„So er am 14. von Norden her ankam, machte er sich sofort auf den Weg nach Hamburg“, sagt Klöschner und überprüft nochmal, ob die Seile auch wirklich festsitzen. „Keinesfalls“, sagt Jahns und wetzt die Säge, „dies hätte er Karl, mindestens aber Johnson mitgeteilt. Doch haben wir keine solchen Briefe“ – „Exakt dies“, sagt Meier, „dies passt kaum zu des Dichters mitteilsamer Natur.“ Klöschner geht noch einmal außenherum. „Mitteilsam, ja, doch nicht um jeden Preis! Wir kennen alle Haltermanns, nun ja, Phasen, in denen er sich gerade im totalen Rückzug öffnet.“ Jahns nimmt die Säge und gibt sie Reichler. „Du packst das schon“ – „Ich hoffe“, sagt Reichler, „und was den Hamburg-Aufenthalt angeht: Wir sollten uns nicht von der Unwahrscheinlichkeit der Unwahrscheinlichkeit täuschen lassen. Ein Leben läuft nicht Prozentangaben ab. Es mag Außergewöhnliches passiert sein.“ Wiebaum stöhnt gegen den Knebel an. Klöschner läuft zu ihm und nimmt ihn ihm aus dem Mund. „Ja?“ – „Das ist ein gewichtiger Punkt“, sagt Wiebaum, „für die Historiographie im Allgemeinen. Doch ist es noch viel wichtiger, den Blick auf die Historie nicht lebensphilosophisch zu verstellen, sondern die Sachen für sich zu betrachten. Und in dieser Sache, mit Verlaub, spricht fast nichts für einen Aufenthalt Haltermanns in Hamburg und fast alles dagegen“ – „Eben, eben“, sagt Jahns. „Mag das Szenario auch unwahrscheinlich sein – es ist das mit der höchsten Erklärkraft, und zwar mit Abstand!“, sagt Klöschner. „Aber nicht alles muss erklärt werden“, sagt Wiebaum, „nüchtern ist die Geschichte, und das müssen wir akzeptieren.“ – „Hm“, sagt Klöschner und steckt ihm den Knebel wieder in den Mund. „Bereit?“ – „Ja“, sagt Reichler und läuft auf den Tisch zu. Er nimmt die Säge und setzt sie zwischen Knie und Fußgelenk an. „Übrigens“, sagt er und dreht sich um, „dürfen wir keinesfalls den Brief der Plorée vergessen, in dem sie schreibt, Haltermann sei Ende September bereits in Lübeck erschienen, und nicht erst Mitte Oktober. Da hätten wir dann auch unsere Erklärung – nämlich, dass alles ganz anders war, und wir gar keine brauchen.“ – „Sehr wohl!“, sagt Meier. „Unsinn“, sagt Klöschner, „die Plorée war allgemein für ihre Fantasie bekannt. Sie ist ja auch die, die zum allgemeinen Amüsement der Hamburger Gesellschaft ein Treffen mit Sallper imaginiert hat!“ – „Aber ist dies“, sagt Reichler und fängt an zu sägen, „auch ein Beweis dafür, dass sie in Haltermanns Sache fantasiert hat? Schließlich ist die Fiktion um Sallper sehr viel später entstanden, als sie von der Wahrheitsliebe schon deutlich weiter entfernt gewesen sein mag.“ Wiebaum stöhnt und zappelt. „Durchaus“, sagt Klöschner, „aber nur sie schrieb dies. Mindestens fünf Stimmen berichten alle vom Erscheinen Mitte Oktober.“ – „Verdammt“, sagt Reichler, „ich stecke fest!“ – „Das Schienbein ist kein einfacher Einstieg“, sagt Jahns und hilft ihm, die Säge rauszuziehen. „Danke“, sagt Reichler und setzt neu an. „Vielleicht gibt die beste Antwort wieder einmal der Dichter selbst. Denken wir nur an einige der letzten Zeilen aus ‚Eileithyia‘: ‚Schön ist es nicht / an Orten zu sein / und anderswo zu weilen‘“ – „Auch dies“, sagt Jahns.