Nach einer Notiz vom 12. Juni 2018 zu Erfurt.
Auf Basis einer möglicherweise wahren Geschichte,
eine möglicherweise realistische Deutung.
Als ich erwache, fühlt es sich an, als wäre die Welt, in der ich mich befinde, eine andere, eine unbekannte. Aus dem Rauschen in meinen Ohren formen sich Töne – ein klingelndes Telefon, die schreiende Stimme eines Kindes, das tiefe Surren eines Ventilators, gleichmäßig ratternde Rollgeräusche und das orchestrale Tappeln, Klatschen und Klappern zahlreicher Schuhsohlen. Die Geräuschkulisse zieht nach und nach an mir vorüber wie eine sanfte Schlafmusik, sie verschwimmt mit den wirren Szenen, in denen ich fliege und falle und zieht mich wieder tief in die Weiten der Traumwelten. Ein frischer Wind umweht mich dort im Gleitflug, in ihn mischen sich der Duft von Seife und ein ekeliger, süßlichbeißender Geruch von Desinfektions- und Putzmittel. Die immer wärmer werdende Luft ruft in mir die Erinnerungen an die mit PVC ausgelegten Unterrichtsräume des Internates wach. Ich stehe wieder im Türrahmen des Sekretariats, mit dem gleichen gesenkten Kopf vor dem gleichen riesigen Schreibtisch. Wenn der stellvertretende Direktor einen Schüler in sein Büro rief, wurden die Fenster immer verdunkelt, so dass man – aus dem lichtdurchfluteten Gang kommend –, fast blind vor ihm stand. Schwarz ist es auch jetzt um mich, doch hat das fortwährende Gleiten und Schweben ein jähes Ende auf einer kalten, harten und feuchten Unterlage gefunden.
Dort ruhe ich nun, leicht und gedankenverloren. Im Schwarz, das mich umgibt, sind noch immer keine Konturen zu erkennen – wie damals, als man von der Sekretärin eilig am Arm durch das Vorzimmer gezogen und hinter die schwere Eichentür gestoßen wurde. Ihr Knallen ließ einen jedes Mal zusammenzucken, jedes Mal. Beim ersten Mal machte man noch den instinktiven Fehler, mit angestrengt aufgerissenen Augen im übermächtigen Zimmer etwas erkennen zu wollen – dann ließ das heiße Licht der auf die Tür gerichteten Schreibtischlampe einen fast erblinden. Damals gewöhnte ich mir wie jeder den starr nach unten gerichteten Blick an, die einzige Haltung, in der die Tortur überhaupt ein Ende finden konnte. Ich kannte damals einen Jungen, der aufzublicken versucht und sich dabei schützend die Hand vor das Gesicht gehalten hatte. Ich weiß nicht, was sich genau abgespielt hatte, doch erinnere mich noch genau, wie er den restlichen Tag nicht mehr im Unterricht auftauchte und am nächsten Morgen mit blutigen Striemen an den Handgelenken wiederkam. Wir fragten ihn, doch er sprach seit dem Tag kein Wort mehr.
Auf meiner kühlen Liege jedoch bleibt es dunkel, und so schließe ich wieder die Augen, gehe hinein in einen unruhigen Schlaf. Mehrmals trete ich aus der wirren Handlung heraus, dann wird Schwarz zu Grau, schließlich pulsierend grelles Weiß, im Gleichklang mit dem Beat der Rollen. Habe ich meine Augen offen oder geschlossen? Ist das Licht echt oder nur ein Heiligenschein? Alles um mich ist so dumpf und sanft, das zum unablässig spielenden Lautorchester hinzugekommene Piep-Pieep-Piepip komplettiert die Sinfonie dieses wirren Films eindrucksvoll. Es ist geradezu psychedelisch, ein Trip im Trip: Im Wechsel von Schwarz und Weiß, von Kühle und Hitze tauchen Bilder auf; Gemälden auf den kahlen Wänden einer Galerie gleich, fliegen sie aus dem Nichts in den Fokus der Scheinwerfer.
Da sind ein stark behaarter Arm vor grüngrauer Landschaft, ein Ufo mit einer Unterseite voller kreisrunder Scheinwerfer in einem weiten weißen Raum, hellblaue Rechtecke unter silber-schwarzen Linsen im hektischen Tanz. Wie beim Blick aus einem Zugabteil kommen die Bilder in mein Blickfeld, präsentieren sich bloß kurz und fliegen wieder dahin. Ein Beigeton dringt im Schwarz zu mir durch, erst kreisrund, dann mehr und mehr konturiert. Aus einem roten Fleck werden Lippen, aus grünen Punkten Augen, eine Nase bildet sich markant heraus, ein Haaransatz erwächst. Ich halte inne – ich kenne dieses Gesicht, ich kenne den Blick, doch kann ihn nicht entschlüsseln. Meine Hand streckt sich aus, doch es verblasst bereits, wie alle anderen Bilder auch. Angst steigt in mir auf, Wut, Kraft. Die Leichtigkeit ist mit diesem Gesicht so plötzlich verschwunden, wie es aus dem Nichts aufgetaucht ist. All der Schmerz, den ich die ganze Zeit unterdrückt habe, hämmert nun wieder durch meine Eingeweide – die Kälte und Härte meiner Ruhestätte, die Stiche in der Brust, die Krämpfe in meinen Beinen. Ein Ruck geht durch mich, ich knicke ein und schreie, halte mich überall zugleich und halte doch nichts, der Stein unter meinen Füßen öffnet sich und lässt mich wieder fallen. Schweiß tritt auf meine Stirn, meinen ganzen Körper, aus dem Schwarz wird ein grelles Weiß, ein kochendes Licht. Schwälle von Hitze und Kälte durchströmen mich, obwohl ich nichts sehe und in Traumwelten irre, verlöscht das Licht vor meinen Augen, ich rutsche in einen noch tieferen Traum, in einen neuen Fall und Aufprall.
Ich sehe den Asphalt auf mich zurasen und die Hochhausfassade an mir vorbeigleiten, in ihr spiegelt sich der graue Novemberabend. Unten stehen schon die Wagen, die ganze Kreuzung wird von ihnen verstopft. Ihre Lichter erwarten mich, doch noch sieht mich keiner, sieht niemand hinauf. Alle sind beschäftigt, überhaupt durch die gläserne Eingangshalle hineinzugelangen, bevor zu viele Dokumente und Festplatten in den Reißwölfen verschwinden. Mich brauchen Sie nicht zu holen, ich komme ihnen entgegen. Mein Wissen nehme ich mit in die Tiefe, und die Kursgraphen auch. Die Schmerzen – noch immer präsent, doch gedämpft, wie im Halbschlaf – drängen sich in den Hintergrund. Der Boden erwartet mich, denn Staub soll zum Staub zurückkehren. Den Aufschlag auf das Dach des grauen Transporters nehme ich nicht mehr wahr. Aus dem mich umgebenden Nichts komme ich langsam zurück, mein Herz schlägt noch, doch es ist auch alles was ich spüre. Ich beginne wieder zu fühlen, realisiere meine Umwelt – doch nicht wie ein normaler Mensch: Ich sehe nichts, doch merke einen Blick auf mir lasten und winde mich, bin plötzlich herausgerissen, hellwach. Ein Kichern erfüllt den Raum, und ich erblicke ein blaues Kleid am anderen Ende der Dunkelheit. Ich rufe etwas, doch höre mich selbst nicht, höre nichts – nur das wüste, schmerzhafte Kichern. Ich laufe los, will rennen, weg, nur weg. Ich laufe, doch bleibe stehen, versinke in der Dunkelheit wie in Treibsand, werde von ihr gepackt und erdrückt.
Bilder trudeln vor meinen Augen, Fotos von Champagnerflaschen und Stripperinnen. Arm in Arm tanze ich mit ihm auf dem Tisch, er trägt die gleiche Krawatte wie an dem Tag, an dem die Männer die Bürotür eintreten und mich zusammengebrochen am offenen Fenster lehnend finden. Sie ist gar nicht verschlossen gewesen, doch das hat sie nicht gekümmert. Schnee umweht uns auf dem Foto, doch er durchnässt unsere Anzüge nicht. Er lässt uns atmen und leben – und beginnt uns aufzufressen. Atem habe ich nun keinen mehr und keine Kraft. Ich verliere das Bewusstsein, mache mich zum Gehen bereit, senke den Blick wie … und blicke auf. Ein greller Schein blendet mich, ich halte mir die Hand vor mein Gesicht und blinzele. Es ist aber kein neuerlicher Scheinwerfer, es ist die Sonne vor einem blauen Himmel. Ich sitze auf einer Parkbank und kann nach und nach mehr und mehr Einzelheiten erkennen. Ein Park liegt vor mir, es ist angenehm warm und ich fühle keinen Schmerz, keine Verzweiflung, bin nur etwas müde. Ich merke, wie ich mich kneife, doch träume wirklich nicht. Ich muss eingeschlafen sein und wild geträumt haben. Als ich an mir herunterblicke, stecke ich in einem feinen Anzug und finde neben mir einen Strauß Blumen liegen. Auf der Wiese spielen Kinder, ihre Mütter sitzen in der Sonne. Auf einem Sockel aus Basalt treiben Stier und Bär ihr altbekanntes Spiel. Ich weiß wieder, wo ich bin, was ich hier will und frohlocke in Erwartung des Kommenden. Wie ich nach rechts blicke, wo hinter einer breiten Allee die Bürotürme in die Höhe ragen, sehe ich sie schon in Gedanken die Straße überqueren und auf mich zukommen. Beim Gedanken daran bekomme ich eine angenehme Gänsehaut. Ich greife in meine Sakkotasche und finde dort das Kästchen, als ich es öffne, blendet mich der Glanz der mir entgegenstrahlt. Zufrieden lächelnd stecke ich es wieder ein. Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass ich noch mindestens eine halbe Stunde habe. Ich bin wohl wirklich nur eingenickt und in dieser unbequemen Pose wilden Träumen zum Opfer gefallen.
Glücklich lehne ich mich also zurück und schließe die Augen, genieße das warme Sonnenlicht. Von der Geräuschkulisse aus bellenden Hunden, regem Feierabendverkehr und lauten wie leisen Stimmen hebt sich ein tiefes, lautes Knattern ab. Als ich die Augen öffne und auf die Fußgängerampel unweit von mir blicke, sehe ich dort einen alten, blauen Wagen stehen, im Seitenfenster erblicke ich einen noch älteren, großen und bärtigen Mann. Ich stutze, denn ich kenne diesen Mann doch. Verunsichert, doch neugierig, stehe ich auf und gehe mit immer schnelleren Schritten zu dem Wagen, ich renne förmlich, auch wenn ich nicht weiß, warum. Der Mann dreht sich zu mir um und nickt. Ich bleibe stehen, so ruckartig als wäre ich gegen eine Wand geprallt. Die Ampel schaltet auf grün und der Wagen rast mit qualmenden Reifen davon. Lange blicke ich ihm hinterher, reibe mir schließlich die Augen. Als ich – irgendwie noch völlig konfus – mich schon umdrehe, um zur Bank zurückzukehren, stoße ich mit einem Mann zusammen, der einen Stapel Papier unter seinem Arm trägt. Er lässt die Blätter fallen, sie werden vom Wind erfasst, wirbeln um mich herum wie Schneeflocken im Winter. Ein Blatt klatscht gegen meine Brust und bleibt dort am Revers hängen. Als ich es ergreife und umdrehe, lese ich meinen Namen, fett hervorgehoben. Auch ihrer steht da geschrieben, wenige Zeilen darunter, ebenfalls fett hervorgehoben. Das Dokument ist vom Notar gezeichnet, eine offizielle Urkunde. Mein Kopf sinkt wieder und in meinen Augen bilden sich Tränen. Es ist doch kein Traum gewesen. Wird das nie ein Ende nehmen? Ist alles schon zu Ende, so sehr am Ende?
Stimmen und grelle Blitze lassen mich in die gegenwärtige Form meiner Realität zurückkommen. Der Schneesturm hat sich gelegt, ich stehe im Gerichtssaal, eine breite Front aus Kameras und Mikrofonen vor mir. Ich muss den Urteilsspruch nicht hören um ihn zu kennen: Ein Freispruch erster Klasse, doch fühle ich mich wie ein abgeurteilter Kriegsverbrecher. Alles ist laut, alle Schreien. Mein Anzug ist neu und fällt faltenfrei, doch ich fühle mich wie in Altkleider gehüllt. Ich suche nach dem blauen Kleid, doch erblinde fast im Blitzlicht der nach Fleisch hungernden Paparazzi. Im Schein der Fotographen bahne ich mir von meinen Verteidigern und den Gerichtsdienern umringt einen Korridor durch die versammelten Massen. Sie versuchen mich zu greifen, wir waten förmlich durch ausgebrannte Glühbirnen und die Papiere der Journalisten. Alle Rufe und Beleidigungen verkommen wieder zu einem infernalischen Rauschen, ich schließe die Augen und beginne das Beten. ›Herr lass es enden.‹, ›Herr, lass das Klavier spielen und das alles nur einen Film sein …‹
Kaum dass ich die Worte gesprochen habe, wird es still. Die Menschen sind verschwunden und der Boden ist sauber. Er ist schwarz und voller Schlitze und Spalten. Alles liegt in Dunkelheit, nur ich stehe im Lichtkegel eines Scheinwerfers. Alleine, doch aufrecht. Ich fühle, endlich angekommen zu sein, endlich das Endlevel erreicht zu haben. Ich horche aufmerksam in die Dunkelheit, wohlwissend, was nun kommen wird. Fern und gedämpft beginnt eine Melodie zu spielen, eine Geige, ganz langsam und melancholisch, virtuos, doch zögerlich. Ich nehme allen Mut zusammen, spanne jeden Muskel an und atme kontrolliert, fest und ruhig. »Du hast mich erwartet«, kommt es leise von irgendwo aus dem schwarzen Raum hinter mir hervor. Eine Gänsehaut lässt mich erschaudern, als ich mich langsam in die Richtung der so lange so vertrauten Stimme drehe. Leise Schritte nähern sich, und schließlich tritt sie aus dem Schatten an den Rand des Lichtkegels. Ihr blaues Kleid versinkt im Dunkel, und ihre roten Haare leuchten schwach im Widerschein des Scheinwerfers. Ihr Gesicht hebt sich langsam aus dem Grau hervor, einen weiteren Schritt und sie steht ganz im Licht. Ich kann jede Wimper erkennen, sehe in diese tiefen, doch unfassbar kalten Augen. Ich versuche irgendetwas zu finden, etwas das doch schon lange vergangen ist, das schon ewig tot ist. Wenn ich die ganze Zeit auch einen erbärmlichen Eindruck gemacht haben muss, versuche ich in diesem Moment, so souverän und ungebrochen wie nur möglich zu erscheinen. Ich reiße mich förmlich zusammen, sie ernst und emotionslos anzusehen, gerade und unnahbar den Rest an Mann zu stehen, der ich noch bin. Ich gebe eine jämmerliche Figur dabei ab.
Wie gerne würde ich die wenigen Schritte auf sie zu springen, mich vor ihr hinwerfen und mich, wie ein Kind schluchzend, an ihren Rocksaum klammern. Doch dieser Zug ist bereits lange abgefahren: Nicht erst mit dem klackenden Rollen des Krankenhausbettes, nicht als der Wagen auf der Chaussee endgültig die Bodenhaftung verlor. Nicht als ich im Büro des Notars schweigend gewartet habe und auch nicht im kalten Besuchszimmer des Untersuchungsgefängnisses. Nicht als ihr Bruder aus dem 30ten Stock dem wartenden Blaulicht entgegen fiel, ich sie auf der Dachterrasse des Frankfurter Penthouses zum ersten Mal belog oder im Park vor ihr auf die Knie ging; nicht als in der City of London die Gier zum ersten Mal in meinen Augen aufblitzte und sie – das erste Mal in meinen Armen stöhnend – zum Zentrum der Welt wurde. Nein, schon als sie mir das erste Mal auf dem hell erleuchten Gang vor dem Rektorat begegnete, schon als ich vor der Pforte des Internats das letzte Mal in das bärtige Gesicht geblickt habe und den blauen Wagen habe davonfahren sehen – schon da hatte der Zug den Bahnhof verlassen. Es stand auch auf dem Fahrplan verzeichnet, und doch habe ich ewig auf meinen Zug gewartet, bis jetzt auf etwas gewartet, das nie vorgesehen war. Hätte ich mir damals die Mühe gemacht, den Bahnhofsvorsteher zu fragen. Hätte ich damals gebetet. Jetzt tue ich es, doch schmerzhaft wird mir bewusst, dass es vorbei ist. Hier endet die Geschichte, und nicht wie ich gewollt habe in ihren Armen.
Statt nach ihr greife ich unter mein Jacket und ziehe einen Revolver hervor. Ich habe so ein Ding noch nie in meinem Leben in der Hand gehabt und weiß doch nun genau damit umzugehen. Als ich sie ins Ziel nehme, hat sie schon die Pistole mit aufgeschraubtem Schalldämpfer auf mich gerichtet, die sie die ganze Zeit in ihrer Hand hielt. Wir beide stehen nun, kaum vier Meter voneinander entfernt, in einer Mischung aus Duell und Exekution. Die riesige Kanone wirkt fehlplatziert in ihrer kleinen Hand, und doch hält sie die Waffe souverän und fest auf mich gerichtet. Mit aller Kraft versuche ich, durch sie hindurchzuschauen, sie trotz dessen, wie sie hier vor mir steht, einfach zu vergessen. Schweiß steht auf meiner Stirn und meine Hand zittert stark. Ich kneife die Augen zusammen und blicke ihr noch einmal genau ins Gesicht: Da bilden ihre Lippen ihren Mund, ich habe ihn nur lachend in Erinnerung; da ist ihre Nase, ihren sanften Druck spüre ich noch auf meiner Wange; da sind ihre tiefen Augen, etwas blitzt in ihnen auf – es sind zwei kleine Tränen, schnell lösen sie sich und laufen den Mundwinkel zu. […]
ENDE I: […] Ich weiß, dass sie nicht abdrücken wird, dass sie trotz ihrer kalten Fassade, trotz allem was zwischen uns je gestanden hat, nicht den ersten Schuss abgeben soll. Es ist nicht ihre Aufgabe, es mir einfach zu machen. Ich habe die Wahl, und ich muss mich entscheiden. Die Hand, die meinen Revolver hält, zittert immer heftiger, ich meine gleich zusammenbrechen zu müssen. Sie hingegen steht ruhig und regungslos vor mir. »Ich kann das nicht«, schaffe ich nur herauszustammeln. Ihr Blick verrät kein Mitleid, er verrät überhaupt nichts. Langsam senkt sich ihr Arm, entspannt sich ihre Schulter, bis die Waffe locker an ihrer Seite darnieder hängt. »Bitte«, flehe ich. »Bitte.« Mittlerweile zittern auch meine Knie und mit meiner ruhigen Atmung und festen Haltung ist es schon lange vorbei. Die Tränen auf ihren Wangen sind inzwischen zu salzigen Rinnsalen eingetrocknet.
Ohne eine Regung zu zeigen, ohne etwas von der geraden Haltung zu verlieren, reißt sie die Waffe empor und feuert. Das Adrenalin schießt in meinen Körper, für den Bruchteil einer Sekunde übernehmen übermenschliche Kräfte die Kontrolle über mich, ich schieße, schieße die Trommel leer, ohne zu zielen, ohne hinzusehen, ohne zu fühlen. Im scharfen Gegensatz zu ihrem leisen Schuss knallt der Lärm meines Feuers in den Raum hinein, hallt von verborgenen Wänden wieder und bildet einen Dom aus erdrückendem Krach. Als ich die Augen öffne, ist der Wiederhall verklungen; nur die Geige spielt noch immer ihr Lied. Sie hat es die ganze Zeit nicht einmal unterbrochen, und ihre sanften melodischen Züge bilden nun einen zynischen Gegensatz zu dem Anblick, der sich mir bietet: Durch die letzten Schwaden Rauches sehe ich sie verkrüppelt am Boden zusammengesunken. Meine Hand, die noch immer den Revolver hält, senkt sich und lässt ihn fallen. Ich sehe ihm nach und beobachte ihn beim Fallen, höre seinen Aufschlag. Nun blicke ich wieder hinüber: Sie liegt in einer roten Lache, zur Hälfte im Licht, doch Kopf, Brust und Schultern im Schatten. Die Pistole liegt noch immer in ihrer rechten Hand, ihr blaues Kleid ist zerfetzt, an den Einschussstellen versengt und blutverschmiert. In die Schulter und den Bauch, die Brust und sogar die Hüfte habe ich sie getroffen. Ich weiß nicht, wie viele Schüsse ich überhaupt abgegeben habe, auch nicht, wie viele davon sie getroffen haben – doch nicht einmal alle zusammen schenkten ihr einen wenigstens schnellen Tod. Nicht einmal das habe ich geschafft, geht es mir durch den Kopf.
So zugerichtet liegt sie am Boden, aller Würde beraubt – doch immer noch schön. So unfassbar schön … Ein undefinierbares Glucksen dringt aus ihrer Kehle und ihre Gliedmaßen zappeln mit kleinen ruckartigen Bewegungen das restliche Leben aus ihr heraus. Ich blicke an mir herab und stelle erst mit meinen Augen fest, dass ich überhaupt verletzt bin. An meinem linken Oberarm ist der Stoff aufgerissen, ein wenig Blut tränkt ihn. Sie hat mich gestreift, hat bloß eine Schramme in mein Fleisch gekratzt, präzise auf Millimeter, und mir den Kick gegeben den ich brauchte, der mir ein Leben lang fehlte. Ich presse meine Hand in die Wunde und sacke auf die Knie zusammen. Zu Weinen vermag ich nicht, sie anzusehen noch weniger. Ich wende mich ab, will nur vergessen, nur weg, nur aufhören – einfach nur gehen können. Ein letzter Laut dringt aus ihrer Gurgel, die Geige zieht den Bogen ein letztes Mal über die Seiten, dann ist es still. Durch die geschlossenen Augen nehme ich wahr, wie der Scheinwerfer über uns verlöscht. Für den Bruchteil einer Sekunde ist der Raum absolut leer und völlig dunkel. Kein Rauschen, keine Worte oder Schritte, nichts außer meinem eigenen Atem. Kein Licht dringt zu mir durch, kein Geruch und keine Erinnerung.
Dann dringt ein Toben durch den Raum: beginnend mit vereinzelten Klatschlauten entwickelt sich schnell ein ohrenbetäubendes Cresendo aus Pfiffen, Jubelrufen und unablässigem, extatischen Klatschen. Ich öffne meine Augen und blicke nach links, über ihren Leichnahm hinweg. Kleinere Deckenstrahler beleuchten die Bühne, in ihrem Wiederschein erblicke ich zahllose Menschen, dicht nebeneinander, Reihe um Reihe. Am Ende des Parketts schließt sich die erste Empore an, ich drehe mich gänzlich und richte mich auf. Insgesamt drei Ränge erheben sich in einen nicht enden wollenden Zuschauerraum. Kein Platz ist unbesetzt, ich spielte vor ausverkauftem Haus. Ich blicke auf Männer in feinen Anzügen, auf Frauen in edlen Abendkleidern, auf Kinder und Alte, auf große und kleine Menschen. Alle applaudieren, pfeifen, rufen. Als ich vom Boden aufstand und das ganze Ausmaß zu erfassen begann, erhoben sich auch die ersten von ihren Plätzen. Nach und nach wurden es mehr, und jetzt schließlich steht der ganze Saal und applaudiert noch immer exstatisch. Blumen fliegen aus dem Publikum auf die Bühne, ich stehe noch immer alleine im Licht, wenige Schritte von ihrem toten, übel zugerichteten Leib entfernt. Sie war nicht mit dem Fall des Vorhangs wieder aufgestanden, sie liegt zerschossen, ausgeblutet und inzwischen mit Rosen bedeckt wenige Meter von mir entfernt, wie eine verbrauchte und überflüssig gewordene Requisite. So bleibt es an mir alleine, den Ruhm der Darbietung zu empfangen, meinen Blick abwechselnd auf sie und das Publikum gerichtet.
Wie ich sie so ansehe, überkommt mich der finale Schmerz. Ich schreie und heule, stoße wüste Verwünschungen aus und sacke erneut, diesmal endgültig, zusammen. Das Publikum lässt sich davon nicht irritieren, wird nur noch stärker angespornt und reflektiert mit seiner Euphorie die perverse Kulisse meines ganzen Lebens in dieser einen, letzten Szene. Sie sollen still sein, verschwinden – das ist alles was ich mir wünsche, endlich hier alleine zu sein, endlich Frieden zu haben, wenn ich ihn auch nicht verdiene. Durch meine halboffenen Augen sehe ich den Revolver neben mir liegen, in einem letzten mutigen Aufbegehren greife ich nach ihm, halte mir die Mündung unter das Kinn und drücke ab. Es klackt bloß. Ich betätige den Abzug wieder und immer wieder, doch mehr als ein leises Klacken kann ich nicht gegen die tobenden Massen aufbringen. Ich schmeiße die Waffe in Richtung der Zuschauerreihen und schreie ein letztes Mal all meinen Schmerz und meine Schuld heraus.
Während ich zusammengesunken auf der Bühne weine und mich die Kraft verlässt, höre ich die Jubelrufe nachlassen. Sie weichen einem monotonen Rauschen, einzelne entfernte Stimmen dringen aus ihm hervor, ein periodisches Piepen hebt sich deutlich ab. Ich spüre meine linke Schulter schmerzen und der Schmerz legt sich sanft betäubend und durchdringend über alle Gefühle in mir. Ich blinzele und sehe grelles Licht, das sich nach und nach in eine weiße Zimmerdecke verwandelt. Ich liege in einem Bett und meine Arme liegen locker neben mir, bedeckt mit einem sterilen Laken in einem ebenso sterilen Raum ist da nichts außer dem durchdringend regelmäßigen Piepen, dem Rauschen und Prasseln von Wind und Regen am Fenster und ab und an einer entfernten und gedämpften Stimme. Und einem blauen Fleck am linken Rand meines Blickfeldes. Ich neige meinen Kopf ein wenig zur Seite, meine Schulter und mein Hals schmerzen. Am Rande des Zimmers sitzt sie in ihrem blauen Kleid, es ist dreckig und verschmiert. Sie hat Abschürfungen an Armen und Beinen und ihren Kopf in ihre Arme gestützt. Ihre Haare sind zerzaust und Ihr Gesicht ist verweint. Vom leisen Knistern der Bettdecke aufgeschreckt hebt sie den Kopf und wendet ihn mir zu. Unsere Blicke treffen sich einen kurzen Augenblick lang, halten sich aneinander. Dann steht sie auf.
Ohne ein Wort zu sagen, springt sie auf mich zu und legt ihre Arme um mich, ihren Kopf drückt sie neben meinen auf meine Brust und eine Träne fließt über ihre Wange und trifft mich am Hals. Der Duft ihres Haares legt sich in meine Nase, aber ich nehme ihn nicht wahr. Ich sehe sie nicht an und keine Träne schafft es aus mir heraus. Ich blicke nur still nach oben, denn gegen die Schmerzen der Seele kann kein Morphium helfen. Sie ist mir so nah wie nie zuvor, und doch bin alleine. Ganz und gar alleine.
ENDE II: […] Was soll man in dieser Situation sagen, dass nicht schon offensichtlich oder obsolet ist? Sie schafft es wie immer vor mir, die passenden Worte zu finden: »Wenn du abdrücken musst, dann drück ab. Ansonsten drehe ich mich jetzt um und gehe.« Sie senkt ihre Pistole und lässt sie locker nach unten hängen. Auf dem Absatz dreht sie sich und wendet sich der Dunkelheit zu. »Es tut mir leid«, ist das Einzige, was ich schaffe herauszubringen. Ich schreie nicht, ich stammele nicht, ich sage es so lapidar wie eine Zeitansage. An der Grenze von Schatten und Licht bleibt sie bei diesen Worten stehen. Ohne sich umzuwenden sagt sie mit lauter und klarer Stimme in den weiten Raum hinein: »Das hättest du dir vorher überlegen sollen.« Ein Schuss kracht. Ohne zusammenzuzucken, ohne sich umzudrehen setzt sie ihr linkes Bein in die Nacht, die Pistole noch immer locker in der Hand hängend. Sie zieht ihr rechtes Bein nach und wird von der Dunkelheit aufgenommen, mit gleichmäßigen Schritten geht sie dahin, bis das Klappern ihrer Absätze in der Musik verschwimmt und jäh verschwindet.
Die Geige hat die ganze Zeit unbeeindruckt gespielt, erst jetzt verstummt sie. Wenige Sekunden ist es totenstill, ich blicke meine rot verschmierte Hand an und sehe dann wieder in die unbeirrbare Dunkelheit. Der Scheinwerfer blitzt kurz auf und verglimmt dann, die Dunkelheit erobert das kleine Podium das mir geblieben ist und füllt allen Raum aus. Der Boden ist kühl, und trotz seiner Härte nicht unbequem. Ich fühle nicht einmal Schmerzen, bin bloß müde, unfassbar kraftlos und schwach. Während mir die Augen zufallen und ich beginne wegzudämmern, klärt sich die Dunkelheit vor mir und gibt den Blick auf Reihen an Theatersesseln, drei Ränge und vier Logen frei. Der Zuschauerraum wird von dem durch offene Türen hereindringenden Hell der Gänge und Foyers und einer spärlichen Notbeleuchtung über den Türzargen erleuchtet.
Das Theater ist völlig leer, und keine Stimme und kein Laut sind mehr zu hören. Nur ganz am Ende des Parketts erhebt sich eine einzelne Gestalt von ihrem Sitz und geht den Gang nach rechts. Ich höre, wie sie bei den Türen anlangt, die Stufen herabzusteigen beginnt und langsam, mit einer Hand in der Tasche, auf mich zugeht. Sehen kann ich das längst nicht mehr, denn meine Augen sind bereits blind. Auch meine Ohren nehmen das wieder einsetzende langsame Piepen nur noch unterschwellig war. Es ist mehr ein Wissen und Ahnen als ein Beobachten und Fühlen: Ich weiß jetzt genau, dass die Gestalt aus den Zuschauerreihen ein Mann mit Rollkragenpullover und weißem Kittel mit einem Kulli in der Brusttasche ist, der mittlerweile neben mir steht und auf mich hinabblickt. Er kniet sich neben mir hin und dreht mich auf den Rücken. Ich weiß auch genau, dass ich nicht auf einem harten schwarzen Bühnenboden liege, sondern auf einer weichen weißen Matratze in einem ebenso weißen Raum. Ich weiß das, obwohl ich es nicht sehe oder spüre. Es ist ein Wissen ohne Existenz, ohne Materie, eine Erinnerung im leeren Raum: Ein runtergefahrener Computer mit ausgeschalteten Mikro und Lautsprecher, mit stromlosem Bildschirm. So höre ich auch nicht, dass das periodische Piepen unterdessen einem langgezogenen gleichmäßigen gewichen ist. Aber ich weiß es.