KOLUMNE #14: ZIEGLERSTEIN ZU STAUB, DANN SAND SAND SAND #2

eine Kolumne von Stella de Cadente & M6services

V E R T I G O

Der Modus.

Der zweite Teil der neuen Kolumne. Dieses Mal: Zwei Kolumnistinnen, zwei Kolumnen: Stella de Cadente schreibt den Auftakt, M6services bezieht sich auf diesen und Maestro Karl Ziegler hat – und das mag die krasse Neuerung sein — keiner gesehen. Vom Erdboden verschluckt. M6services hat dies sehr getroffen, und das Vorkommnis aufgearbeitet. Wie stark sich die Texte aufeinander beziehen, das hing in diesem Fall von M6services ab, er hatte das letzte Wort.

Vorrede.

Das Thema „Vertigo“ wurde gewählt, weil es in der Engführung zur aktuellen Rubrik „Diskoblau“ alle zusammenbringt: Die Spiegelungen, den Schwindel, die Party, das Penthouse, den Parvenu, die Parteien, die Freunde und die Bekannten, den Schweiß, die Tanzschritte, die soziokosmischen Manöver und die harschen Abgänge. Ergänzend zum Vorwort wird die Freiheit unserer täglichen Performanzen hinterfragt, das Motto heißt: Tanzen&Schwindeln, in der Höhe, wer will mit uns hochstapeln? Sagen zwei, die ihre bürgerlichen Identitäten ins Ölfeld schmissen oder sich ihrer schämten.

VERTIGO (Stella de Cadente)

Vertigo – Schwindel, Höhenangst. Abstände, Lageverhältnisse, freier Fall, Baumeln, Kreisen. Es scheint das Springen von der Angst vor dem Fallen unmöglich gemacht. Im täglichen Tauchgang durch unsere jeweilige, mehr oder minder intensiv digitalisierte „Me-time“ begegnen wir mitunter ziemlich kniffligen Tagesthemen. Sei es im Kontext von Olympia oder irgendwelcher Weltkriege oder seien es X-Posts berühmter Persönlichkeiten, die eines von beidem kommentieren – eine Meinung zu haben muss in vielen Fällen einfach schwer fallen. Schon beim Versuch, sich in manchen Angelegenheiten einen Überblick über die ‚Sachlage‘ zu verschaffen, kann ordentlich der Schädel brummen, und wie ein Kreisel zu tanzen beginnen. Selbst langgestreckt auf der Couch kann der Weg durch das Wirrwarr verschiedener Darstellungen und Meinungen einen mittelschweren Schwindel auslösen, von dem sich zu erholen oftmals einzig dadurch möglich wird, dass man das Handy in die verdammte Ecke knallt und sich mit geschlossenen Augen und einem tiefen Schluck oder Zug noch tiefer in die Kissen zurücksinken lässt. Aber seien wir ehrlich – wer von uns kann tatsächlich von sich behaupten, sein Ziel sei es, sich einen möglichst allgemeinen, facettenreichen Überblick über die Geschehnisse in der Welt da draußen verschaffen zu wollen?

Was früher Vertigo genannt ward ist tot. Die „wahrgenommene Scheinbewegung zwischen dem Selbst und der Umwelt“, wie Wikipedia die Sache auf den Punkt bringt, ist vom starken Schwindelgefühl, das schon manchen Höhenängstigen in die Knie gezwungen, und schon manchen Angetrunkenen aus dem Kinderkarussell in den mondbeschienenen Sandkasten hat kotzen lassen zum leichten Magenziehen verkümmert, das beinahe einen jeden von uns in dem Moment ergreift, da der Hotelaufzug startet, oder der des Co-working-spaces. Im gemeinen, oftmals bespiegelten Aufzug gibt es keine, oder nur eine winzige, leicht zu übergehende „wahrgenommene Scheinbewegung“. Ich kriege Panik, wenn ich eine vierstrebige Leiter hochsteigen muss, während ich in einem Aufzug ohne großes Trara 40 Stockwerke unter mich zu bringen wüsste. Was aber sind Aufzüge? Sie sind nichts weiter als schützende Filterblasen für den Schwindelnden.

Filterblasen sind super. Sie bewahren uns vor der unmöglichen Aufgabe, uns aus eigenen Recherchen heraus eine solide Meinung zu bilden, und zwar nicht, indem sie uns die Unmöglichkeit dieser Aufgabe aufzeigen, sondern indem sie uns das Gefühl geben, wir erfüllten eben jene Aufgabe, indem wir uns den richtigen Kanälen zuwenden, und alle Kontakte, die unsere Meinung nicht bestätigen, blockieren. Das müssen nicht immer drastische und bewusste Maßnahmen sein, nein, manches passiert ganz subtil und scheinbar ohne unser eigenes Zutun, wie zum Beispiel an der galanten Art der Algorithmen in der Youtube-Suche deutlich werden kann.

Das müssen nicht immer drastische und bewusste Maßnahmen sein, nein, manches passiert ganz subtil und scheinbar ohne unser eigenes Zutun, wie zum Beispiel an der galanten Art der Algorithmen in der Youtube-Suche deutlich werden kann. Wie ist es nun mit dem Schwindel im Sinne der irrationalen Höhenangst? Wir überschätzen die eigene Höhe maßlos. Die Angst nimmt uns, allerdings auf eine ganz andere Weise als der Aufzug, ebenfalls die Fähigkeit, unseren Körper im tatsächlichen Verhältnis zu seiner Umwelt zu empfinden, und folglich, dieses Verhältnis akkurat zu beurteilen. Die vierte Strebe der Leiter wird mitunter zum Hochhausdach. Also – Filterblase oder Paranoia? Kann es sein, dass es diesertage ganz und gar unmöglich geworden ist, seine eigene, eigentliche Lage zu benennen?

Wenn wir nämlich, wieder zurück im Aufzug, die Höhe unterschätzen, und uns da oben ganz bedenkenlos viel zu weit über die Brüstung lehnen, weil der Aufzug für 40 Stock nur 4 Sekunden gebraucht hat – dann wird das bei den Umstehenden sicher einen Schrecken, und darauffolgend ärgerlichen Widerwillen auslösen. Sie werden uns womöglich aus Schreck anschreien.

Der Aufzug (im ärgsten Fall eine silberglänzende, geruchlose und dreiseitig verspiegelte Box) beraubt uns jeder Fähigkeit, unsere eigene Position, unseren Standort im Gebäude, in der Stadt, in der Atmosphäre zu ermitteln. Wir glauben, auf festem Grund zu stehen, während wir in ungeahnte Höhen schnellen. Erst an der frischen Luft der Rooftopbar, die glitzernden Dächer einer weiten Stadt überblickend, haben wir die Chance, die Höhe abzuschätzen, in der wir uns befinden. Mit etwas Pech finden wir uns da oben in einer heterogenen Zusammensetzung verschiedenster Freundes- und Bekanntenkreise wieder, bei denen uns die Zuordnung zu gewissen Meinungen über gewisse Themen mitunter schwerfällt, sodass wir, sofern wir gezwungen sind uns zu etwas Bestimmtem zu äußern, leise sprechen, uns ununterbrochen räuspern, das Gesicht abwenden, oder uns, mit etwas Geschick, zum spezialisierten Gegenfrager ausbilden. Wir haben also da oben die Chance, die Stadt zu überblicken, an die Brüstung zu treten (nicht direkt, denn sie ist durch ein Geländer geschützt) und unser Rooftop mit dem Boden, mit Bäumen und anderen Rooftops zu vergleichen, mit dem Flug der Tauben, und so weiter und so weiter. Andererseits haben wir auch die Chance, an der von Topfpalmen gesäumten Bar beim unangenehm gutgelaunten, dafür aber wenigstens überdurchschnittlich gutaussehenden Barmann einen Negroni zu bestellen, oder zwei, und nach dem dritten leicht verwirrt, alle Bekannten ignorierend, den Rückweg zum Aufzug zu suchen, jetzt, mit etwas Glück, tatsächlich schwindelnd, der „Scheinbewegung zwischen dem Selbst und der Umwelt“ endlich doch gewahr, und, mit etwas Glück, nicht nur melancholisch sondern nachdenklich die 40 Stockwerke hinab- getragen zu werden.

Tanzen und Schwindeln (M6services)

Wenn es Dir den Magen umdreht, stirbt die Party dann? Er redet davon, unsere Demokratie sei nicht organisch wie sie tut, Deutschland nicht Österreich nicht. Muss die Partei also sterben? Organe, meinst Du die inneren oder die äußeren? Meinst Du den Volkskörper oder Pressorgane an welchen so mancher Muskel hängt oder Sekretäre?, fragt der Gegenfrager all diese Gegenfragen. Die Amerikaner haben basically unsere Verfassungen geschrieben. Verfassung oder Verfasstheit, meinst Du mental oder physisch? Meinst Du das patriotisch? Die Menschen um Dich drehen sich langsam im Kreis, in der Mitte des Portikus, nachgebaut aus Holz, sitzt eine verspiegelte Kugel und reflektiert Diskoblau.

Verpixelt sind ihre Gesichter. Bis auf eines. Während es auf Dich zuläuft gehst Du Dein Wissen über Filmaufnahmen durch, wie nennt man das jetzt? Halbtotale, Halbnahe, Nahe, Großaufnahme – close-up. Ich hatte lang nichts mehr von ihm gehört, hätte ihn hier nicht erwartet. Wie soll man überhaupt mit jemandem rechnen, der nicht existiert oder nicht existieren will oder beides gleichzeitig? Du warst zwei Absätze ich, und wie ich mich fühlte, bis Karl Ziegler scharf auftrat, wie man es nur von einem Geist sagen kann.

„Sie hier?“, fragte ich betreten, und er nahm meine Hand.

„Stella de Cadente ist soeben gegangen, ist Ihnen das bewusst, Herr Verleger?“, sagte er, digniert auf seinen Gehstock gestützt.

„Wer will ihr das verübeln? Manche hier haben Angst vor Farben. Ich muss Ihnen danken: bevor Sie kamen hatten alle noch Gesichter und mit der Verpixelung muss ich sagen, dass sie jetzt nicht mehr so gleichströmig aussehen. Wer hätte gedacht, dass die Verschleierung des Offensichtlichen das Nuancierte kreiert? Mich hatte eben jemand in der Mangel, der aus seiner großen Sonntagsfrage nicht herauskam.“

„Sie reden hier oben Politik, Mister M6? Das hier sind alles Raubtiere, ich weiß nicht, ob mir das heute bekommt“, er bedeutete mir, näher an die Brüstung zu kommen, und wir schauten gemeinsam über die Stadt hinweg,

„ach, was rede ich da, die echten Raubtiere sind heute nicht zu sehen, man schickt in der Regel die Zugerichteten. Passen Sie auf, was Sie denen erzählen, die haben Reizwörter, auf die hin gebissen wird.“

Ich sah, dass ihm schwindelig war wie mir. Warum sahen wir weiter in den Abgrund?

Er fuhr fort:
„Naja, ich weiß nicht, ob Sie zugelegt haben, aber als BahnCard100-Inhaber ist man der unliebsamen Gesellschaft schnell entschwunden. Oder Sie springen“, pfiff er die Luft, die ein fallender Körper schneidet und unten abdrängt.

„Ich hoffe nur, dass der heutige Abend ihre bubble zum Platzen gebracht hat. Einen Linken werden Sie kaum finden.“

„Ich dachte immer, Vertigo hat etwas mit einer inneren Verdrehtheit zu tun, mit einer fehlerhaften Anordnung der Organe.“

„Sie sprechen in Rätseln, Herr Verleger.“

„Nein, das Thema der vierzehnten KLW, Diskoblau, und das Thema der zugehörigen Kolumne, Vertigo, Tanzen und Schwindeln, ich hatte davon anfangs andere Vorstellungen, warum schreiben Sie nicht wieder –“,

doch bevor ich einen weiteren Gedanken machen konnte, hatte er an seinen Rundhut gegriffen und die Nacht einem letzten„So long“ zugeführt.

Immer wieder seine geheimnisumwobene Gangster-Art, die er als wandelnder Klassiker pflegte. Was arbeitete er eigentlich, womit machte er sein Geld? Wie war er an eine Einladungskarte für dieses Rooftop-Event gekommen? Wo war Stella hingegangen? Weder das konnte ich fragen noch sagen, dass ich in Milano eine spannende Robert Capa-Ausstellung gesehen hatte vergangenen Sommer. Was war seine Einschätzung zur nationalen Lage? Was war seine Einschätzung zu den jüngsten literarischen Bestrebungen der Stadt Würzburg und seiner Literaturszene? Die Gesichter bekamen ihre Schärfe, die Übelkeit stieg in meinen Magen zurück, mir schwitzten Hände und Füße. Ich trat von der Brüstung weg, sah auf die Bar, auf den Ausgang, auf die Tanzfläche, blickte vom einen zum anderen. Und beschloss nichts. Gar nichts.

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M6 sagte:
„Nein, das Thema der vierzehnten KLW, Diskoblau, und das Thema der zugehörigen Kolumne, Vertigo, Tanzen und Schwindeln, ich hatte davon anfangs andere Vorstellungen, warum schreiben Sie nicht wieder –“, doch bevor er einen weiteren Gedanken machen konnte, hatte Ziegler an seinen Rundhut gegriffen und die Nacht einem letzten „So long“ zugeführt.

Auch schockiert vom Abgang des Protagonisten und dem Fehlen seines Kolumnenbeitrages? Auch fasziniert davon, wie Herr Ziegler wohl leben mag, wo er mit seiner BahnCard100 überall Halt macht? Wie er sein Geld macht? Wie er, aber auch Stella und M6, überhaupt an ihre Eintrittskarten gekommen sind?

FILL IN THE BLANKS INSTEAD OF JUST SHOOTING THEM.

Schreibe die Geschichte fort oder schreib Karl Zieglers Part, indem Du einfach loslegst, Du kannst Dich aber auch auf die Beiträge von Stella und M6 beziehen, um Dich an etwas festzuhalten, bevor es kreist. Hier hast Du schon mal ein wenig Platz, mit dem Du anfangen kannst:

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Du kannst auch einfach kritzeln, was malen, was auf Dein Handy einsprechen, was filmen (vielleicht Dich beim Gebärden?). Für die nächste Kolumne suchen wir einen Gastbeitrag zum Thema Vertigo, ob Text, ob Bild, ob Audio, ob Video.

DU TRAUST DICH? DANN HER DAMIT, AN AUTORENSEELSORGE@LITERATUR-WUERZBURG.DE