngemeinde natürlich nicht gefallen lassen, und der Kaplan hat wieder eine Rüge vom Bischofssekretär bekommen. Diesmal musste er sogar persönlich vortanzen in der Stadt. Jetzt war das erste Mal die Rede davon, dass er vielleicht versetzt werde. Das wäre wohl auch das Beste gewesen.
Aber da das nicht geschah, setzte er sich selbst wo hin, nämlich an den Fluss, gemeinsam mit Katharina. Die beiden hatten tatsächlich eine tiefe Beziehung, allerdings ganz anders als im Dorf angenommen. Sie hatten einfach das Gefühl, einander alles mitteilen zu können. Katharina erzählte dem Kaplan von ihrem Traum, Schauspielerin zu werden. Immer, wenn Theater Thema war, sprudelte es nur so heraus aus ihr, genau wie der Fluss unter ihnen über die Steine sprudelte. Besonders an der Stelle, an der sie gerne saßen, auf einer kleinen Böschung, gut verwachsen und von außen nicht einsehbar und kaum jemandem bekannt. Katharinas Eltern hielten nichts von ihrem Traum; Katharina solle lieber etwas Ordentliches machen. Aber Katharina war gut, und wenn ihre Eltern das Schulstück, in dem sie mitgespielt hatte, gesehen hätten, hätten sie vielleicht anders über die Sache gedacht. Der Kaplan hatte es gesehen und war von ihrem Talent beeindruckt. Fluss des Vergessens hieß das Stück und drehte sich um einen jungen Mann im antiken Griechenland, der unsterblich in eine schöne adelige Frau verliebt war. Er stirbt dann aber doch und landet in der Unterwelt, ohne seiner Geliebten nahe gekommen zu sein. Als er aufgefordert wird, aus dem Fluss Lethe zu trinken – dem Fluss des Vergessens – weigert er sich. Er will seine Angebetete niemals vergessen. Jedenfalls hatte der Kaplan Katharinas Vertrauen gewonnen und sie weinte sich aus bei ihm. Und weil auch er Katharina vertraute und sich von ihr verstanden fühlte, erzählte er ihr, dass er homosexuell war. So war das zwischen den beiden.
Der Kaplan kannte auch einen Theaterschauspieler aus der Stadt, mit dem er einmal in Liebe verbunden gewesen war. Lange bevor er zum Priester geweiht wurde, den Zölibat nahm der Kaplan nämlich sehr ernst. Den Schauspieler lud der Kaplan ein, Katharina einmal live auf der Bühne zu erleben. Katharinas Spiel gefiel dem Schauspieler und die drei sprachen noch lange nach dem Stück über mögliche Optionen und Wege für Katharina. Das war die Nacht, in der sie spät nachts auf dem Motorrad des Kaplans saß, mit ihren Armen um seine Hüften.
Dass er zu viel Zeit verbrachte mit Katharina, war ihm klar, aber er spürte nun einmal, dass er ihr guttat und dass sie nicht viele hatte, denen sie ihr Herz ausschütten konnte. Und er hatte auch kaum jemanden, schon gar nicht in Auerhof. Sie brachten einander zum Lachen, und das war wichtig. Ein gutes Geben und Nehmen war das. Hat einfach gepasst für die beiden.
Die viele Zeit mit Katharina ließ ihn jedoch unvorsichtig werden und einmal kam es zum Eklat. Katharinas Bruder und seine Freunde waren ihnen gefolgt, als sie sich wieder einmal am Fluss trafen. Katharina wurde unsanft nach Hause geschickt und dem Kaplan wollten sie eine tüchtige Abreibung verpassen. Der wusste sich allerdings zu wehren und so hatte nicht nur er am nächsten Tag ein geschwollenes Gesicht.
Vielleicht hatte ja auch Katharinas Bruder etwas zu tun damit, dass der Kaplan im Fluss landete. Wir werden es wohl nie erfahren. Die Wahrheit ist im Fluss. Und Lethe vergisst schnell.


Schlagbaum

Von Riga fahre ich im Schneesturm Richtung Nordwesten mit Ziel Kap Kolka. Entgegenkommende Holzlaster lassen Schneematsch gegen Frontscheiben prasseln. Eigentlich wollte ich durch Moore und an Seen wandern, doch das ist bei dem Wetter aussichtslos. Gut, dann eben mit dem Mietwagen auf Nebenstraßen durch das Naturschutzgebiet. Birken mit dem ersten Grün und gleichzeitig Schnee am Stamm zur Wetterseite. Die Strecke eine Piste, einzelne Schlaglöcher, seifiger Schnee auf Sand, Spurrillen des Vorgängers, seit zwanzig Minuten keine menschliche Begegnung, kleine Seen, Moor, Schilf, Bäume die sich im Schneesturm wiegen. Eine kaum merkliche Steigung, leichtes Gasgeben, Reifenschlupf. Mir fährt es durch den Kopf:
Der Vermieter hatte etwas von „summer tires“ gesagt. Ich versuche, Lenken und Bremsen auf ein Minimum zu reduzieren, bedenke die Trägheitsgesetze. Tiefe Straßengräben. Bleib cool. Rechts ein Gehöft, lange Linkskurve, leichtes Gefälle. Weit voraus, schwarz, ein querliegender Baum. Sachtes Abbremsen, mein Wagen kommt zum Stehen. Ich ziehe die Stirn hoch, Handschuhe an, steige aus. Der Baum scheint nicht zu dick. Kann ich ihn zur Seite ziehen? Rütteln, Treten. Ich greife einen morschen Astansatz, er bricht ab. Spüre meine Wirbelsäule. Versuche die andere Richtung. Breite Schleifspur in der Mitte der Straße. Einen Meter hab ich geschafft. Doch jetzt hängt er unten an einer Wurzel fest. Mehr geht nicht. Ich Blicke in beide Richtungen der verschneiten Straße. Wann kommt hier jemand vorbei? Teufel nochmal. Kiefern, Birken, Wind pfeift, ich in Turnschuhen, der rechte wird nass.
Umdrehen? Die Straße scheint mir zu schmal, zu hoch das Risiko stecken zu bleiben. Wie weit lag das Gehöft zurück? Für die Einheimischen müsste das doch alltäglich sein. Ok, ich entschließe mich zu Fuß zurückzugehen. Einige hundert Schritte, rechts eine Lichtung, ein Reh flüchtet. Mein Auto nicht mehr zu sehen. Noch eine Kurve, links der Bauernhof Meine blauen Schuhe tragen mich über einen Feldweg zu dem heruntergekommenen Haus. Hundegebell. Ein Kläffer kommt in meine Richtung, ich rede ihm gut zu, traue ihm aber nicht über den Weg. Ich rufe „hello, hello“, niemand öffnet. Hinter mir Fußspuren im Schnee, die zu einer Hütte führen. Der Schornstein raucht. Wo ist der Eingang? Ich klopfe an ein Fenster, eine ältere Frau sieht mich und kommt zu einer Brettertür. Wache Augen, kaum noch und nur mehr schwarze Zähne. Sie kein einziges Wort englisch, ich kein einziges Wort lettisch. Ich zeichne eine Straße in den Schnee, einen querliegenden Baum. Keine Chance, sie versteht mich nicht, weist aber zu einem weiteren Haus, das ein gutes Stück von uns am Waldrand liegt. Ich bedanke mich, stapfe zum Nachbarn. „Raudaki“ steht auf einer Holztafel, die im Wind an einem Birkenast schaukelt. Ein mächtiger, verfilzter Kettenhund weist mich mit baritonigem Gebell erneut in die Schranken. Ich bleibe stehen, vielleicht macht jemand auf, Minuten vergehen. Dann ein Mann mit Mütze: „stay where you are“. Er lässt sich Zeit, kommt langsam auf mich zu. Der kalte Wind presst seinen Augen Tränen ab. Ich stelle mich mit Vornamen vor, er skeptisch, ich erkläre mein Problem. Er sagt: „wait there, we take the Stihl“. Ich denke „steel“ und verstehe nicht. Mein rechter Turnschuhfuß kalt und durchnässt. Minuten vergehen. Der Mann fährt in einem weißen Geländewagen vor und lässt mich einsteigen. Ich sage „thank you sir“, er beschleunigt. Er meint, vor zwanzig Jahren sei schon einmal jemand mit dem gleichen Problem zu ihm gekommen. Vor meinem Mietwagen halten wir an. Gemächlich geht er zum Kofferraum, zieht Lederhandschuhe an, nimmt eine orange Kettensäge heraus. Er geht zum Baum, setzt einen Fuß prüfend auf den schwarzen Stamm und wirft die Säge an, blauer Rauch zieht über den Schnee. Im Motorenlärm schneidet er Stücke, die ich zur Seite wuchte. Beim letzten kommt er auf den Straßenkies, Funken fliegen. Die Fahrbahn ist frei. Seine Augen strahlen. Ich bedanke mich. Er sagt: „always welcome, later I will take the wood“. Er streift den rechten Handschuh ab, drückt meine Hand, mir scheint als ob er ein alter Freund wäre. Dann geht er langsam zum Kofferraum. In dem Moment kommt Gegenverkehr, jeder von uns steigt in seinen Wagen, er wendet, fährt zurück zu seinem Haus und ich fahre geradeaus weiter.


Ein langer klebriger Sommer

Hinter meinem Rücken krabbeln sie aus jeder Ritze. Ich höre das Gewusel auf dem Parkett, das Geräusch, wenn sie ihre Flügel aneinander reiben. Wo immer sie sich hereinzwängen könnten, habe ich alles abgedichtet, aber sie finden immer neue Wege. Und mein Silikonvorrat geht zur Neige. Diese Hitze ist unerträglich. Die Ekzeme auf meiner Kopfhaut jucken, während mir Schweiß in die Augen rinnt. Ich möchte reiben, möchte kratzen, doch das macht alles nur schlimmer. Von blutigem Schorf werden sie angelockt.
Ich wage nicht, die Luftschleuse zu öffnen, die ich hinter die Haustür montiert habe. Für den Briefkasten hätte ich eine bessere Lösung finden müssen. Wenn ich jetzt wissen möchte, ob die Post vom Amt gekommen ist, muss ich nach draußen. Da bin ich voll der Sonne ausgesetzt. Reines Gift für meine Allergien! Und wer weiß, was alles die Gelegenheit nutzt, einzudringen und sich bei mir einzunisten, sollte ich einen Moment unachtsam sein.
Am meisten fürchte ich ihre Fühler. Ihnen entgeht nichts. Sobald ich mich bewege, sind sie alarmiert. Das Ungeziefer versteckt sich schneller, als ich mich umdrehen kann.
Mittlerweile kenne ich alle Insektizide. Ich habe sie ausprobiert. Man riet mir davon ab, dies in meinen so gut isolierten Räumen zu tun, ohne überzeugende Alternativen bieten zu können. Kammerjäger wollten sie mir ins Haus schicken, fremde Leute, die in jedem Zimmer herumschnüffeln würden. Das kam gar nicht in Frage! Also verwendete ich jedes greifbare Mittel solange, bis sie resistent dagegen wurden. Dabei habe ich mich selbst vergiftet. Das gefilterte Wasser vertrage ich meistens noch. Schwieriger ist es mit den dicken Suppen aus der Dose. Wann immer ich sie esse, rebellieren die Gewächse in meinem Bauch. Nur nachts im Schlaf verdorren ihre jungen Triebe. Das verschafft mir Erleichterung. Ich frage mich ständig, wie es soweit hat kommen können. Früher sah man eine Motte, klatschte in die Hände, und alles war wieder gut. Mücken, deren Sirren einen um den Schlaf brachte, klebten morgens als Blutfleck an der Tapete. Das war lästig, aber endgültig. Gartenläuse verbrüdern sich mit ihren kleinen Cousins. Ich habe ihre Paarungsriten unter dem Moskitonetz verfolgt.
Es werden Schädlinge eingeschleppt, habe ich gelesen, die unser Zuchtfleisch kontaminieren. Tiere verenden, ohne danach gegessen zu werden. Kein Kühlhaus schützt diese Massen von Kadavern davor, zu verderben. Und dann werden sie von Schwärmen heimgesucht, die in der feuchten Hitze gedeihen.
Als Kind versetzten mich die Fliegenfänger bei Oma nicht in Angst. Ob ich am Küchentisch saß oder auf der Toilette, hatte ich die Bestätigung, dass sie uns auf den Leim gegangen waren. Manche zappelten noch. Aber letztlich gingen auch sie ein.
Überall klebten zuletzt die Plakate mit diesen Gesichtern, die unentwegt miteinander stritten. Sie hatten alle Unrecht und kultivierten ihre Fehler, auch wenn sie auf ihren Kundgebungen zunehmend schwitzten, mit trockener Kehle Parolen krächzten und nach trägem Applaus in ihren klimatisierten Limousinen davonfuhren. Ihre einfachen Lösungen haben das Leben zur Quälerei gemacht.
Wann spürte ich wohl zuletzt ein Frösteln? War das vorher oder nachher? Dieser feuchte klebrige Film, der die Haut meines Körpers überzieht, trocknet nicht mehr. In meinem Bart kribbeln Schweißperlen. Manchmal habe ich das Gefühl, er lebt. Für die leere Betthälfte habe ich noch keine Lösung gefunden. Immer das gleiche Laken, immer das zerknüllte Kissen. Ich könnte es mit dem Staubsauger versuchen, aber der würde dann auch das Mottenpulver aufnehmen, das ein wenig Schutz bietet.
Damals, als der Sommer noch unterbrochen wurde, wusste ich jederzeit, was zu tun war. Wenn sich der Boden erwärmte, bekämpfte ich die Wühlmäuse im Rasen. Später räucherte ich die Wespennester aus. Und sobald die ersten kühlen Nächte kamen, achtete ich darauf, dass kein Marder unters Dach zog. Ordnung war keine Last. Wir teilten sie uns gerne. Als sie sich nicht mehr auf den Asphalt kleben konnten, weil er zu heiß geworden war, überwog die Schadenfreude. Dann aber rissen Straßendecken auf, und das Viehzeug, das wir tief in der Kanalisation vermutet hatten, huschte in Rudeln von Haus zu Haus und fraß unsere Isolierungen auf. An den vergifteten Haferflocken, die wir um alle Sockel streuten, starben auch die Vögel.
Hitzschlag, stellte der Arzt fest. Und völlig dehydriert. In das Formular trug er Herzversagen ein. Die Ersthelfer hatten klobige Schuhe mit dicken Sohlen, an denen der ganze Dreck von draußen haftete. Als sie gingen, ließen sie alle Türen offenstehen.
Flüstern die Wände tatsächlich? Oder ist es nur ein Rauschen in meinen Ohren? Im gebrochenen Sonnenlicht, das durch die Lamellen der Jalousie ins Zimmer fällt, kann ich den schwebenden Staub sehen. Er breitet sich beim Atmen im Mund aus, legt sich auf die Schleimhäute. Meine Zunge ist geschwollen und klebt am Gaumen.
Ich trete nah ans Fenster. Wie diese vertrockneten Bäume aussehen im gleißenden Licht! Auch unser Ahorn war nicht zu retten. Erst brachen die Stürme seine Äste. Dann fanden seine Wurzeln kein Wasser mehr. Nun wird er wohl bald auf das Gartenhäuschen stürzen, das niemand mehr braucht.
Irgendwann werde ich mich dazu überwinden müssen, vor die Tür zu gehen und nach der Post zu schauen. Es muss ein offizielles Schreiben dabei sein. Ich brauche doch diese Urkunde, damit es auch wirklich amtlich ist.


Enkel des Proletariats

Es ist Weihnachten und ich sitze an deinem Platz
Der Einzige, der ganz mit dir verknüpft ist
Das Verb ist peinlich

Papa sagt, die alte Trompete in seinem Büro
Die ist von dir
Seitdem glänzt sie wie Gold
Oma sagt, gesungen hast du
Schifferklavier konntest du spielen
Doch sie redet nie über dich
Selten über den Mann, dessen Namen sie trägt
Der aber auch kein Vater für die Kinder war

Papa sagt, du warst ein Eingeheirateter
Kamst auf einen Hof von Bestimmern
Nach dem Krieg hatten sie Stall und Gastwirtschaft gebaut
Aufschwung: Ned gschimpft is globt gnuch

Papa hat Tränen in den Augen und sagt, du hattest nicht genug –
Ein bisschen so wie er
Zuerst warst du Knecht
Gesoffen hast du, heißt es
Den Führerschein zwei und ein letztes Mal verloren
Am Ende warst du ganz unten
Am Schlachthof
Tierhäute salzen

Gottes gerechte Strafe, hieß es in einem Brief
Der nach diesem einen Tag in der Gastwirtschaft ankam
Oma hat ihn weggeschmissen
Nach diesem einen Tag hat es geheißen, ihr habt bei der Arbeit
geschnupft
Deine Arbeit: Messer, Blut und Pulver

Es ist Weihnachten und ich sitze im Wohnzimmer
Dort wo früher der Balken verlief
Von dem du hingst
Selbstmörder, Witwe, drei Kinder

Ich sage Papa, dass du vielleicht auch ADHS hattest
Ist schließlich erblich
Nur die Therapeutin, die hab nur ich
Auch der sechsjährige Papa nicht
Über den Kinder tuschelten, Erwachsene spotteten
Der dann sein Leben lang versuchte, kein Arbeiter zu sein

Die Frau deines Sohnes, Opa
Sie kommt auch von einem Hof, genau wie ihr Vater
Er war das siebte Kind, sollte verkauft werden
Stattdessen wurde er Maurer und Bauer zugleich
Eingeheiratet
Ein Leben lang hart und stumm – manchmal lustig
Zerschlug Ziegel mit den Händen
Mit seinem billigen Motorrad übers Feld
Brandblase an meinem Bein

Er war gerade in Rente gegangen
Als er die Schlaftabletten schlucken wollte
Ihn brachten wir zum Psychiater
Bis zur Sepsis schluckte er andere Tabletten
Vergaß worum er trauerte

Hier sitze ich neben dem Weihnachtsbaum
Deine Enkel lachen, kriegen Geschenke
Was hättest du mir gezeigt
Schlachten oder Singen?

Hier sitze ich und weiß
Dass ich Musikern Geld in ihre Hüte werfe
Dass für mein Fleisch sich niemand erhängen wird
Dass ich keine bösen Briefe schreibe – zumindest nicht an die Guten

Hier neben roten Christbaumkugeln schwöre ich
Dein Metzgermesser zu nehmen
Die Wurstfresser aus ihren Sakkos zu holen
Ihnen ein Lied zu singen
Und Pulver in die Lungen zu pusten.


dunkelblaue wasser

(danke h.w.)

Als wir da an diesem sehr, sehr sonnigen Februartag die Wohnung betraten, sah auf den ersten Blick alles in Ordnung aus. Wir ließen die Schuhe an und ich machte einen ersten Rundgang. Hier und da lagen Dinge wie deplatziert herum, das Bett war nicht bezogen, ein Wäschekorb voller ungefalteter Kleidung stand auf dem ungesaugten Schlafzimmerboden, auf der Wachsdecke über dem Küchentisch lagen Krümel. Legte man die Hand darauf und nahm sie wieder weg, klebten die Fingerspitzen einen Augenblick fest. Das Sonnenlicht fiel staubig durch die schmierige Balkontüre.
Nur der Fleck auf der rohen Matratze, bräunlich, rötlich, undefinierbar, der schaffte mich so sehr, dass ich dachte, jetzt muss ich zurück, raus, raus, aber das ging ja nicht, weil –
Bruder eins setzte sich als erstes an den Küchentisch, mit dem Rücken zum Perlenvorhang, der den Durchgang zum Flur verdeckte und sah rauchend hinaus über den Balkon. Ich stand da so unschlüssig hinter ihm und wusste nicht, wo anfangen, wo aufhören? Wir sprachen kaum. Was gab es zu sagen? Meine Brüder waren ja eh schon hier gewesen, ohne mich. Ich lief mehrfach in jeden Raum, Küche, Schlafzimmer, Wohnzimmer (das Bad ließ ich aus) hinein und blieb dann irgendwo auf halbem Wege stehen, ging wieder raus und wiederholte das ein paarmal, Bruder eins saß da rauchend in der Küche, Bruder zwei und ich tanzten in diesem Zirkel umeinander herum, nie im selben Raum, drückten uns in kleinen Flur aneinander vorbei, tauschten Zimmer-Zuständigkeiten und sahen zu Boden. Ich wollte ihn nicht ansehen und er mich auch nicht, dass weiß ich ganz genau.
Bei meinem fünften ziellosen Rundgang landete ich im Wohnzimmer. Ich war müde, die Zugfahrt aus Berlin hatte mich seltsam geschafft, die Flasche Wein am Abend zuvor noch mehr. Ich wollte mich hinsetzen und sah zwischen Schreibtischstuhl und ausgeklapptem Sofa hin und her, nichts war eine Option, beides war auf gar keinen Fall eine Option. Also schaute ich mir stehend die Bücher im Regal links neben dem Schreibtisch an, strich über die Titel auf den Buchrücken, fragte mich, was sagen deine Bücher über dich aus? Kriminalromane? Spirituelle Reden? Biographien von Päpsten? Und – was würden meine Bücher irgendwann mal über mich sagen? Und wer wird sich die angucken? Genauso widerrechtlich handelnde Geschwister wie wir? Denn, wenn ich eines dieser Bücher aus dem Regal genommen und in meine Tasche gesteckt hätte, wäre das Diebstahl gewesen. Sicher, wer hätte mich anzeigen sollen – nichts hier drin, von Büchern, über Fotos, CDs, Kalender, private Notizen, PC, Unterwäsche, nicht eine einzelne Socke gehörte noch jemandem. Alles da drin war herrenlos. Ich griff blind nach einem Buch und steckte es in meine Manteltasche.
Der Schreibtisch war die größere Hürde. Schreibtische kamen mir, aus Erfahrung, schon immer unheimlich intim vor. Auf meinem lagen immer Fotos, Notizen, aufgeschlagene Tagebücher, Krankschreibungen, wahlweise polizeiliche Führungszeugnisse, Impfpässe, Kreditkarten, Zahlungsaufforderungen herum. Nichts Physisches könnte je so, man verzeihe mir die Theatralik, Spiegel meiner Seele sein, wie mein heimischer Schreibtisch. Ich fühlte mich einen Augenblick sehr voyeuristisch, als ich mit den Handflächen über die Papiere und aufgeschlagenen Bücher auf der Tischplatte strich. Kein Staub. So viel Zeit war seit ihrer letzten Berührung nicht vergangen. Reichlich unerwartet beendete Bruder zwei die unausgesprochene Vereinbarung der gegenseitigen Ignoranz und stellte sich in den Türrahmen. Ich fühlte mich ertappt und nahm die Hände zurück vom Tisch. Er sagte, Ich habe schon etwas für dich gefunden, letzte Woche. Er reichte mir eine durchsichtige Plastikfolie, ein paar Seiten Papier, ein paar Fotos. Danke. Er drehte sich um und ging. Ich rollte die Folie zusammen und steckte sie zum Buch. Ich fühlte, zuerst den Schreibtisch schaffen, überwinden zu müssen, bevor ich weitermachen konnte.
Auf dem Bauch liegend: „Programmieren für Dummies“, aufgeschlagen auf Seite 156, ein paar Stellen gelb markiert. Ein altes Passfoto, von ihm, ich erkannte ihn sofort, die Brille auf dem Bild sagte 80er Jahre (zu Diebesgut gemacht.)
Von mir aufgeschlagen: ein schwarz rotes Notizheft, darin notierte Passwörter, Adressen, dann 31.01.21: 47 kg, Blut im Stuhl. Ungeöffnet: eine Mahnung von der GEZ.
Am unteren Rand des PC-Bildschirms klebend: Ein Foto von Bruder eins.
An der rechten Schreibtischkante, halbgefüllt: Ein Aschenbecher.
Hinter dem Bildschirm: Ein Glas voller Kugelschreiber, daneben: ein Notizzettelblock. Am linken Rand: Eine Brille, nicht zusammengeklappt.
Immer wieder denkend: Blut im Stuhl, Blut im Stuhl, Blut im Stuhl, mein neues Mantra, ging ich in die Küche. Meine Brüder saßen sich gegenüber und redeten über Fußball. Ich setzte mich mit dem Rücken zum Balkon und fing an zu rauchen, legte meine ganze Hand auf die gelbe Wachsdecke und spürte, wie sie anfing festzukleben. Die Tapete vor mir war halb heruntergerissen, es lagen Malerutensilien herum, vielleicht hatte er renovieren wollen. Den intensiven Rauchgeruch wäre er damit aber ohnehin nicht mehr losgeworden. Als Kind war mir das nie so aufgefallen, da hatte der Rauch immer frisch gerochen und war mir, in Kombination mit dem Geruch von aufgebrühtem türkischem Kaffee, immer wie ein sicheres Zeichen von Zuhause vorgekommen, jetzt war er mir unerträglich. Bruder zwei stand, als hätte er meine Gedanken lesen können, auf und öffnete die Balkontüre. Sofort strömte eisige, aber gute, wirklich wahnsinnig gute und gebrauchte Luft in den Raum.
Aber ich wusste, dass tat er nicht wegen des unerträglichen alten Rauchgeruchs, sondern wegen des ihm unerträglichen frischen, den Bruder eins und ich kontinuierlich in den alten mischten. Mir war es gleich. Jetzt gerade war mir das alles gleich. Bruder eins schob eine kleine silberne Zigarettendose über den Tisch, sagte, Die, dachte ich, willst du vielleicht haben. Dann kehrte er ohne Umschweife zurück zum Fußball. Ich nahm sie in die Hände, wog sie kurz darin, drehte sie um, Che Guevara war vorne drauf, fast hätte ich lachen müssen. Ah ja. Als ich sie öffnete, fand ich darin vier filterlose Selbstgedrehte. Einem mir unerklärlichen Impuls folgend, nahm ich eine und zündete sie an. Meine Brüder sahen mich ein wenig fassungslos an, aber ich hatte dazu nichts zu sagen. Ich hatte jetzt gerade zu nichts mehr etwas zu sagen, außer, Blut im Stuhl und ich will nach Hause, nicht wissend wo genau das eigentlich sein sollte.
Aber irgendwie fühlte ich, dass wir noch eine Weile in der Wohnung gefangen waren und plötzlich musste ich aufstehen, die verfickte Filterlose noch in der Hand und auf den Balkon treten, weil mir sonst die Brust eng geworden und der Atem ausgegangen wäre. Kurz zweifelte ich an meinem Verstand, weil ich dachte, was, was wenn wir für immer hierbleiben müssen, weil die Welt aufgehört hatte da zu sein da draußen und es gab nur noch uns Einbrecher hier drin, Voyeuristen die sich den Tod in vier Wänden anguckten. Aber dann beugte ich mich über die Balustrade des Balkons und sah hinunter auf den Spielplatz im schattigen Innenhof, auf dem auch ich als Kind gespielt hatte, allein oder mit Bruder eins. Und da waren Kinder und spielten, kletterten, schrien und lachten, heulten, warfen sich in den Schmutz oder in die Arme ihrer Eltern. Nie hatte ich mich so erleichtert gefühlt beim Anblick fremder Kinder und ich wusste, ihm war es beizeiten genauso gegangen. Sie holten mich recht schnell zurück hinein, sagten, Wir wollen hier fertig werden. Such dir ein paar Dinge aus, dann sollten wir wirklich los, wir sollten wirklich nach Hause fahren. Jetzt. Schnell. Und dachte mir, vielleicht hatten sie ja plötzlich auch diese Angst bekommen, diese Angst, dass wir für immer hierbleiben müssen und ich bin sicher, diese Vorstellung von uns dreien hier drin, Angst habend, nicht mehr rauszukommen – die hätte ihm gefallen.
Ich wusste zwar immer noch nicht wo Zuhause sein sollte, aber ließ mich einfach ein letztes Mal in das wohlige Gefühl fallen, in blindem Gehorsam auf die Älteren zu hören, nahm ein paar Dinge und stopfte sie in die dafür vorgesehenen Müllsäcke. Nicht zu vergessen der eine extra Müllsack für den riesigen Drucker, den Bruder zwei und ich eine Weile schweigend be‑ ‑trachtet hatten, wissend wir wollten ihn beide, aber kamen uns so schäbig vor, alles schäbig in vier schäbigen Wänden, drei schäbige Menschen und ein vierter Schäbiger, den das jetzt alles endlich nichts mehr anging.
Ein alter Spiegel mit Goldrahmen.
Eine getöpferte Kaffeetasse.
Ein schwerer goldener Kerzenständer.
Eine Elvis-CD.
Ein grober Pullover.
Ein Amethyst.
Ein Stick mit Fotos.
Die Klarsichtfolie, mit was auch immer darin.
Das Passfoto.
Und die Bibel.
Bruder eins stand mit dem Rücken zu mir vor der Anrichte im Schlafzimmer, als er sich umdrehte, hatte er eine Taschenausgabe des Neuen Testaments in der Hand. Er sagte, Nimm mal, schlag die erste Seite auf. Ich schlug sie auf, da stand in seiner Handschrift,
Seit 28.06.2016 darf ich ohne Alkohol leben.
Ich musste mich unheimlich anstrengen, Silben zu bilden, aber schaffte es irgendwie, brachte heraus, Ja. Hat er doch immer gesagt. Mir schien das alles völlig unerheblich.
Bruder eins nickte, Hab ihm nicht geglaubt. (Hier funktionierte alles nur noch in Ellipsen, ganze Sätze waren unformbar, unaussprechbar.) Es war leider Gottes nicht unerheblich.


Verlangen auf Oberfläche

Er sieht sie.
Und sie sieht sich in der Spiegelung seiner Augen,
sieht eine klanglose Interpretation einer Person, sieht sich selbst ohne sich selbst zu erkennen und fragt sich, was er an ihr sieht.

Sie sucht sich.
Sie sucht sich in jedem Spiegel, jeder Spiegelung, jeder spiegelnden Oberfläche, die sie nur finden kann. Sie sucht Antworten.

Das Inszenieren gefällt ihr.
Es lässt sie vergessen, es verwandelt sie in eine Persönlichkeit. In
eine Person, die beeindruckt und ihm nicht aus dem Kopf gehen wird.
Das Inszenieren fühlt sich richtig für sie an, in einer Welt gefüllt davon.

Denn der Blick in den Spiegel wirft Fragen auf.
Er fährt über ihre Haut und sucht sie ab, sucht nach Fehlern und Unstimmigkeiten. Der kritische Blick beginnt, sie zu formen und neu zu erfinden, schreibt ihr Merkmale zu und invertiert ihre Gesichtszüge, zerstört Interpretationsspielraum. Er zerstört.

Also inszeniert sie. Und sie sucht.
Doch sie findet nicht.
Denn die Erinnerung ihrer selbst entzieht sich ihr mit jeder Offenbarung, mit jedem Blick.
„Identität…“, denkt sie sich, „Identität scheint sich mir zu entziehen.
Als könnte ich nur als Moment existieren. Als kleines Teilchen eines großen Ganzen, als schwindender Tropfen auf Glas.
Als könnte ich nicht bleiben. Ich fürchte, ich bin rastlos.“

Sie fürchtet sich selbst.
Denn sie kann ihren verschwommenen, gespiegelten Umriss in seinen Augen nicht ertragen. Sie sieht hastig zu Boden.

Er nimmt es als Ablehnung auf.
Es tanzt ihm auf der Zunge, das Wort, das sie auf ewig von ihm trennen wird: „Bleib.“

/ / /

Sie schwimmt in einem Wahn, im stillen Verlangen, sich wieder zu finden. Sieht sich nicht, spürt sich nicht, doch dort ist sie: An der Oberfläche. An der oberen Fläche eines Flusses aus Trauer, aus Liebe, aus Reue. Sie schwimmt ihm durch den Kopf, direkt in sein Herz.

Auf dem Weg schnürt sie ihm den Hals zu, er verengt sich, drängt sie, ihn zu verlassen. Er ist sprachlos. Sie hat ihn stumm gemacht. Er sie verschluckt.

Und sie trifft es. Sie trifft sein Herz, zerreißt es mittendrin und nistet sich ein in den Resten, die übrig sind. Und er fällt und liegt und lebt nicht mehr, er lebt nicht mehr für sich, er sehnt sich nicht, nein, er liebt.

Da lehnt sie sich von hinten über ihn, über seinen gesamten Geist, seine Empfindung, seine Welt, sie steht dort in seinem Rücken und sieht ihn an.

Er sieht sich um.
Er sucht mit zitternden Augen und schwirrenden Blicken und weiten Pupillen und atemberaubender Schnelligkeit, sie suchend, sie rufend, sie fürchtend. Trägt sie dicht in sich.
In seinem Herzen ein Feuermeer aus Trauer, aus Liebe, aus Reue.
Doch er findet sie nicht.
Und so trafen sie sich nie wieder.
Verdammt auf Ewigkeit, verdammt zu Zweit.


Vorsichtiges Schreiten

langsam, fast durchs licht erstarrt,
reicht er seinen fuß zum nächsten.

seltsam weich.

ein mann, der seinen schritten eben
kein vertrauen, doch flüstern schenkt.

klein ist seine gangart nicht,
nur zu vorsicht angehalten.
als trüge jener boden haut,
als trüge er, was wertvoll ist.


psychosomatic insurgence

jedes fragment der existenz, verstrickt in ein weites netz aus mechanischen resonanzen, jede synapse ein rad im getriebe des kosmos, alles agiert in einem symbiotischen flux of existence. what are signs? deine gedanken, wie dunst, der sich durch die ersten strahlen der morgendämmerung windet, durchdringen die schichten des alltags, ein kaleidoskop aus memories and anticipations, das im augenblick kristallisiert. urzeitliche ozeane branden an die felsigen küsten deiner seele, ihre wellen formen ephemeral continents of significance, creating transient landscapes of insight. im inneren deines bewusstseins lodern revolutionäre funken, flüchtige leuchtfeuer in der unermesslichen weite der nacht. the only way to make sense out of change is to plunge into it guiding your journey through the labyrinth of your mind. worte als katalytische alchemie, ideen als transformative feuer, die alte strukturen aufbrechen und neue formen manifestieren. du webst stille momente in die matrix deines daseins, ein mosaik aus inneren mysterien. du beobachtest, wie zerfallene erinnerungen sich zu neuen mustern formieren, eine symbiose aus vergangenem und zukünftigem, reshaping your consciousness. auf deinen inneren wanderungen, ein pilgrim between worlds, suchst du das equilibrium zwischen der greifbaren realität und den flüchtigen träumen. diese domänen der introspektion sind die räume, in denen du dich dissoziierst, getragen von den wellen des inneren ozeans. jede schicht deiner selbst öffnet sich wie eine blüte, enthüllt neue kapitel im unendlichen buch des lebens. to find yourself, think for yourself, ein flüstern im wind der veränderung, eine stille revolution im inneren, ein tanz zwischen ordnung und chaos. auf den ökologischen bauplänen des daseins wandelst du, jeder schritt ein zeichen, eine markierung auf dem weg zu einem authentischeren selbst. du navigierst durch die schichten deiner seele, ein kartograph des unbewussten, der versuch, die mystischen topographien des eigenen wesens zu entschlüsseln. the journey of a thousand miles begins with one step und so bewegst du dich, ein wanderer auf der suche nach erleuchtung, zwischen den welten, getragen von den unsichtbaren strömungen des kosmos. deine spirituellen suchbewegungen, die gleichzeitige akzeptanz von chaos und ordnung, führen dich durch die verschlungenen schichten des seins. du findest dich in der stille, wo gedanken sich zu constellations formen, ein firmament der ideen, die dich auf deinem weg leiten. jeder moment ein portal, ein sprungbrett in das unendliche, wo das selbst sich ständig neu erfindet. die labyrinthartigen pfade deines geistes sind ein tanz der alchemie, jede bewegung eine metamorphose, ein schritt näher zu einem authentischen dasein. in dieser ewigen wanderung entdeckst du vielleicht, dass das ziel nicht das ende ist, sondern der weg selbst die erleuchtung bringt. „all that we see or seem is but a dream within a dream“. du bewegst dich, ein träumer im labyrinth des seins, immer auf der suche nach dem licht, das den weg erhellt.


, vielleicht ja auch nur Nacht

verfüge nicht übers Flattern, verfüge nicht übers
Flimmern, verfüge nicht über Flaum, über Flausch
oder Fell, verfüge kaum über Farben. An meinem
Körper gibt es Stellen, Stellen die narbig sind,
Narbenstellen, die meisten liegen innen ach,

ließe sich hier irgendwo, noch
irgendjemals wieder schlafen,

du schwirrst

und ließe dann den Vogel herein, der an der Scheibe
singend sterben würde und hielte ein Gefäß für
Schnee und eine weiche Hand, die nicht müde würde
zu streicheln und nähme alle Wut geballt und formte
dem Jupiter einen Eismond und ginge barfuß an den
dünnen Schultern umher und fasste den Tieren an
die Stirn, berührte mich innen, fiel

ob ich ruhte, ob ich schlief, ob ich dächte, ich
könne träumen

trägst Augen, überall verteilt auf deiner Haut. Nachts
berühre ich dich mit den Daunen, die aus den
Pupillen wachsen. Ich schließe die Lider, ich gehe
auf Wimpernspitzen über deinen Körper hinweg, im
Dunkeln spüre ich ihn leuchten

und jetzt, ich schiebe meine Hände unter
deinen schlafenden Körper

du lehnst, du biegst, du beugst, du kurvst

Nachtlämpchen an, Nachtlämpchen aus,
raufe Haare, kratze Krusten, reiße Risse, schwanke,
sorge, das Lächeln rutscht, das Lächeln bricht,
nachts wird jede Möglichkeit endlich, nachts scheint
ein Ende viel möglicher,
Nachtlämpchen an, Nachtlämpchen aus

siehst du denn auch, wie ich nicht schlafe

ich zeichne einen Anker von deiner schlafenden
Schulter zu deiner schlafenden Hüfte, ankere mich
auf deinem Arm wandern Schatten, bilden ein
kleines, wirres Nest

und wir darin lägen und ich dich anstieße und du
hinauf blicktest und dann nichts sagtest und ich
verstünde und wir weich würden und pelzten und
knäulten einander und nähmen uns die Mitten aus und
schlenkerten damit und zögen ein in die Membran des
anderen und naschten Nabellen aus ihrer Beugung

so ineinander gefaltet, wir sammelten
Berührung

ich weiche, ich lücke, ich löse,

bin lose

wie balanciert man eigentlich am Rand schwarzer
Löcher und wann würden wir aufhören zu sterben
oder uns ganz mit Licht versehen oder die Risse im
Beton nicht schließen sondern schlüpfen, in den
Bäumen sitzen, frei zwischen den Vögeln
übereinander singen, in jede Himmelsrichtung
lauschen, wann wüchsen, wann klängen wir

schleiche mich zu dir, schleiche von Wang zu
Wange

du liderst, du öffnest, blickst, siehst, siehst
nicht

du atmest, du drehst,

du wirst dich gleich auf eine sehr liebevolle Weise mit
mir über Vögel unterhalten, ich werde dich dann nach
der Richtung fragen von Zeit, oder Liebe, oder Nichts

flüsterst, zwitscherst, gurrst, säuselst, träumst,
sag, wo haben wir diese Taube schon einmal
gesehen, ich glaube, glaube nicht

sprachst leise, sprachst mit Schlafstimme, sprachst
die Gärten, sprachst sie aus der Nacht, sprachst sie
uns ans Fenster, dort, wo wir nach Schatten betend,
dann gingen uns die Bäume aus

streichle, streichle deinen Umriss, wie ein
Fell, das bei Berührung verrutscht

du lächelst, du summst,

wir strömen

wir drehen, wir decken uns zu mit der Pirsch und
setzen uns eine Krone auf, grün und Buchenblätt-
rig. Dann bekommen wir Sehnsucht nach weiteren
Sprachen und haben Angst vor dem Sterben und
lieben uns nochmal, diesmal eher wirklich und tief
und fragen einander, nach Gelb und dem Glück,
auch wohin und stehen bis morgen am Fenster,

darunter verblühte der Raps.


Nachwort #14

EVALUATION MEINER LEKTÜRE
(ZUTREFFENDES ANKREUZEN)

Nach dem Verzehr der KLW14 fühle ich mich …
□ lustlos
□ inspiriert
□ WILD
□ in der Lage, einen ganzen Kuchen herunterzuschlingen
□ alt
□ bereit für Großes
□ wie ein Vogel
□ gestopft voll
□ wie davor
□ ambivalent
□ verwirrt
□ als könnte ich nie wieder reden
□ Disko
□ entleert
□ sehnsüchtig
□ schal
□ _______________________

Jetzt gerade will ich …
□ einen Liebesbrief an eineN AutorIN schreiben und über die
KLW versenden
□ mit bunten Stiften Texte bemalen, mit denen ich
besonders resoniert habe
□ meditieren
□ Tee trinken
□ die gesamte KLW14 noch einmal lesen (aber dieses Mal
am Stück)
□ ein kleines Mittagsschläfchen einlegen
□ Spekulatius essen
□ aus dem Fenster starren
□ Musik machen
□ in den Wald gehen und mir die Seele aus dem Leib
schreien
□ auf eine Party gehen
□ davonlaufen
□ Schoko-Kirsch-Kuchen backen
□ einen Text für KLW15 einsenden
□ _______________________

Das Erlebnis KLW14 auf einer Skala von Nee bis Ja fand ich
(Kreuz an der entsprechenden Stelle setzen)

Nee ______________________________________________ Ja

AUF WIEDERSEHEN,
NINA <3