Ich fahre zu dir in die Südstadt, in die Wohnung über der Tatortkneipe, wir haben uns lange nicht gesehen. Du hast zwei Tage ständig angerufen bis zum Anschlag, durchgeklingelt, dass ich mein Handy ausmachen musste, weil ich mit meinem Mann in Urlaub war. Jetzt bist du sauer, weil ich nicht rangegangen bin, sondern Ski fahren war am Tag, abends in der Sauna, mit meinem Leberwurstmann, wie du ihn nennst, grau und grob. Ich erreiche dich nicht, es schmeichelt mir, dass du dermaßen beleidigt bist.
Ich komme in deine Wohnung und ihre Leere schlägt mich – sie erschlägt mich nicht, was eine einmalige Sache wäre, sondern sie schlägt mich, treibend, rhythmisch. Also gehe ich weiter durch die Räume, die noch nicht einmal mehr Deckenlampen haben. Deine Wohnung ist leer bis auf die Raufasertapete, an der noch die Abdrücke der Möbel stehen, und die der Bilder hängen. Sogar die Küche ist ausgebaut und da, wo die Steckdosen waren, kommen Kabel heraus, wie Nervenenden, oder Adern, oder was sonst noch hinter Haut sitzt, Knochen.
Ich habe den Schlüssel umgedreht wie immer, er passte natürlich, nur läuft drinnen kein Plattenspieler, den du ganz und gar absichtlich angemacht hast, mit dem Ziel, einer zu sein, der Platten hört, nicht Spotify. Du bist keiner, der ghosting betreibt. Du benutzt keine Anglizismen, du lachst viel zu laut, um ein ghost zu sein. Ich habe dich zu oft angefasst, als dass du einfach verschwinden könntest. Das Verschwundene ist unanfassbar, man kann es nicht platzen lassen, weil es ja nicht existiert, es ist riesig und heilig, wie Gott, den man ja auch nicht platzen lassen kann. Es ist ein kluger Schachzug von dir und ich ärgere mich, nicht selbst auf die Idee gekommen zu sein.
Von der Küche aus sehe ich einen schwarzen Fleck an deiner Schlafzimmerwand, als hätte jemand eine Riesenfliege dagegen geklatscht. Das bist du. Du bist doch nicht verschwunden, sondern klebst an der Raufasertapete, mit glänzend schwarzem Gaffa-Tape befestigt, über dem weißen Abdruck deines Bettes.
Die Konturen deines Körpers sind verschmiert von dem ganzen Klebeband, du bist ein Fleck, der nach außen hin zerläuft. Nur deine Füße schauen raus, in abgetragenen Sneakers und dein abgetragenes Gesicht. Dein Kopf ist mit ein paar Streifen an der Wand befestigt, an der Stirn, auf dem Nasenrücken. Deine Augen sind geschlossen, aber die linke Ferse tippt einen langsamen Takt an die Wand. Ich sage, wow, was ist das denn für eine Performance, und versuche es mit einem Lachen, etwas zu laut, dass du davon aufwachst, auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob man deinen Zustand Schlaf nennt.
Du sagst, ich habe diese scheiß Krankheit, und machst die Augen nicht auf. Ich sage, was denn für eine Krankheit, du sagst, die, bei der einem die Körperteile abfallen, ich sage, Lepra, du sagst, genau, Lepra. Ich sage, aber warum, also, warum klebst du an der Wand, du sagst, sonst wäre sie ja von mir abgefallen. Ich sage, aber die Wand, also die Wand war ja nie an dir dran, wie hätte die denn abfallen sollen, du sagst, so fängt es doch an, so ist es doch, es fällt nach und nach von einem ab, in Schichten, erst ist mein Vater abgefallen, die Treppe runter letzte Woche und weg, du schnalzt mit der Zunge, weg, dann du, du bist von mir abgefallen wie so ein fauler Apfel, plopp, weg, Skifahren, die Wohnung wollte von mir abfallen, ich schwöre es, du flüsterst, erst ist der Boden verschwunden, schau dir die Wohnung an, alles leer, alles abgefallen. Ich hab da keinen Bock drauf, dass auch noch die Wand abfällt, kein Bock, nachher ohne Beine dazustehen und alles, dastehen ohne Beine, guter Witz, merkst du selber, ne. Ich sage, ja.
Es wäre ein kluger Schachzug, jetzt zu gehen, aus dieser Wohnung, von diesem Mann mit den geschlossenen Augen, der an deiner Wand hängt, aber nicht du ist, der höchstens die späte Michael Jackson Version von dir ist. Ich sage, wie bist du da hoch gekommen. Der Mann sagt, na, wenn der Boden abfällt, liegt man halt auf der Wand. Ich sage, aber du musst doch hochgekommen sein, mit einer Leiter oder so, aber hier- Der Mann ruft, abgefallen, abgefallen, ich sage, aber wer hat dich festgeklebt, der Mann imitiert einen Gesichtsausdruck von dir, deinen Gesichtsausdruck, wenn du mir die Haare hinters Ohr streichst, nur lässt er die Augen geschlossen dabei, er sagt, ach, du bist wie Honig, hast einen Deckel drauf, aber wenn man das Glas aufmacht läufst du weg und klebst überall, pappsüß, ich bin eher das Innere von einem Brötchen. Ich lache, er sagt, ich bin warm und weich und heimelig, ich bin einer, der wartet, bis er von selber kalt und trocken wird, von der Luft.
Ich sage, wie lange hängst du schon hier, er schlägt die Augen auf, das Licht aus den Fenstern fällt hinein, sie sind grün wie deine, mit demselben gelben Kranz um die Pupillen. Er antwortet nicht, ich komme näher, sage, ich mach jetzt das Klebeband ab, ok. Er schaut mich an, als wüsste er nicht, wovon ich spreche. Ich sage, komm, ich mach das Klebeband ab und dann machen wir was Schönes, oder. Ich fange an, die schwarzen Streifen von der Tapete abzuziehen, beziehungsweise die schwarzen Streifen mit der Tapete von der Wand. Er schreit wie ein angestochenes Schwein, windet sich, obwohl er sich eigentlich nicht mehr winden kann, das angeschlachtete Tier. Ich höre sofort auf, er weint.
Ich sage, ok. Ich sage nochmal, ok. Ich sage, ich hole dir was zu Trinken. Ich gehe in die Küche, aber da ist ja nichts mehr, kein Schrank mit Gläsern, kein Spülbecken, kein Wasserhahn. Ich gehe ins Bad, bin erleichtert, das Waschbecken zu sehen, finde aber kein Behältnis, ich lasse das Wasser in meine Hände laufen, es zerfließt, es rennt über das Laminat zurück ins Bad, als wollte es wieder in den Hahn kriechen. Ich sage, ich gehe schnell runter und kaufe eine Flasche. Ich sage, warte hier. Ich lasse deine Tür hinter mir zufallen, ich zittere von tief innen, ich überlege, einfach ins Auto zu steigen, ich hole eine große Plastikflasche aus dem Kühlschrank im Kiosk, der Mann sagt, eins fünzig, ich bemerke, dass ich meine Tasche nicht dabei habe. Ich gehe aus dem Kiosk raus, ich bezahle das gleich, ich stehe vor deiner Haustür auf der Straße und bemerke, dass dein Schlüssel in meiner Tasche ist, die drinnen in deinem Schlafzimmer steht, der einzige Gegenstand weit und breit. Ich trinke von dem Wasser, ich warte, jemand kommt raus, lässt mich hinein, ich renne die Treppen hoch, merke, dass ich zu weit oben bin, renne wieder hinunter, stehe vor deiner Wohnungstür. Ich komme nicht rein, habe ja keinen Schlüssel, ich weiß nicht, was ich mir gedacht habe. Ich rufe meinen Mann an, mir fällt sonst keiner ein. Er sagt, Schatz, ist was Dringendes, ich sitze im Auto, ich überlege etwas zu sagen wie, ich habe mich aus der Wohnung von meinem Studenten ausgesperrt, wir haben keine Affäre, wirklich nicht, jetzt klebt er sowieso an der Wand, aber ich lege einfach auf und weiß, dass er denkt, dass ich eingeschnappt bin.
Ich erinnere mich daran, wie es ist, eingeschnappt zu sein, fahre mit der Bahn nach Hause, klingle bei der Nachbarin, benutze das Wort Dussel, sage, ich hätte mich ausgesperrt. Sie gibt mir den Ersatzschlüssel, wir tauschen uns über Wintergärten aus. Ich gehe duschen, ich rieche nach Lavendel, ich gieße die Zimmerpflanzen, ich stelle mir vor, ein Geist zu sein.
Das bist nicht du, der jetzt an deiner Wand verdurstet. Ich werfe Aspirin in ein Glas Wasser, es knistert wie Trockenheit. Ich warte darauf, dass es klingelt, das Telefon, die Tür, ein warmer Kommissar, weil meine Tasche gefunden wurde in einer ansonsten leeren Wohnung. Aber es klingelt nicht, es knistert nur. Mein Mann wird den Audi aus der Südstadt abholen mit dem Ersatzschlüssel, mit den Strafzetteln unter dem Scheibenwischer, er wird sie erst zerknüllen und dann bezahlen.