Es ist einige Zeit her, dass ich meine letzte Kolumne schrieb und veröffentlichte – es ist auch einige Zeit her, dass die letzte KLW publiziert wurde. Alles beim Alten also. »publish or perish«, wie Prof. W. jetzt mit seinem fröhlich amerikanischen Lächeln gesagt hätte: »get in and get out, this is the MPU-approach!« MPU steht hier nicht für die neue Modetherapie der deutschen White-Trash-Dorfjugend, sondern für »minimum publishable unit«. Keine Sorge, diese Methode werde ich auch in dieser Kolumne – mit der gewohnt bunten Vermischung aller möglichen Themen – gepflegt ignorieren. Was ich aber von Prof. W. adaptiert habe und den alpinistisch geneigten Lesenden nicht vorenthalten will, ist der von mir »MHU-approach« genannte Ansatz: »minimum hiking unit«, get up and get down – one (wo)man, one day, one summit …
Was hat uns im letzten halben Jahr beschäftigt? Eine Menge sicherlich, mich zum Beispiel das Thema Krankheit, dazu später mehr. Künstlerisch-kulturell war da noch die documenta 15 in aller Munde: Ich kann dazu nur auf einen Kommentar von Barzon Brock verweisen, welcher auch auf Deiner Röhre nachgehört werden kann, Titel: »Die Leute haben im Namen der Kunstfreiheit die Kunst liquidiert«. Für die Hörfaulen heruntergerissen: Kunst-Kollektive sind die wesentliche Wurzel der Probleme, da sie das individuelle Denken und persönlich verantwortliche Handeln durch einen nicht näher belangbaren Schwarm ersetzen, aus dessen undurchsichtigem Gewusel immer mal »Kunst« in die Welt geschleudert kommt. Der Künstler muss als eigenständiger Denker verstanden werden, seine Bedeutung kommt explizit aus der eigenen künstlerischen Urheberschaft und keineswegs aus der gesellschaftlichen Reproduzierung von Ansichten des allgemeinen Wertekanons: Autorität durch Autorschaft.
Damit ist meiner Ansicht nach alles Relevante gesagt, in knapp 7 1/2 Minuten. Nur gut, dass die KLW bloß Medium zum Zweck ist und keinen eigenen, für sich stehenden Wert als Kollektiv hat. Gut also, dass über jedem Text der Name der urhebenden Person steht. Famos also, dass sich hier keiner niemals nicht hinter einem Pseudonym verstecken könnte (haha!) …
Kassel, Athen, Flüge, Villen, Jacuzzis, Veuve Clicquot, Gerichtsverfahren, Freisprüche. Staatlich finanzierte Berlin-Mitte-sozialisierte Kunstkuratoren sind halt leider doch keine libanesischen Großfamilienpatriarchen …
Erinnern Sie sich an diese Kippa-Thematik in Berlin vor ein paar Jahren? Neulich bin ich mit dem Diesel RE – diesen alten, hässlichen Schrottkarren mit den unbequemst denkbaren Sitzen und den pneumatischen Türen, die regelmäßig Kinder und Hunde exekutieren, weil sie einfach einen F*** darauf geben, ob jemand in ihrem Rahmen steht, wenn sie sich schließen wollen – durch die Thüringer Provinz gefahren: Verbogene Gleise, die unfähigsten Lokführer, keine Jalousien, keine Klimaanlage, kein Garnichts. Sie wissen, dass ich ohne die Bahn ein anderer wäre: Ich bereise im Expresszug das Land und schaue aus dem Fenster, ich schreibe im Zug, ich denke im Zug. Ich würde nicht sagen, dass ich im Zug lebe, da gibt es andere. Ich sehe Rehe vom Fenster auf den verschneiten Äckern und frage mich, wo der Jäger ist. »Eine moderne Mentalität statt moderner Technik bei der Aneignung der Naturerlebnisse« (Aldo Leopold). So sehr ich mich bereitwillig freudig durch die Bahnreisen prägen lasse, so gerne kann ich auf nahezu jeden nicht-elektrifizierten Nahverkehrsanteil verzichten. Außer vielleicht auf die Südthüringenbahn, die hat noch immer die bequemst existenten Sitze, abgesehen von den seltenen alten IC-Abteilwagen vielleicht …
Auf dieser Fahrt durch Thüringen jedenfalls trug sich Folgendes zu: Ich saß mit drei Kollegen im Vierer, neben uns im Vierer eine Familie, die ich vom Äußeren her ethnisch in den Nahen Osten verortet hätte. Die Worte, die ich beiläufig aufschnappte, klangen hingegen slawisch. Als die Kontrolleurin kam, ließ ich mich äußerlich nicht beeindrucken, tippte den Satz zu Ende und begann seelenruhig, das Thüringenticket für uns vier aus der DB-Navigator-App herauszupulen. Von unseren Nachbarn war wohl nur der Junge des Deutschen einigermaßen mächtig, daher bemühte er sich nach Kräften, mit der Kontrolleurin zu kommunizieren. Diese aber – als müsste sie Fäkalien fressen – baffte die Familie wegen des Tickets an und wo denn die vierte Person sei (Die Mutter war kurz vorher wohl auf Toilette gegangen). Der Junge schaute verunsichert, der alte Mann nur leer. Als sie zu ihrer sichtlichen Unzufriedenheit keinen Grund gefunden hatte, die Familie aus dem fahrenden Zug werfen zu dürfen, wendete sie sich wortlos unserem Tisch zu und scannte das Handy, dass ich einfach auf den Tisch gelegt hatte. Sie bedankte sich, ich nickte leicht und von uns sagte keiner ein Wort. Sie schritt noch die letzte Reihe weiter – wir saßen am Ende des Triebwagens bei den Türen zu den Lokführerkabinen –, wo die Familie ihren Kinderwagen im Gang abgestellt hatte. Sie drehte sich um und mit einer sichtlichen Genugtuung, doch noch einen Makel für ihre deutsche Borniertheit gefunden zu haben, bellte sie die Familie erneut an, ob das ihr Kinderwagen sei, was das denn solle, den in den Gang zu stellen, den Weg zu versperren. Der Junge bemühte sich sofort, ihr zu folgen, doch sie blökte in derart Stakkato, dass man ihr selbst mit Sprachzertifikat B2 nur schwer hätte folgen können. Sie wollte keine Antwort, sie wollte nur Recht haben, ein bisschen Aggression und einen zarten Hauch Hass in der ohnehin schlechten Luft versprühen. Mit den Worten »Ja ja, nix verstehen, alles klar, typisch …« verließ sie das Abteil. Jetzt wissen Sie, warum ich immer eine Krawatte trage, wenn ich Bahn fahre …
Auf dem früheren Friedhof steht jetzt ein Kindergarten, der alte ist ein Altersheim in privater Trägerschaft. Eine GmbH aus Heilbronn. Die Fabrik lässt sich noch immer stoisch von Birken besiedeln, seit zwei Jahren glitzern die Scherben nicht mehr in der Sonne, wenn man im Zug vorbeifährt. Im alten Ärztehaus sind eine Arztpraxis und eine Scheidungskanzlei, ein Parteibüro und ein Bäcker untergebracht. Der Rest steht unter Denkmalschutz. An der Tür die weißen Klingelschilder: Dr. Mahdi, Gynäkologe; Bäckerei Lübke GbR, Inhaber Petra & Enrico Lübke … Neben dem Eingang noch ein blaues Schild mit goldenen Sternen. In den historischen, wieder freigelegten Kellern wurde einst mit Waid gefärbt und blau gemacht. Die Balken mussten von Rumänien importiert werden, in Deutschland war kein geeignetes Eichenmassivholz zu finden. Auch die Wimpel in der zweiten Etage, manufactured in pakistan, hängen blau hinab. Nicht waid- sondern heliogenblau, mit gedruckten roten Nike-Häckchen.
In die Zwischenzeit fielen auch einige Festtage, mein Geburtstag (den ich kaum feiere) und der 09. November (ein Grund zum Feiern). Einem Freund ist es zu verdanken, dass wir dieses Jahr zu diesem Anlass einen Filmabend veranstalteten, wir starteten mit Good Bye, Lenin!. Meines Erachtens nach wäre der 09.11. trotz seiner schwierigen Konnotation das wesentlich bessere Datum für unseren Nationalfeiertag als der künstlich aufgedrückte 03.10. Ersterer würde an Freiheitsgeist, friedliche Demonstrationen, demokratischen Willen und somit im Inneren verbundene wirkliche Einheit erinnern. Letzteres Datum steht noch immer – gerade im Osten – für den Ausverkauf durch die Treuhand, für ein aufgedrücktes gesellschaftliches System – ein neues Deutschland, das letztlich nur ein größeres Westdeutschland war und ist. Man erinnert also lieber an einen Verwaltungsakt voller Fehler, geschäftsmäßig durchgeführt von Politikern und Wirtschaftskadern beider Staaten; statt an eine vom – im Herzen vereinten – Volk, von den Bürgern jeder Klasse, den Menschen jeden Alters ausgehende friedliche Revolution? Den verwaschen Einwand wische ich hinweg: Dass der 09. November historisch belastet ist, ist kein Makel, sondern höchstens eine Herausforderung, sich ein weiteres Mal aufrichtig und doch würdevoll mit unserer Geschichte auseinanderzusetzen: Heute wird jeder Todestag eines deutschen Forschers, Schriftstellers oder Politikers in den kritischen Kontext des Kolonialismus oder toxischer weißer Männlichkeit gestellt. Warum soll es also nicht möglich sein, an großartige Taten und Personen von 1989 zu erinnern, ohne darüber die grausamen Verbrechen und Schergen von 1938 zu vergessen? Am 17.06.1940 tötete die deutsche Luftwaffe zwischen 2000 und 4000 Menschen, als sie ein Schiff vor der Küste Frankreichs versenkte. Ich frage mich, ob das 36 Jahre lang jemanden gestört hat.
»Der zur Arbeitsmaschine herabgewürdigte, übermüdete Mensch braucht Ruhe, damit sein Denken sich klären, sein Fühlen sich reinigen, sein Wollen sich neu ausrichten lassen kann.« – Dietrich Bonhoeffer
Wer sind wir? Individuen, eigenständig und unabhängig agierend? Wovon sind Sie abhängig? Ich meine nicht unbedingt Zigaretten oder so, ich frage nach gesellschaftlichen Bedingtheiten. Als ich Michael Manns Meisterwerk das erste Mal sah, vor Jahren noch zur Gymnasialzeit, hinterließ McCauleys Lebensmotto einen Samen in mir: Es erspart einem viel Leid, wenn man sich von Anfang an darauf einstellt, dass alles einen Höhepunkt und dann irgendwann auch ein Ende hat – und das letzteres häufig viel schneller kommt als gehofft.
Nehmen wir Krankheit. Ein Begriff, so allumfassend, dass er bloß durch seine unnegierbare Anwesenheit erschlägt: Jeder kann krank werden, jeder wird krank werden, krank zu sein ist vieler Menschen Präliminarie im Leben, krank zu sein kann alles bedeuten oder nichts, ohne dass man es in der Hand hätte. Ich plädiere generell für einen rationaleren, weniger wertenden Blick auf Krankheit: Ein Freund von mir wünscht beim Niesen nicht »Gesundheit«, sondern »Viva« – Leben. Denn ob gesund oder krank (wobei ich schon in Zweifel ziehe, dass man diese beiden Zustände wie 1 und 0 unterscheiden kann) – beides gehört zum Leben, das Sterben wie die Geburt. Ich sehe Krankheit mehr und mehr als Zustand der Offenlegung des Menschen, der ungeschützten Auslieferung gegen die Gesetze der Biologie. Sicher, Räder drehen sich mit Geld, doch für das Geld bekommt man letztlich auch nur eine bessere Wahrscheinlichkeit, doch keine Umkehrung der Naturgesetze. Der Mensch ist eine Art auf der Erde; jede Art hat ihre Krankheiten, steht im Wechselspiel mit anderen Arten und entwickelt Methoden, Abwehrmechanismen und Gegenmittel, einen Ausgleich zu schaffen: Unser technisch-medizinischer Fortschritt – der letztlich nur die Weiterentwicklung des »sich mit Schlamm gegen Parasiten abreibens« ist –, verschleiert zu oft die Größe der Gabe, »gesund« sein zu dürfen. Für jedes Symptom haben wir eine Pille, doch nur für die wenigsten Leiden ein Heilmittel. Zu unserer Blindheit gegenüber der Normalität des »nicht-gesund-Seins« trägt verstärkend bei, dass wir Krankheit und Leid in Krankenhäuser, Alten- und Pflegeheime konzentrieren und so möglichst aus unserem täglichen Bewusstsein fern halten. Krankheit, Zerstörung, Verfall: Alles völlig alltägliche, unvermeidliche und oft auch notwendige Prozesse, die wir zuerst mittels der Wissenschaft verdrängen, um sie uns durch die Kunst weich und abstrakt gekocht zurück in die Wohnzimmer zu holen, wo wir warm und satt ganz wertneutral lernen können, was Leben denn bedeuten mag.
Wir sind nur Menschen – für diese Botschaft laufen wir applaudierend in die Literaturcafés. Im Stück »Zerstörte Straßen« hieß es: »Nichts ist so sinnlos wie die Kultur. Aber sie lenkt auch ab.« Damit fällt der Vorhang, es wird dunkel auf einer Bühne, auf der Vergewaltigte, Geschlagene, Betrunkene, Abgefundene und Tote liegen. Mein Vater liegt mit Krebs im Klinikum, während ich im Theater sitze und in die sich verziehenden Schwaden der unablässig laufenden Nebelmaschine applaudiere. Die Ärzte tuen, was sie gelernt haben, sie haben Ahnung, aber Wissen tun sie doch nichts. So spielen sie nach feinstem Lehrbuchexempel Roulette auf der Basis von Studien, Theorien und der Marktwirtschaft, die unsere Krankenhäuser am Leben hält.
Ich habe noch Fragmente über das Wahlsystem der Schweiz, das Stück »Bühnenbeschimpfung« am Maxim Gorki Berlin, die Grundsteuerreform, die Rolle von Prominenten in unseren modernen Gesellschaften sowie den Unterschied zwischen dem Bohren (Drilling) nach Öl und dem Brunnenbau. Da diese vier Zieglersteine aber sicher schon wieder wie Brocken auf Ihrem Schoß liegen, will ich es für heute dabei belassen und ende mit einem Zitat aus dem Film Killer Elite: »Ein Krieg ist erst vorbei, wenn beide Seiten das erklären.« Also, solange Sie mir nicht den Frieden erklären, mache ich weiter. Bis dahin: Gute Nacht und frohe Grundsteuererklärung!