Das kleine Schwarze

Es ist wie im Nachthemd barfuß Eiskunstlaufen. Es ist kalt und finster, Eissplitter schneiden in die Fußsohlen und der Mondschein fällt auf den zugefrorenen See. Es spielt in der Ferne ein Klavier Franz Liszt und es liegt etwas in der Luft. Der Wind trägt die Musik ganz nah an mein Ohr. Abgehackt, trotz der Härte harmonisch. Wer da wohl spielt? Ganz egal. Hier geht es um den Schmerz des Eiskunstläufers. Die Musik ist nur Kulisse. Er dreht eine Pirouette. Blanken Fußes. Seine Gesichtszüge sind gespannt, gedehnt vor Schmerzen. Leicht belustigt stehe ich am Rand und sehe ihm zu. Masochist, spukt es in meinem Hirn. Was soll denn das? Er könnte doch etwas dagegen tun, denke ich. Schlittschuhe anziehen zum Beispiel und mit Freude über das Eis gleiten. Doch das tut er nicht. Er gleitet barfuß über das Eis, beißt die Zähne zusammen und schweigt. Will nicht darüber reden. Über den Schmerz des Eiskunstlaufens. Warum auch, es könnte ihm ja jemand helfen, die Schlittschuhe anzuziehen und mit ihm über das Eis laufen. Er wehrt sich gegen sein eigenes Glück. Warum? Weil er Sorge hat, dass ihn jemand umstößt und auf dem Eis hinter sich herzieht. Denn das tut dann weh. Das weiß er. Er weiß, wie es ist, über das Eis gezogen zu werden, ins Schwarze zu fallen, vertraut zu haben und enttäuscht worden zu sein. Vor lauter Schmerz spürt er den Schmerz schon gar nicht mehr. In seinen Gesichtszügen macht sich Entspannung breit, er scheint es zu genießen, den bittersüßen Schmerz. Da hat er etwas für sich gefunden, das nicht jeder hat, nicht jeder lebt. Warum also teilen, geschweige denn etwas davon abgeben? Sollen die anderen doch draußen stehen, hilflos wie gegen ein Schaufenster klopfen und bei der mutwilligen Selbstzerstörung zusehen. Drinnen erscheinen sie ihm wie die Zombies bei der Apokalypse, die nur noch Schlimmeres bringen. Warum ihnen also die Ladentür öffnen und ihnen einen Tee anbieten. Soll Joseph Heinrich Beuys doch raten, jemand gefährlichen zum Tee einzuladen und bei Mondschein zu baden. Der Eiskunstläufer kann sich nicht fallen lassen, er hat Angst vor Schlangen, pflanzt nicht gern etwas im Garten. Er ist ganz und gar kein Freund von Freiheit und Unsicherheit. Vor seinen Träumen flieht er. Er meint, verantwortlich zu sein und tut die Dinge nicht aus Liebe. Er schläft kaum, er knausert, er glaubt nicht an Magie und Zauberei und zeichnet vor lauter brav sein nicht auf Wände. Er liest nicht und er ist ganz bestimmt nicht verzaubert.

In jedem von uns steckt wohl ein kleiner Eiskunstläufer. Vielleicht sollten wir uns mit ihm auf eine grüne Bank, die rot angestrichen war, setzen, dem totgeschoss’nen Hasen auf der Sandbank beim Schlittschuh laufen zusehen und ihm sanft das Blut von den Fußsohlen abwischen, sie bandagieren und ihm Schlittschuhe anziehen. Schweigend uns mit ihm ins Gespräch vertiefen und ihm sagen, dass wir für ihn da sind, auf ihn aufpassen, ihn nicht über das Eis ziehen werden, sondern Hand in Hand mit ihm Pirouetten und Sprünge vollführen wollen. Blitzeschnelle, langsam um die Ecke fahren wir. Wir machen ihm klar, dass wir ihm die Angst vor dem blondgelockten Jüngling mit dem kohlrabenschwarzen Haar und der alten Schrulle, die kaum sechzehn war, nehmen wollen. Was immer sie ihm angetan oder gesagt haben, die Zeit heilt alle Wunden und Wunder. Von uns bekommt er endlich die Butterstulle, die mit Schmalz bestrichen war. Im Dunkeln halten wir ihn, bestaunen mit ihm den hell scheinenden Mond und zeigen ihm, dass es im Leben noch so Vieles zu sehen geben wird. Was er da doch alles verpasst, wenn er barfuß über das Eis gleitet. Ich führe ihn von der schneebedeckten grünen Flur, fahre mit ihm in einem Bus, in dem stehend Leute sitzen und sehe ihn mir ganz genau an. Wo kommt er her? Warum mag er Liszt so gern? In seiner Geschichte liegt es begründet, sicherlich.

Und dann lasse ich ihn wieder einen Teil von mir sein, den Eiskunstläufer. Denn so lebt er gut. Er lebt nur nicht allein.