Ich hatte einmal ein T-Shirt. Darauf waren orangene und blaue Planeten. In der Mitte eine Jahreszahl, zu der ich 23 Jahre alt sein werde. Zum damaligen Zeitpunkt erschien mir dieses Alter Lichtjahre entfernt. Ich hatte es bei der Blutabnahme im Krankenhaus an. Sie haben nichts auffälliges gefunden, ich war gesund. Du warst schon ein paar Tage auf Station. Hast zu Übungszwecken Nadeln durch Orangenschalen gestochen. Bekamst viel Besuch, wir waren auch oft da. Ein paar Tanten konnte ich dabei beobachten, wie sie bei dir im Zimmer, zu Späßen aufgelegt waren, mit dir gelacht hatten. Sobald sie das Krankenzimmer verlassen, die Tür hinter ihnen zu fiel, geschah etwas eigenartiges mit ihnen. Etwas das nicht für dich bestimmt war. Ihre Körper krümmten sich in einer ruckartigen Bewegung zusammen. Ihre Hände haben sie vors Gesicht gehalten und sich die Augen abgewischt bevor sie gehen konnten. Ich wusste nicht was ich damit anfangen sollte. Bestand weiter darauf, dass du gesund werden würdest. Selbst als Vater mich und Mutter zuhause anschrie, als wären wir eine weitere Krankheit die es zu vertreiben galt, änderte sich das nicht. Die genauen Worte unseres Vaters fallen mir nicht mehr ein, aber seinen Gesichtsausdruck vergesse ich nicht. Er war böse auf mich. In mir wuchs der Gedanke, dass der falsche Zwilling krank ist, dass es das nicht geben darf, einen gesunden und einen kranken Zwilling, sondern, dass wir beide gleich krank oder gleich gesund sein sollten.
Vor der Diagnose warst du mit der Klassenschönheit, so wie man in diesem Alter mit jemanden zusammen sein kann, zusammen. Vor dir war sie meine Freundin. Wir haben uns im A&O Park ein paar Mal auf den Mund geküsst. Sie roch nach Kirschkaugummi. Jenny ist ihr Name. In der Klasse vermochte ich kaum ein Wort mit ihr zu wechseln. Nicht mal als sie eine Zeichnung die wir im Unterricht anfertigten, lobte, und meinte, dass ich alles so gut kann und dabei lächelt sie, so dass es jeder sehen kann. Schließlich war ich froh, als ein anderes Mädchen zu mir kam um mir mitzuteilen, dass sie mit mir Schluss macht. Endlich, habe ich dann gesagt. Ein paar Momente später teilte mir jemand anderes mit, dass du jetzt mir ich zusammen wärst. Sie hat dich gefragt und du hast ja gesagt. Darauf folgte eine schwierige Zeit, weil du das mit Jenny so viel besser konntest als ich. Du hast ihr Dinge und Aufmerksamkeit geschenkt. Als du aus dem Krankenhaus zurück in die Klasse kamst, hast du allen gezeigt wie das mit dem Spritzen ist. Während ich das erzähle, grassiert wieder diese Unsicherheit. Wann hast du die Krankheit bekommen? Das muss in der Volksschule gewesen sein. Da waren wir vielleicht 8 oder 9. Das mit Jenny war viel später. Mein Erinnerungsvermögen, meine Gedächtniszentrale vermischt die Jahre miteinander. Ich weiß nicht mehr genau, wie das war. Das bereitet mir furchtbare Angst, wenn ich jetzt schon darum kämpfen muss, was ist dann in ein paar Jahren? Erzähle ich dann nur noch Lügen von dir? Ich muss weiter machen, weiter machen wo ich mich gerade befinde und einfach erzählen. Es war nach der Schullandwoche, in der dich unser Klassenvorstand in der Hauptschule, Frau K., sehr früh aus dem Zimmer holte um deinen Blutzuckerspiegel zu kontrollieren. Zumindest glaube ich, dass es so war. Meine Erinnerungen sind übereinander gestapelt und manchmal fällt eine Szene aus dem Stapel, ohne dass ich weiß an welcher Stelle sie genau war. Zumindest weiß ich, dass du ein guter Freund warst, Jenny in der Schullandwoche in der Obersteiermark Blumen gepflückt hast, für die du dann von Frau K. gemaßregelt wurdest, weil man das dort nicht darf. In der Schiwoche, das muss ein Jahr später gewesen sein, habe ich Jenny gegen den Heizkörper gestoßen. Es hat einen ordentlich Krach gemacht. Sie weinte. Sie wollte mit anderen Mädchen das Jungszimmer sehen und hat fröhlich herein gelacht, dann habe ich sie gestoßen. Weißt du, es gab nämlich das Gerücht, dass sie mit keinem Kranken zusammen sein wollte. Vermutlich hast du das auch gehört, als sie mit dir Schluss machte.
Jahre später habe ich Jenny in einem Kaffee gesehen. Sie hat Tattoos, sieht nach wie vor wunderschön aus, nur irgendwie verbrauchter. Sie sagte, »Bist du nicht einer von den Zwillingen? Ich war mit einem von euch zu zusammen, stimmts?« Ich habe gesagt, »Mit uns beiden.« Sie lacht und sagt: »Wow, wirklich, ich glaube du hast recht.« Dann hat sie mich gefragt was ich bestellen möchte und unser Gespräch war beendet. Wir haben nicht darüber gesprochen, dass du bald nach der Hauptschule gestorben bist. Vielleicht hat sie das nicht gewusst, oder schon vergessen, oder es fiel ihr gerade nicht ein. Ich weiß es nicht, und es macht mich gerade rasend und am liebsten würde ich ihr über die sozialen Medien schreiben, seit kurzem folgen wir uns auf Instagram ohne uns auszutauschen. Aber was sollte ich schreiben, wozu, und das Schlimme ist, ich verstehe es irgendwie. Dachte ich damals daran, was es bedeutet 23 Jahre zu sein, dann hatte ich ein Haus, eine wunderschöne Frau, vielleicht so ein Mädchen wie Jenny, vielleicht sogar Jenny und ein paar Kinder vor mir. Bei jeder Vorstellung warst du dabei. Ich dachte auch, dass es ausreicht Klassenbester zu sein. Einserschüler in Mathe und noch dazu hervorragend beim Fußballmanager am PC um eine Karriere in der Wirtschaft, was das auch sein mochte, einschlagen zu können. Ohne dich Erwachsen zu werden, war nie Teil des Plans.
Eigenartig was mich dazu veranlasst an all das zu denken. Dabei sitze ich nur da und glaube, dass es eine Zeit her ist als ich dich das letzte Mal gesehen habe. Deine blauen Flecken am Bauch und an den Oberschenkeln waren für mich nicht sichtbar, für andere schon. Nach dem Fußballtraining sprach dich in der Dusche einer der Kameraden, mit denen wir aufgewachsen waren, auf sie an. Anstatt verstohlen auf einen Penis zu starren, wie es angemessen wäre, sah er eine Etage höher auf deinen Bauch. Abheilende, hellgrüne, gelbliche Tupfer. Frische Hämatome, blau rötliche Stempel. Mir war nicht bewusst, wie irritierend das aussehen kann. »Igitt, was ist das?«, sagt der Kamerad und zeigt auf deinen Bauch. Alle sehen dich an, wie du nackt da stehst, getroffen von dem Finger, wie von einer Pistole. »Das sind Gelsenstiche.«, erwidert einer von uns, du oder ich. Der Kamerad bohrte nach: »Was für eine Art Gelsenstiche sollen das bitte sein?« Dann sieht er mich an. »Warum hast du keine?« »Süßes Blut.« ist unsere Antwort. Den Weg nach Hause beschritten wir wortlos. Damals zerbrach was in dir, das habe ich gesehen. Das war der Knacks, fast wie damals bei den Tanten, nur schlimmer. Danach geschah das immer öfter und nachhaltiger. Kleine Haarrisse die sich summierten, lauter kleine Brüche bis zum Totalschaden. In der Familie war das kein Thema. Du spritzt in der Früh. Spritzt am Abend, manchmal auch Mittags und Zwischendurch. Misst den Blutzuckerspiegel mehrmals am Tag, oder solltest es tun. Pinkelst auf Streifen und trägst Werte in ein Tagebuch. Wie lange habe ich zu leben, hast du dich das gefragt, oder wie oft hast du dich das gefragt? Ich sehe das T-Shirt mit den Planeten und der Jahreszahl vor mir. Mit ungefähr 23 Jahren habe ich mich entschlossen in den Pflegeberuf zu wechseln. Für die meisten war das überraschend, auch für mich. Wir lernten Insulinspritzen und Blutzuckermessen. Heute macht mir das nichts mehr aus, damals war es schwer, denn wenn ich an dich dachte, dachte ich nur an dein Ableben, deinen toten Körper unter der Erde, von Käfern angefressen, sich im Zersetzen befindlich. Heute denke ich an mehr, an die Freundin die wir in der Schule hatten. An mein Schuldgefühl ihr und dir gegenüber. Ich wollte mich damals bei ihr entschuldigen, ich wollte ihr nicht wehtun, das mit dem Heizkörper tut mir wirklich leid wollte ich sagen, hab es aber nie getan. Mit ziemlicher Sicherheit hätte sie nicht gewusst wovon ich spreche, oder?
Ich bin glücklich. Ich kann mich kaum erinnern, dass es mir in den letzten Jahren jemals besser ging als heute. Das dachte ich zwar Gestern schon, aber heute denke ich das wieder. Aufstehen hat genauso gut funktioniert wie M. eine guten Morgen Nachricht zu senden. In letzter Zeit habe ich weniger Angst sie aufgrund meiner Verhaltensmuster zu verscheuchen, und dass ich ihre Eigenheiten besser tolerieren und aushalten kann. Die paar Nächte auswärts sind ein Segen, wir können beide etwas abschalten und ich mich ganz dem Schreiben widmen. Ich habe mein Romanprojekt bei mir und freue mich damit zu arbeiten. Und gleichzeitig freue ich mich auf die Kollegen in der Literatur Akademie, denn wann kann man sich schon mit Gleichgesinnten austauschen und etwas konkretes dazulernen, was das Handwerk betrifft. Ich habe einen Zwang zum Schreiben entwickelt. Ein Schreibkollege meint, es macht ihm Spaß zu schreiben, er liebt es Sätze zu bauen und an ihnen herumzuschrauben. Das kann ich zwar gut nachvollziehen, dennoch empfinde ich die Existenz der Möglichkeit mich dem Schreiben als Akt hinzuwenden, als Qual, in dem der Reiz für mich liegt. Von diesem elendigen Gefühl der Wertlosigkeit aus, kann ich einsteigen, den Wiederstand gegen mich selbst brechen, mich sogar von diesem Kampf unterhalten lassen. Es ist vielleicht so wie mein Freund W.F. gesagt hat. »Ich glaube dass dich Lesen, Schreiben, die Literatur im allgemein gerettet hat. Aufgrund der Dinge die du aus deiner Vergangenheit erzählst, glaube ich, dass du an einem Platz in deinem Leben warst, in dem du tatsächlich kein angenehmer Mensch warst. Ist es nicht arg, dass man sich selber so finden kann? Offen sein kann, seinen Geist, seine Seele benützen kann? Sich mit was anfüllen und dann über etwas Reden das einen berührt, wie ein Film zum Beispiel den wir gesehen haben. Schöngeistig trifft es nicht, es geht wohl mehr darum, wo es einen hingeführt hat. Ich weiß nicht, aber ich finde das interessant. Ich hänge gerade Wäsche auf und rede nur so vor mich ins Handy hinein, und denke an Gestern. Der Film war gut.« Dann erzählt er über eine Szene die ihn beschäftigt hat und ich höre ihm gerne dabei zu.
M. weint oft und sagt ehrlich, dass ihr das ganze Leben zu viel ist. Ihre Mutter konnte ihr nicht die Liebe geben die sie braucht, von der sie als Erwachsene zehren kann, zehren kann wenn es ihr schlecht geht. M. muss sich bei allem so anstrengen. Auch was uns betrifft. Sie meint, ich müsse sie verstehen, das ganze Gerede über Nachwuchs mache ihr Angst. Schließlich musste ihre Schwester vor kurzem ihr zweites Kind gleich nach der Geburt abgeben, da sie sich nicht darum kümmern kann. Ich sage dann, du weiß wie sehr ich das möchte, Vater sein, immerhin … dann stoppt sie mich und sagt, ich weiß, aber das macht es nicht leichter. Bereits einige Leute haben zu mir gesagt, ich wäre bestimmt ein super Vater. Ich glaube selbst, dass ich das könnte. Es macht mich glücklich, dass wir als Paar so weit sind und zumindest über Nachwuchs sprechen können, ohne uns gegenseitig zu zerfleischen. Wenn ich in M`s Augen sehe, sehe ich meine Zukunft und einen Spiegel der mich selbst zeigt. Neben ihr taucht in meiner Vorstellung ein kleines Mädchen auf. Immerhin, möchte ich sagen, immerhin fühle ich mich weniger einsam.
Selbst wenn alles war ist was ich gerade geschrieben habe und denke. Als ich das Bild von dem Jungen gesehen habe, der nach einer Hirntumor Erkrankung gestorben ist, knackst es in mir und ich muss alleine sein. Ganz dringend alleine sein. Es ist so schwer einfach nur um jemanden zu weinen den man nicht kennt, dessen Tod die ganze Welt zu beheimaten scheint. Ein sterbendes Kind ist mehr als man ertragen kann. Keine 8 Jahre, dazu noch die Krankheit, die die letzten Jahre bestimmten. Seine Schwester hat ein Bild von ihm gepostet, sie beide zusammen und darunter ein schwarzes Herz. Wir haben 2016 gemeinsam die Ausbildung zur Diplom-Gesunden- und Krankenpflegeperson geschafft. Mein Bruder, du, hast fast doppelt so viele Jahre gehabt wie er. Alle Jungs in dem Alter habe eine Ähnlichkeit. Es bricht mir das Herz entzwei. Die Familie, sie, sie leiden gerade an schlimmen Schmerzen. Ich überlege tatsächlich ob ich zum Begräbnis fahren soll. Doch kannte ich ihn nicht und mit ihr gibt es kaum Kontakt. Ich habs mir im Kalender vorgemerkt, damit ich ihr Schreiben kann, oder doch noch hinfahre. Der Abschied ist am 5.11. Zwei Wochen vor deinem Todestag.
Du warst etwas mehr als 15 und er etwas weniger als 8. Insgesamt habt ihr 23 Jahre gelebt. Ich frage mich, wer ich damals war, noch mehr wer wir beide waren, als du hier warst, als wir 8 waren. Ob du damals krank wurdest oder später. Ich möchte unsere Schwester nicht Fragen, unseren Vater schon gar nicht. Mutter ist bei dir, für euch spielt das keine Rolle mehr. Wie wäre es, dich jetzt in Fleisch und Blut vor mir sitzen zu haben. Mit dir über Jenny und Fußball zu reden. Ich glaube es wäre schön, gemeinsam in die Allee der Erinnerungen entlang zu flanieren. Weißt du, ich schreibe einfach weiter, mal sehen wohin es uns führt. Ich denke an den kleinen Jungen und seine Schwester. Ich werde ihr schreiben, dass ich gerade an sie denke. Vielleicht mache ich ein schwarzes Herz dazu, mehr nicht.