Briefe schreiben, jemand weint davon

Sie war schon einmal ausgegangen, sich den Georges Pompidou ansehen. Umgeschnallt, umgelegt waren: Bauchtasche, ein Fotoapparat, Schlinge um den Hals, der Apparat baumelte so vor der Brust; ein dünnes Langärmeliges für den Schatten im Spätsommer, um die Hüften. Er wusste nicht mehr, wann sie gesagt hatte, sie würde nun ausgehen und nicht wissen, wann sie zurückkehren würde – es sei seine letzte Chance mitzukommen.

Hölle, es war jetzt drei Uhr Nachmittag, als er aus dem Bett rollte, und warm im Hochhaus. Er schritt ans Fenster und zündete sich eine an. Seine Hände und Füße wurden schwitzig, als er aus dem 15. Stock nach unten sah, auf den kleinen Pflasterweg, der die Platte umschloss. Der abgerauchte Stummel flog.

Die Parkanlage am Ende der steigenden Straße lag im kühlen Halbschatten der untergehenden Sonne; die Kinder aus den Banlieues hatten mit dem Kicken aufgehört, würden Essen, was auf den Tisch kam und träumten von Ligue 1.

»Sieh nur, es ist ganz still. Ligue Un ist vorbei.« – »Ligue Un? Was meinst Du?«

»Möchtest Du noch Weißen?«

Sie bejahte, er half ihr nach und füllte ihren Plastikbecher. Er nahm selbst einen Schluck.

»Das Einzige, das so komisch still ist, bist Du. Du lenkst ab von irgendetwas, und es ist sicher nichts Gutes.« Er lächelte schwach.

»Mach Dir keine Sorgen – ich bin gerade einfach nicht gut drauf.« – »Nicht gut drauf? Das hier ist gerade der Ort um gut drauf zu sein«, und mit einer kleinen Pause, »ich weiß nicht, was Dir fehlt.«

»Ich auch nicht.«

Er schmierte sich eine Scheibe weißen Toasts mit Marmelade, während er den vorgestrigen Dialog rekapitulierte. Weshalb hatte sie nichts bemerkt? Wobei, das hatte sie ja, doch: weshalb hatte sie nicht tiefer gebohrt ? Und wieso ist alles so teuer in Frankreich?

Keine Hühnerbrust, dafür Obst und Gemüse; eine Packung Toast, eine Stange Weißbrot, Käse und Marmelade, einmal Wein, einmal Sangria im Tetra Pakken und eine Flasche Brause. Er nippte am Glas vom Vorabend, spülte einmal durch beide Backen, schluckte; nahm die Brause und füllte bis oben auf, trank nochmal.

Er traute sich nicht recht durch diese fremde Wohnung, stand verloren um den Tisch im Zimmer, welches sie für vier Tage angemietet hatten; blickte auf das am Boden liegende Leinlaken, in Wein getunkt. Er wusste nicht mehr, ob es beim Raufen oder beim Ficken gewesen war: jedenfalls waren sie aus dem Bett gestürzt, hatten die Nachttischlampe samt offener Weinflasche und dem als Sichtschutz gedachten Laken mit in die Tiefe des Teppichbodens genommen, der war so flauschig fluffig geraten wie Lammwiesen. Die Scherben der Lampe hatten sie ins Laken gewickelt.

Nachdem er, kurz im Badezimmer, seine Haare zu einem klebrigen, spraybetonierten, nach hinten gekämmten Klotz geformt hatte, fielen seine Augen, zurück im Wohnraum, auf seinen Brief an sie. Dann stand er im Aufzug nach unten.

»Ließ bitte diesen Brief.« – »Wo gehst Du hin?« – »Ich bin unten.«

Er saß auf der niedrigen Mauer vor der Wohnanlage, gegen das schwarze Zaungitter gelehnt. Schwarze Frauen zogen hin und her, an ihm vorbei. Sie sahen aus, als würden sie klarkommen. Wärme schlug auf. Übernächtigt schnürte es ihm das liebe Atembalg zu, es passierte hinter seinen Rippen nicht viel.

Käfer krabbelten den Gehsteig entlang, und es nahm ihn wunder – er saß so bestimmt schon eine Viertelstunde – dass das Hochhaus noch nicht implodiert war oder von einer anderen Dimension verschlungen; er wartete auf ein Beben, erntete hingegen zittrige Luft. Obschon, falls es menschenmöglich sei, Epizentren zu erzeugen, ganz aus sich heraus, sie in ihren pinken Turnschuhen am ehesten dazu fähig gewesen wäre. Sie stand vor ihm, rot ihre Augen.
»KANNST DU MIR MAL ERKLÄREN WAS DIESE SCHEISSE SOLL?!«

Er machte sich darauf gefasst, auf offener Straße geschlagen zu werden.