Eine Bucht am Atlantik, Wellen schlagen auf den Sand, es riecht nach Algen. Weiβe Schuhschachtelhäuser leuchten falb in die Dunkelheit. Land und Wasser treffen sich hier – Weltende – Bäume werden zu Unterwasserfarnen. Tagmenschen verwandeln sich in Nachtmenschen. Von ferne ein Geräusch wie von Schritten.
Ein Monstertag, dieser 27. Novembersamstag. Eine Odyssee von Platz zu Platz, stundenlang, doch im Rückblick mit einem klaren Ziel: ein golden erleuchtetes Haus mitten in der Nacht, irgendwo an der Douarnenez‘schen Bucht. Würde der Blick von uns Gavotte-Tanzenden innen nach auβen abgelenkt, würde er durch Wind, Sturm und Eiseskälte dorthin gehen, wo einstmals die Stadt Ys aus den Fluten prangte.1 Aber hier tanzt es sich so konzentrationsabsorbierend, Hand an Hand und kleiner Finger an kleinem Finger mit der bretonischen Haute Société. Drauβen schlagen die Wellen an die Plage du Ris, innen die Fluten der Musik über unseren Köpfen zusammen. Zeit misst sich in Herzschlägen zwischen Saxofonakkordeon-Beats und Luftsprüngen. Alle auβer uns hier im Raum können Bretonisch. Eins zwei drei, rechts Knie hoch, vier fünf sechs, links Knie hoch. Ich sehe den blonden Schopf meiner Freundin immer wieder aus der Masse auftauchen, begegne Augen, Stimmen und durch die Luft fliegenden Kronkorken, auf denen abwechselnd Britt-la vraie bière de Bretagne und Sant Erwann2 steht. Eins zwei drei, spring, vier fünf sechs, spring. Begegne den Blicken des Bretonischlehrers, des Fest Noz-Veranstalters, der Spendenlauf-Organisatorin, des langbelockten Psychologen. Dieser saβ vor wenigen Minuten noch auf der Rückbank meines frisch reparierten Renault Clio und trällerte mit seinem Freund muntere Call-and-Answer-Lieder auf Bretonisch. Eins zwei drei, Hände runter, vier fünf sechs, Hände hoch. In den Atempausen zwischen den Titeln erzählen sie uns von ihrer bretonischen Band und ihrem Traum von Ruhm und Plattenverträgen.
Vor dem Clio-wir-fahren-zur-Plage-du-Ris-Zeitalter wiederum gab es diese hell erleuchtete Markthalle, die Wände ganz mit überdimensionalen Barschen, Haken, Netzknoten und Wellen ausgemalt. Dort auf dem Parkett, in der stickig-überbordenden Menschenmenge, die kochende Blasen und Spritzer schlägt, begegne ich das erste Mal seit Wochen meinem Freund, der Wärme. Ich war schon ganz zur klammen Kälte des schlecht isolierten Sommerhauses geworden. Die Wärme nun geht in Bein und Mark und macht meine Wangen rot, meine Augen glitzern – und Cercle Circassien, Dañs plinn und die ewige Gavotte tun das ihre. Als wir uns nach Stunden in einen sportlichen Gruppentanz stürzen, bei dem wir uns quasi rennend fortbewegen und dabei fest an den Händen halten, um nicht aus den Kurven zu fliegen, wird mir momentweise schummrig – und es kommt mir wie eine mir auferlegte Bürde vor, nach Lohnarbeits-Stress und selbstauferlegtem Freizeit-Socializen nun auch noch stundenlang durch fremde Hallen einer Hafenstadt hüpfen zu müssen, wo Po in Rücken und Fuβ auf Fuβ stöβt vor lauter wuselndem Mensch. Aber: Es ist Teil der Trance-Erfahrung, die wir im Umkehrschluss ernten, weil alles Tanz und gemeinsam-Sein ist, weil sich der Moment in diesem Kontakt kondensiert: mein kleiner Finger in deinen kleinen Finger gehakt. Da ist minuten-, stundenlang kein Artensterben mehr, kein syrischer Bürgerkrieg, keine Toten im Ärmelkanal, kein Fischerstreiken, keine nuklear bewaffneten U-Boote, keine Vergewaltigung und keine Rache – weil Menschsein Gutsein heiβt, hier, für ein paar Stunden. Und Proust hätte sich kein inspirierenderes Gesellschaftsmaterial wünschen können.
Eine Bucht am Atlantik, Wellen schlagen auf den Sand. Es riecht nach Algen, bis eines der Schuhschachtelhäuser das Fenster öffnet und eine Bierfahne quer über den Strand zieht. Der vorüberziehende Reiher rümpft den Schnabel – da ist der Geruch schon verflogen. Die Nachtmenschen werden wieder zu Tagmenschen. Die Unterwasserfarne haben von alledem nichts mitbekommen.
1 Die Legende von Ys handelt von einer magischen Stadt in der Bucht von Douarnenez, die unter dem Meeresspiegel liegt und von hohen Mauern vor den Fluten geschützt wird. Die Tochter des Königs von Ys unterliegt den Versuchungen des Teufels, was zur Überflutung des Königreichs und dem Untergang der Stadt führt. Der König kann nur fliehen, indem er seine Tochter opfert und vom rettenden Pferd in die Fluten stöβt.
2 Sant Erwan, auch Sant Yves genannt, ist der bretonische Schutzpatron. In seinem Namen wird der 19. Mai als Tag der Bretagne gefeiert („Gouel Breizh“).