Eine Minute. In einer Minute müssen die U-Bahnen, Straßenbahnen und Autos stehenbleiben. In einer Minute müssen die Gasleitungen abgeschalten und die Fahrstühle verlassen werden. In einer Minute kannst du dir überlegen, wo du am sichersten bist. Eine Minute, abzüglich Reaktionszeit. Eine Minute, um eine passende Aktion durchzuführen. Eine Minute.
In einem Vorort von Bucureşti gibt es eine Erdbeben-Messtelle. Es ist ein kleines Gebäude, mit vielen Antennen. Bucureşti ist eine der am stärksten von Erdbeben bedrohten Städten auf der Welt, sagte ein Wissenschaftler in einem Nachrichtenportal. Ich schrieb seinen Namen und sein Zitat ab. Ich saß im Garten der Redaktion unter einem Pavillon im Schneidersitz. Vor mir stand eine leere Kaffeetasse, eine zerknüllte Brottüte, in der Börek gewesen war, und meine Carpaţii Schachtel. Mein Kollege Mihai kam an diesem Tag bisher drei Mal raus zum Rauchen. Er schaute mich dann immer an, nickte freundlich, und zog dann schweigend an seinen Lucky Strikes. Das Warnsystem gibt dir eine Minute Zeit. Mehr geht nicht. Schneller ist nicht messbar. Du kannst nur messen: in einer Minute wird es kommen. Genug Zeit, um unter den Tisch oder aus dem Fenster zu springen. Wann es tatsächlich benutzt werden kann, ist unklar. Es existiert noch nicht. Durchschnittlich drei Mal in einem Jahrhundert kommt ein schweres Beben über die Stadt, aus der Vrancea-Erdbebenzone südlich der Karpaten. Wenn man in Bucureşti lebt und nicht allzu jung stirbt, dann wird man durchschnittlich gesehen eines oder zwei miterleben. Ich saß an einem Artikel. Wenn ich in der demokratischen Zeitung erneut auf das Thema aufmerksam mache, wird sich bestimmt überhaupt nichts bewegen. Gebäude werden ohne Regularien gebaut. Es gibt Regularien in Rumänien. Es ist nicht offiziell bekannt, wie viele Gebäude baufällig sind. Eine NGO spricht von 10.000 Gebäuden. Wie viele Menschen leben in 10.000 Gebäuden, wenn man bedenkt, dass die Stadt voller großer Blocks ist? Ich tippte einen Text auf meinem Laptop. Ich hatte bereits zwei Bilder: eines von einem Riss in meinem Block, eines von einem Riss vom Bauhausgebäude am Piaţa Amzei und ein Archivbild vom Erdbeben in den 70ern. Der Artikel soll informativ und predigend sein. Bitte tut doch irgendwas. „Man kann doch nicht einfach mit offenen Augen zusehen, wie vor einem alles den Bach runter geht“ – in der Art. Die Chefin hörte sich das Thema kurz an und nickte. „Gute Sache. Ich bin, Gott sei Dank, sicher. Mein Mann und ich leben in einem kleinen Haus außerhalb der Stadt“, sagte sie und schaute wieder auf ihren Bildschirm. Sie tippte mit ihren knochigen Fingern auf die Tastatur ihres Rechners.
Ich setzte mich auf meinen Platz gegenüber von Catalin und flüsterte drei Mal halblaut „Entschuldigung“, bis ich ihre Aufmerksamkeit hatte.
„Ja?“, fragte sie. Ihr Kopf schaute zur Hälfte neben ihrem Bildschirm hervor. Ihre Augen sahn müde und ihre Haare gekämmt aus.
„Hast du Angst vor einem Erdbeben?“
„Nein.“
„Gar nicht?“
„Ich lebe in einem modernen Block.“
„Ist der sicher?“
„Ja. Trotzdem wird es schrecklich, wenn ein Erdbeben kommt.“
„Total“, sagte ich, nahm mir eine Zigarette und stellte mich vor die Tür. Ich ließ sie langsam in die Angeln krachen. Mihai stellte sich nach ungefähr einer Minute neben mich. Wir schwiegen, rauchten und zuckten zeitgleich zusammen, als auf einer angrenzenden Baustelle irgendwas laut auf den Boden knallte. Wir hoben unsere Schultern, blickten uns kurz an und machten weiter mit dem in die Gegend starren.
„Hast du bald Feierabend?“, fragte er mich, als er seine Zigarette grob in den Aschenbecher drückte.
„Ich arbeite immer bis 16 Uhr.“ „Ah.“
„Du?“ „Unterschiedlich.“ Vorsichtig schloss er die Terassentür hinter sich. Es war 15.30 Uhr. 30 Minuten schrieb ich noch an einem Text, fünf Minuten sortierte ich meinen Schreibtisch und meinen Rucksack und in drei Minuten stand ich an der Bushaltestelle, neben zahlreichen anderen arbeitstätigen Menschen, die müde auf die Straße blickten. Sechs Minuten Wartezeit. Ein Supermarktmitarbeiter vom Mega Image hinter mir kam mit zwei großen Müllsäcken aus dem Laden und warf sie in eine große Tonne, die neben dem Gebäude stand. Der Bus hielt zwei Minuten. Zwei Mal eine Minute, um sich in Sicherheit zu bringen. Ich schaute mir die Sekunden auf der Stoppuhr auf meinem Handy an. Sie gingen langsam voran. Ich schaute hoch und beobachtete die Menschen, die sich kreuzigten, während rechts vom Bus die Kirche ins Blickfeld kam. Zwanzig Sekunden waren dabei vergangen. Insgesamt 16 Minuten stand ich im Bus. Nach zwölf Minuten war ich in meiner Wohnung. Ich warf meinen Rucksack ins Eck, zog mich bis auf die Unterhose aus, machte alle Fenster auf, trankt drei Gläser Wasser, warf mich auf mein Klappsofa und starrte an die Decke. Sieben Minuten. „Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig“, zählte ich in meinem Kopf. Als ich zwanzig Mal „Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig“ zählte, kam mir eine Minute durchaus lange vor. Könnte ich in der Zeit aufstehen und aus meiner Wohnung rennen? Ich müsste die Tür aufreißen, acht Stockwerke hinunter und bis zur Straße rennen. Fünf Minuten stellte ich mir das vor. Ich stand auf, zog mir ein frisches Hemd und Hose an und trank noch ein Glas Wasser. Auf meinem Handy stellte ich mir einen Wecker auf sieben Minuten. Ich nahm mir ein Buch, setzte mich hin und versuchte zu lesen. Manchmal hob ich meinen Kopf, schaute durch mein Zimmer und wartete auf das Klingeln. Als ich gerade das Wort: „Flanieren“ las, klingelte mein Wecker. Ich warf das Buch in die Ecke und rannte zu meiner Haustür, riss sie auf und zog meinen Schlüssel heraus. Dieser klimperte in meiner Hosentasche bei jeder Stufe, die ich hinunterrannte. Als ich die Haustür aufriss, rammte ich fast eine alte Frau. „Scuză!“, rief ich, während ich die letzten Meter bis zur Straße hastete. Eine Minute und dreißig Sekunden hatte ich gebraucht. Wahrscheinlich war ich am Ende der ersten Minute am Ende der Treppe angelangt. Wenn das Erdbeben gekommen wäre, wäre ich hingefallen und mein Genick hätte laut geknackst. Die Passanten, Restaurantmitarbeiter und Autofahrer schauten mich alle für einen Moment an, während ich durchatmete und am Bürgersteig der Straße stand. An der Straße, der Calea Victoriei, waren überall große Wohnblocks, die sie umringten. Sie waren eindeutig moderner als meine Bruchbude, aber auch sie könnten zusammenklappen und auf mich fallen. Trotzdem hatte dieser Ort etwas Sichereres, als mein Betongefängnis. „Eine Minute schaff ich“, sagte ich meinem Spiegelbild, nachdem ich in meine Wohnung zurückgegangen war und mein nun verschwitztes Hemd ausgezogen und in die Ecke geworfen hatte. „Eine Minute“, dachte ich. Das würde ich schaffen, wäre das Frühwarnsystem bereits da.