Ausgabe 01

  • 01/02/2019

Vorwort #1

So erblickt sie also erstmalig das Licht der Welt, starrt euch heute von jungfräulichem Weiß entgegen, windet Worte und konstruiert Geschichten und wartet brennend auf Reaktionen, Reflexionen, Interaktion. Denn was ist sie überhaupt, diese KLW, fragt ihr euch zu Recht verwundert? Nebst sprudelndem Pfirsichblütenquell im Bambushain von parfümierten Literaturpudeln zusammenfantasierte Zauberei? Wir hoffen nicht. Denn vor allem will sie nur eines sein: Plattform und Sprachrohr für all jene, die sich berufen fühlen zu pinseln und kritzeln, ungefiltert und schrankenlos zu Wort kommen lassen, wer immer da zu Wort kommen will. Und das schließt auch – oder eher vor allem – euch ein, liebe Leser. Wie bitte, eine Literaturzeitschrift in der sich nicht nur erwähnte Pudel profilieren wollen? Nein, denn es gehören schließlich stets zwei zum Käsekuchen backen. In diesem Sinne erwarten wir Berge und Meere an Briefen, scheut euch nicht und greift zum Stift, schreibt uns eure Gedanken, eure Geschichten, egal ob ihr uns liebt oder komplett Kacke findet. Aber zunächst hoffen wir hier erstmal, das ihr über den folgenden Worten bei einem Glas Wasser die Tristesse des Lebens vergessen könnt.


Der Fremde

Es ist dann doch wie Marc es mal beschrieben hatte: Wie sie kommen, wie sie aussehen, sogar die Situation ist ähnlich. Man kann fast drüber lachen. Ehrlich jetzt. Die Bahn rattert über den Platz und ich sehe sie mir an, sehe die muskelbepackten Beine meiner glatzköpfigen Jäger in Camouflage-Hosen zur Schau gestellt. Dann sehe ich an mir herunter, sehe meine Stiefel in denen ich kaum rennen kann und sehe vielleicht sogar noch ein bisschen Blut, ich bin mir nicht sicher, aber ich habe keine Angst. Allerdings doch ein bisschen. Ein bisschen schamhafte Angst vor den Schmerzen oder eher Angst davor, Angst zu haben. Von außen bin ich ruhig und ich stehe auf und ich bahne mir langsam den Weg zur Tür. Marc kam auf mich zu. Also nicht direkt, er musste sich ja einen Weg durch die Zelte bahnen. Wahrscheinlich kam er auch nicht auf mich zu, wir kannten uns ja nicht und vielleicht wäre es besser, wenn ich das heute noch sagen könnte. Ob hier jemand Lust auf eine Nah-Ost Debatte hätte, rief er über den Platz und die meisten ignorierten ihn, weil es noch früh war, festivalfrüh – die meisten mussten erstmal in der Hitze den Kater verarbeiten oder sich zu den Toiletten und Duschen aufmachen, da wollte man eben nicht mit Marc diskutieren. Ich ja auch nicht, aber dann hatte ich ihm doch zugerufen: „Ich glaube immer noch an eine Zwei Staaten-Lösung“, worauf er seine Bierdose nach mir warf. Sie nannten ihn „Bomber-Marc“ und wir hatten dann geredet und wurden Freunde. Geredet über Israel, über Antisemiten, über die RAF, den Typen am Zelteingang mit dem Shirt von der falschen Band, die das Falsche sagt und über die richtigen Bands, die das richtige sagen und natürlich Nazis. Worüber junge Menschen ebenso reden. Natürlich reden junge Menschen nicht über sowas, aber vielleicht ist das ja gerade der Punkt, dass wir zwar nicht normal sind, aber eben trotzdem da. Wir verstanden uns, also ich verstand ihn und er verstand mich und ja, wir verstanden wohl zu wenig von den Dingen um uns rum, aber sicherlich verstanden diese Dinge auch zu wenig von uns.

„Nun sag, wie hältst du es mit der Gewalt“, fragte ich. Marc wusste sofort was ich meinte und sagte mir, ich solle nicht so urteilen. Nicht so arrogant, nicht so altklug und was ich denn getan hätte, für die Demokratie und ihre Werte, ob es denn die Wahl war die ich verschlafen hatte oder der Facebook Kommentar über Frieden, den ich geteilt hatte oder die Demo, die ich vergessen hatte; solche Dinge sagte er oder so ähnlich. Irgendwann erkennt man, dass es um Menschenleben geht und da ist eine brennende Mülltonne nicht zu viel, ein Ziegelstein nicht zu viel, nein, es ist das nötige Minimum als wachrüttelnde Antwort an den Wahnsinn; solche Dinge sagte er oder so ähnlich. Über das Kämpfen sollte man nicht urteilen, wenn man nie kämpfen musste und man sollte nicht urteilen und einem Obdachlosen geht es trotzdem mies, auch wenn du ein Leben lang so tust als würdest du ihn nicht sehen und einem Obdachlosen geht es trotzdem mies, auch wenn du dir ein Leben lang einredest, dass du einer von den Guten warst. Irgendwann dann bist du wie ich und ja, ja, ja dann bist du immer nur besoffen, um das alles zu ertragen und wenn dann Steine fliegen, dann fragst du nicht mehr wieso; solche Dinge sagte er oder so ähnlich. Einen Punkt hatte er oder einen Punkt hatte er getroffen, denn ich war vorher nie aktiv und ich hatte nie geholfen, aber Gewalt war eben nicht meine Art und das ging für mich nicht klar. Ich hatte Marc noch gefragt wie das so ist, wenn man da drin ist und er redete ganz ruhig. Wenn sie kommen, dann erkennt man sie. Dann weißt du, was du machen musst. Du kannst dir ungefähr vorstellen, wie Faschos aussehen oder? Gut. Dann kommt es darauf an, wo du bist. In der Stadt? Gut. In einem Vorort? Nicht so gut. Die Nähe von Menschen ist gut, aber verlass dich nicht darauf. Letztendlich ist alles egal. Am Ende musst du rennen. So schnell du kannst.

Das hatte Eindruck bei mir gemacht, ob positiv oder negativ oder wen interessiert das, manche wie Marc reden viel Scheiße, aber das hatte Eindruck bei mir gemacht. Doch Marc mochte ich, denn er war ein herzensguter Typ und deswegen wurden wir dann Freunde und wir klauten dann noch eine Deutschlandfahne von einem Zeltplatz und das war lustig und es hat Spaß gemacht und das war ja nichts Schlimmes und sie nannten ihn „Bomber-Marc“.

Die Jahre zogen ins Land und wir in die Stadt. In den Osten, da wo noch Platz für uns war, da wo der Platz billig war, denn wir hatten keine Aussichten, wer kann sich denn auch konzentrieren, wenn doch so viel Scheiße passiert. Doch Platz fühlt sich nur eine Zeitlang wie Freiheit an, bis es auf der Grenze zu Leere balanciert. Ist nicht alles schlecht im Osten, denn auf eine verkorkste Weise hatten wir ein Zuhause gefunden; in der Szene, in lauter Musik, in Spätverkäufen und der Straße, in Podiumsdiskussionen, in Body Acceptance und Septums, in selbstgemachten Tattoos, in veganen BBQs und Adorno hat gesagt, in Gleichgesinnten, mit denen wir die Themen diskutierten, über die wir mit unseren Eltern nie geredet hatten, weil wir uns nicht trauten, weil wir Angst hatten, von den wichtigsten Menschen in unseren Leben enttäuscht zu werden. Dann kamen die Flüchtlinge und dann wurde alles anders. Vielleicht nur ein bisschen, vielleicht wurden wir nur älter oder kälter und dann wurde alles anders.

Als ich Videos von einer HOGESA-Demo im Netz sah, da musste ich raus. Ich ging raus und rauchte drei am Stück und ging immer wieder im Kreis und dachte an alles, was ich sagen möchte, aber mich hat keiner gefragt. Es gibt wohl so 7 Milliarden Menschen auf der Welt und da kann ich auch keinem einen Vorwurf machen, wenn niemand merkt, dass gerade ich zerbreche und alles in allem bin ich nur ein weiterer Ziegelstein in der Mauer. Darauf bereitet dich niemand vor, nein, die Fernseher, die uns großzogen, sagten, dass wir die beste aller Zeiten haben und die Schulen und die Kirchen und die Traditionen nährten uns mit dem Gedanken, dass die Welt gut ist, aber es ist alles nur heiße Luft, heiße, heiße Luft. Aber ich fühle mich zu jung für diese Schmerzen und das Internet hat alles intensiver gemacht und alles allgegenwärtiger, aber auch in der Realität wurden wir mit der Realität konfrontiert. Wenn du mit der Bahn zu weit aus dem Kiez fährst, wenn du nach Hause kommst, es gibt kein ruhiges Hinterland. Wenn du dich zu lange in den Kommentarspalten hin und her bewegst. Es gibt kein ruhiges Hinterland und alles hier ist so laut und vielleicht deabonnierst du lieber mal die Tagesschau. Es gibt kein ruhiges Internet und jeden Tag war ich dort und es gibt kein ruhiges Internet und ich las immer die Kommentare und ich wusste es tut mir eigentlich nicht gut, aber ich konnte nicht anders. Ich las sie und wollte sie widerlegen. Ich las sie und wollte sie überschreien und ich las sie und wollte sie schlagen, damit sie wissen, wie ich mich fühle. Ich las sie und sie brannten sich ein und da war ein Gefühl, als strömte Blut in meinen Kopf und ich glaube, dass es Wut ist und wenn Gift zu lange in dir bleibt, dann stirbst du irgendwann. Dann werden die Tage länger oder kürzer und stattdessen die Nächte oder beides oder alles ist einfach so lang und meine Gedanken flackern nur in der Dunkelheit. Irgendwann gehst du auch seltener nach Hause, irgendwann ist jedes Familienessen nur noch Strategie und mal lieber schauen was sonst noch los ist. Auch keiner meiner alten Freunde kennt mich noch und sie waren schockiert, dass an dem Tag die Autos brannten und ich war 364 Tage schockiert, dass sie nicht längst verkohlt waren und ich glaube aufzuwachen und an etwas zu glauben ist ein Fehler und wenn Gift zu lange in dir bleibt, dann stirbst du irgendwann. Damals, als wir am Markt einzogen, warfen sie bei den Linken die Scheiben ein und ein halbes Jahr später zerlegten wir unser Viertel, nur weil wir es dürfen, weil wir nehmen können, was wir gebaut haben, weil es den Lärm wert ist. 

Ein Jahr später jagten uns 250 Nazis durch dieses Viertel, jagten unsere Freunde, jagten die ausländischen Verkäufer und einen Tag darauf erzählte die Polizei der Presse irgendwas von Hooligans. Aber das eine war Material und das andere Jagd auf Menschen. Das eine war eine Mülltonne und das andere war Noah, der doch nur zur falschen Zeit am falschen Ort war. Es stimmt, was sie sagen. Da ist ein Unterschied und ich war wütend auf die, die immer sagten, Gewalt sei immer gleich. Was weißt du schon, du hast ein Hufeisen im Kopf und ich einen Baseballschläger, was weißt du schon. Marc meinte, er weiß, wer einer von denen ist, weil Noah ihn wiedererkannt hat und wo der wohnt und der hat da vieles in die Wege geleitet und wir könnten da rein. Marc weiß, dass er da nicht zu Hause ist und wir schmieren da was hin und das wäre ihm ein Denkzettel. Die ersten haben mich in der Kiez-Oase auch schon enttäuscht, aber ein paar Leute waren doch dabei und lass die anderen ihr nutzloses Plenum machen. Wir jagten unseren Schatten im Laternenlicht hinterher und rauchten viel zur Beruhigung und zogen die Sturmmasken erst im Treppenhaus auf. An der Tür fragte ich mich was ich hier mache, aber nur kurz und dann hatte Frank schon das Schloss geknackt. Wir sind eingebrochen, Neubau etwas außerhalb, kleine Bude, sporadisch, aber zugemüllt. Dann war er doch zu Hause, zwar im Bett, aber aufgewacht und er hatte eine Waffe, eine Pistole auf dem Tisch rechts vom Bett und wollte sie greifen, aber Jonas warf ihn zu Boden und ich trat zu mit meinen Stiefeln mit ihren verstärkten Sohlen. Wieder und immer wieder und Marc schnappte sich die Waffe und entfernte das Magazin, aber ich trat weiter auf ihn ein und das Blut schoss mir wieder in den Kopf und all die Worte, die ich las und wenn Gift zu lange in dir bleibt, dann stirbst du irgendwann. Marc zog mich weg. Weg von dem blutenden Mann am Boden, der sich schwach krümmte und oh Gott und mir war so heiß und ich hörte nichts und zog die Maske aus und hörte nichts und ging. Ich ging einfach raus und Marc rief mir wohl hinter her und er holte mich auf der Straße ein. Aber er war nicht wütend und er war nicht entsetzt und er war zu meinem Spiegel geworden oder ich zu seinem und es schockierte mich nicht mehr, schockiert zu sein und er meinte, ich soll nach Hause gehen und es ist nichts passiert, aber ich sollte aufpassen. Er hatte vielleicht mein Gesicht gesehen, vielleicht meinen Namen gehört und sie könnten mich finden und ich ging nach Hause und ich bin extra leise, um meine Mitbewohner nicht aufzuwecken und ich bin extra leise, weil es schon zu spät ist und ich bin extra leise, weil es keinen Gott mehr gibt. Endlich werde ich ruhiger. Endlich finde ich die Ruhe und endlich ist meine Gleichgültigkeit unendlich. Da ist so viel was brennen kann, aber nur so wenig was löschen kann. Irgendwann legte ich mich ins Bett und dann schlief ich wohl ein.

Die Bahn rattert über den Platz und ich sehe sie mir an, sehe die muskelbepackten Beine meiner glatzköpfigen Jäger in Camouflage-Hosen zur Schau gestellt. Dann sehe ich an mir herunter, sehe meine Stiefel, in denen ich kaum rennen kann und sehe vielleicht sogar noch ein bisschen Blut, ich bin mir nicht sicher, aber ich habe keine Angst. Allerdings doch ein bisschen. Ein bisschen schamhafte Angst vor den Schmerzen oder eher Angst davor, Angst zu haben. Von außen bin ich ruhig und ich stehe auf und ich bahne mir langsam den Weg zur Tür. Die Tür geht auf und ich renne los und ich weiß nicht ob das der Anfang oder das Ende ist, ob das hier so weitergeht oder ob es aufhört und ich bin zu jung für diese Schmerzen.


Ich kannte mal einen, der ist beim Lesen gestorben.
Er hatte sich gerade in Ruhe hingesetzt, die Seite heraus geblättert und in den Text gestürzt. Zeugen sagten aus, dass der unglückliche Leser im Augenblick seines Todes konzentriert mit seinen Augäpfeln die Zeilen der aufgeschlagenen Seite von links nach rechts abgewandert war.

Jedes Mal, wenn sie das Ende einer Zeile erreichten, rutschten sie eine weiter hinab. Während des Lesens, behaupten manche, habe er in regelmäßigen Abständen seine Augenlider gehoben und gesenkt. Dabei kratzte er sich ab und zu, zog die Stirn kraus, seine Atmung war ruhig und seine Gedanken allein auf die Buchstaben fokussiert. Nur manchmal ertappte er sich dabei, wie er über das nächste Essen oder dieses regelmäßige wiederkehrende Ziehen in seiner Herzregion nachdachte. Der Zeitpunkt, in dem er starb, musste aber tatsächlich einer von denen gewesen sein, der vollkommen dem Inhalt des von ihm gelesenen Textes galt. Ja er verinnerlichte den beschriebenen Vorgang in so einer akkuraten Art und Weise, dass er darin überging selbst, während des Lesens, die beschriebenen Rahmenbedingungen für den Vorgang umzusetzen, allein um ein möglichst intensives Verständnis und subjektives Nachempfinden dieser Begebenheit entwickeln zu können. Manche behaupteten später sogar, er habe als erster Leser das erreicht, wonach so viele streben, die sich diesem Vergnügen hingeben: Eine Leser-Protagonisten-Fusion. Durch seine unglaubliche Aufmerksamkeit war es ihm gelungen, Eins mit der handelnden Person des Textes zu werden. Der Moment des Todes war, als er ganz am Ende der Geschichte angekommen, den letzten Satz beendet hatte.


Die Ausrede

„Lass mich doch bitte ausreden!“, verkündete die Ausrede.
„Nur ein letztes Mal hören, was ich zu sagen habe,
dann kannst du tun, was du willst.“
Und so setzte ich mich also und hörte:
„Ich sehe nur sehr ungern zu
wie du so allerlei versuchst
Das Unwahrscheinlichste zu machen,
Die kuriosesten aller Sachen.
Daran reibst du dir die Finger wund
Und weißt doch: Stress ist ungesund.
Willst Umwelt schützen, Leben retten!
Und dich dabei noch selbst entdecken.
Sport treiben und nachhaltig leben,
Das allerhöchste Glück erstreben
Guck dich doch an, total ausgebrannt
Vor deinem wahren Ich bist du davongerannt.
Welches schwach ist und zugleich
Nichts wirklich von der Außenwelt weiß.
Doch es ist nicht zu spät um zu erkennen
Dass Gehen viel schöner ist als Rennen.
Und die Kirche auch bestens im Dorf bleiben kann,
Wo sie auch hingehört in diesem Land!
Dann fängst du an geschehen zu lassen
Du musst nicht nach den Sternen fassen.
Und findest endlich etwas Ruh’
Vom idealistischen Getuh’ …“
Wer kennt die Stimme in sich nicht? Die einen davor
bewahren will, Schmerz zu fühlen, aber auch etwas vom
Glück zu naschen.
Geben wir ihr nach? Überlassen wir ihr die Verant-
wortung oder übernehmen wir sie selbst, um möglicher
weise …

Gedichte (L. Nau)

Blicke so weit

Komm,
nimm meine Hand
Halt dich bereit
für Stillstand,
& gegen Handel mit Zeit.
Wir wollen mit dem großen Wagen fahren,
wohin lässt sich schwer sagen,
fliegen langsam-schnell durch die Musik
mit ruhigem Blick
durch leichte, lichte Leere
fallen falschrum rein
und schau’n die Welt
von oben an
dann
bist du frei von mir
ich frei von dir
denn gemeinsam einsam
reisen wir
durch das davor

und das danach

 

Urknall

ein Schornsteinfeger der sich schüttelt
verruchte Träume
und Blau in schiefen Tönen
wo fängt schwarz an
wo fängt Zeit an
und wann?

Da wo ein Fenster nur die Nacht hell macht
und Nacht durchs Fenster kriecht
da sprechen ferne Bilder
wie Vögel früh am Morgen schon
den Wahnsinn aus der überall
unsichtbare Spuren lässt
und die Maschine bunten Nebel bläst.

Da wo Verwandlung fast gelingt
und der Sandmann Sonnenbrand bekommt
da hat der Tod dir einen Witz erzählt
dann hat das Glück dir ins Gesicht gelacht
hat dich ausgelacht und du hast mitgemacht
wie Eis das in der Sonne schmilzt
über deine Finger tropft
und langsam in die Erde schwitzt.

Da wo mitten durch die Hülle
die mehr als 12 Mal Ich enthält
Wind
mit dem Ich verschwimmt
Und wo ein wunder Punkt zu Licht zu Farbe wird
wo Wolken Watte sind
wo Texte für dich sprechen
da bist du
im freien Fall
und weißt es kommt kein Aufprall

 

Zeitlos

Klebrig wenn der Verstand sich selbst interpretiert – lie-
ber in die Dunkelheit deiner Augen tauchen vorbei an
der Reflexion der Lampe
über uns
der Himmel wo wir auf Wolken laufen auf Träumen lau-
fen auf Wegen die dahin führen
wo wir losgingen und wo alles begann mit Geschich-
ten wie ferne Märchen die man am Ende längst schon
kannte
Geschichten die wie die Nacht direkt in uns hinein fallen.

So offen waren wir nie zuvor so nackt so weich im Grunde
immer schon gewesen
weich geblieben unter all den Mauersteinen
und wie die Atemluft verfliegt die Zeit auch rasend schnell
und ist doch immer da nichts wird
bleiben
es fängt nur an in Trümmern liegend
und endet nie.


Gedichte
(N. Hofmann)

daseinsberechtigung

und manchmal fuehre ich socken passend zu meiner lippenfarbe aus und manchmal halte ich mir bei flut weihwasserbecken unter mein gesicht und manchmal waerme ich mich an der flatternden tuete am gullideckel und manchmal lache ich den mond aus und manchmal starre ich in erblindete augen und manchmal tun sonnenaufgaenge so weh und und manchmal ah- me ich mit abgelaufener kondensmilch den ruf gefallener voegel nach und manchmal ernte ich haare ab und manchmal bete ich auf toiletten und manch- mal spucke ich plastikseifenspender an und manchmal tropfen mir wimpern unter mueden flurlichtern aus und manchmal zerreisst es mich innerlich und immer                                     immer muss ich daran denken dass ich hier nicht ewig bin sondern im naechsten schattenmandala ein kanonenschussfern
fern nah                                                                                                                                                                                     fuer
mich in die luefte galoppiert

jetzt:

apotheose

im damals
platzierten wir nicht worte
wir pflanzten sie aus uns heraus;
schmeckten helligkeit
waehrend es dunkel sprach

im heute
zerbricht unsere polyphonie
zu einem domestizierten wispern
unser einstiges farbkorsett
verblasst im sommer schwarz schatten

wir wachen ueber gekreuzigte reliquien /
zertretene kiemenfluegel / kniende augen
mit der anatomie einsamer haende
klopfen sie nach einem
schachbrettmuster kommender zeit ab

und begreifen nicht,
dass unser menschenkostuem sich nach innen schaelt

eteignoir

er wummert in ecken wo
sonne sich erschießt
baeumt/raekelt/deformiert er
in semikolonstaffelung reicher pupillen
in naechten die augen gebrochen.
ein geborgenes stroboskoplicht
eilt dahin bis die helle
sich heimwehkrank
scheidet, erstickt

nach vier minuten kopfschaukelung
im delta der daseinsmuedigkeit
wir erloeschen auf parkbaenken mit konturlosem gesicht


Madame Rouge

 

Da seht, dort sind die Kinder
Ohne Freude, mehr oder minder.
Seht ihr sie auf schwarzen Wolken sitzen,
Es regnen und es blitzen?
Warten auf den blauen Mond,
Der vor Unheil sie verschont.

Madame Rouge trägt gerne Rot. Sowie Mama gerne Blau. Nur ist Madame Rouge nicht meine Mama und sie mag eben rot und nicht blau. Und obwohl sie doch beide ganz unterschiedliche Menschen sind, sind sie sich doch ein wenig sehr ähnlich. So wie Biene und Hummel oder Falter und Schmetterling.

Einfach so unterschiedlich aber doch gleich. Und irgendwie, da mag ich Madame Rouge sehr, auch wenn sie manchmal gerne provoziert. So mit Essen und so. Weil Madame Rouge ist nicht meine Mama, und auch nicht meine Freundin, sondern meine Schwester. Also für mich als Kranke. Eine Krankenschwester eben.

Und jetzt, wo ich zwischen allen möglichen Krankenhäuser hin und her spaziere, da glaube ich, habe ich endlich eines gefunden, das mir zusagt. Und das Krankenhaus sieht gar nicht mal so aus wie ein Krankenhaus, eher so wie eine Herberge mit vielen erwachsenen Kindern drin, die nicht mehr wissen, wie man schaukelt und tobt und Spaß hat. Und dann sind da noch die Krankenschwestern, ganz ganz viele, und die sitzen manchmal im Stationszimmer rum und reden ganz lange über ihre Pflegekinder. Über die verlorenen Kinder, die einfach nicht essen wollen. Und jetzt bin ich wohl auch so ein Kind, auf das man gut aufpassen muss, weil es sich ansonsten irgendwo im Irrgarten des Lebens verrennt. Und irgendwie, da fühle ich mich wohl, wenn ich weiß, dass da Jemand ist, der auf mich aufpasst, dass da Jemand ist, der mich auffängt, wenn ich mal wieder irgendeinen Abgrund hinunterstürze. Weil ich glaube, es ist besser, wenn dort unten ein lieber Mensch auf einen wartet, so mit offenen Armen, als ein Seil mit einer offenen Schlinge. Denn bevor ich falle, wurde schon ein Netz gespannt.

Ich teile mich mit, manchmal. Weil Madame Rouge gesagt hat, das sei wichtig. Sehr wichtig sogar. Sonst weiß doch niemand, wie es mir doch wirklich geht. Und wie es um mich steht.

Dabei weiß ich doch, dass man reden muss in einer Therapie, dass Wunden nicht nur mit Verbänden und Fäden heilen, sondern auch mit Worten. Weil die Worte legen sich dann sanft um den Schmerz, der da grad‘ ist, und reden ihm gut zu, mit all den Buchstaben die es so gibt. Und wer versteht mehr von Buchstaben, als Worte? Wer kann seinen Aussagen mehr Ausdruck verleihen, als sie es tun? Es ist das Zusammenspiel von Buchstabe und Buchstabe und Sinn und Nachdruck, dass den Sätzen Bedeutung schenkt.

Und manche Menschen haben diese Gabe, ihren Worten so viel Wucht mitzugeben, dass sie niemals ihren Laut verlieren. Und einer dieser Menschen ist Madame Rouge. Weil oft, da sitze ich nur so da und weiß nichts mehr zu entgegnen, wenn sie ihre weisen Worte von sich gibt. Und immer, wenn sie das so macht, da bin ich so beeindruckt, und wünschte ich könnt’s auch, mit meinen Worten zaubern und laut schreien, ganz einfach – unvergessen sein. Vielleicht kann ich das ja irgendwann auch, irgendwann, wenn ich mal so richtig erwachsen bin. Wenn ich kein Blümchen mehr, sondern eine richtige Blume bin. Weil dann blume ich einfach so vor mich hin neben all meinen Blumenkollegen die dort so sind und darauf warten, dass die Sonne scheint.

 

 


Schlechte Lyrik

I.

Das Leben nimmt mich auseinander und
   setzt mich jedes Mal falsch zusammen.
Ich kann nicht mehr lügen oder rennen.
Meine Ellenbogen sind rot von den engen
   Gassen durch welche ich mich treiben
   lasse.
Meine Augen sind rot. Mein Kopf ist voll.
Alles ist gut.
Ich falle auseinander.
Alles wird gut.
Die Hoffnungslosigkeit frisst mich auf.

Alles wird so bleiben wie es ist.
Ich werde bleiben, wer ich kann.

Meine Realität ist, was ich mir einbilde.
Ich bin kein Philosoph
Kein Akademiker
Kein Genie
Kein Capitalist
Kein Kommunist
Kein Arbeiter

Kaum Mensch
Ich bin verloren, ohne je etwas gefunden
   zu haben — auf einer Suche nach dem
   nichts.

II.

Meine Augen sind schwer
Als Kind träumte ich vom Leben
Jetzt sehne ich mich nach dem Erwachen
Mein Kopf steckt in der Dunkelheit der Nacht
Das Licht zwischen meinen Wimpern soll mich in die Rea-
   lität kitzeln
Bis die Sonne mich aus den Träumen reißt, die ich in Ein-
   samkeit und Verzweiflung errichtete

Der Schmerz der Vergangenheit jagt mich
Egal wohin, wie schnell
Das unzureichende Gefühl treibt mich voran

Das Leben zieht an mir vorbei
Viel zu laut, viel zu langsam
Ein Film bei dem ich schlafe
Aber welchen ich doch schon kenne

Menschen ziehen an mir vorbei
Unberührt
Mein Kopf ist schwer
Meine Augen geschlossen

Der Traum lässt mich nicht schlafen

Erholung ist eine Erinnerung

Selbsthass ist die Ambrosia, welches ich trinke, ohne Ach-
   tung für mich

Romantik in meinen Gedanken
Ablehnung in meinen Worten
Die Angst eines verlorenen Kindes in meinem Handeln

Die Träume, die leere Metaphern meiner Umwelt sind, ha-
   ben mich an die Grenzen getrieben
Der Abgrund leuchtet


Suerte,
„Und Tschüss“ (1. Kap.)

Liebe Freunde der Literatur!
Ich darf hier also mein Buch vorstellen. Aber halt! Wer bin ich denn? Mein Name ist Frederik, aus Würzburg (eh klar, oder?) und seitdem ich vor vier Jahren eine Autobiografie geschrieben habe, darf ich mich als Autor betiteln. Schon cool. Und da ich solche großartigen Projektideen wie die KLW echt klasse finde, lasse ich mal etwas aus meinem Buch da.

Zur Autobiografie: Nachdem ich 2003 mit 17 mit einer seltenen Erkrankung diagnostiziert wurde und nach und nach immer mehr gesundheitliche Einschränkungen folgten (z. B. vollständiger Verlust des Gehörs, starke Gleichgewichtsschäden, Gesichtslähmung etc.) begann ich notgedrungen mein Leben umzugestalten, anzupassen, versuchen zu leben. Es hat eine Weile gedauert, zu akzeptieren, was ist und ich bin stolz auf das, was ich trotzdem erreicht habe, wie ich gelernt habe mit der Situation umzugehen. Ich begann aufzuschreiben … Im Buch Suerte – oder der Teufelskreis des Glücks geht es genau darum. Ich erzähle einfach von der Welt aus meiner Nische. Mit der Krankheit und ihren Auswirkungen im Hintergrund und der Axt in der Hand, damit ich zurückschlagen kann, wenn sie mal wieder zuschlägt. Hier kann das Buch bestellt werden: www.frederik-suter.editionblaes.de

Sodala. Gebucht! Wow, das fühlt sich groß an. Drei Wochen in Katalonien. Allein. Zu groß? Verlange ich zu viel von mir? Schließlich habe ich ziemliche Einschränkungen, neben der kompletten Ertaubung ist mein Gleichgewicht momentan so schlecht, dass ich im Alltag einen Rollator benutze.

Es war nicht immer so. Ich war sogar mal eine echte Sportskanone. Ich weiß noch, ich war ungefähr sieben, als der örtliche Bolzplatz für fast ein Jahrzehnt mein zweites Zuhause war. Täglich habe ich meine Fußballfreunde der Reihe nach angerufen, um zu fragen, ob sie mitspielen. Manchmal ohne Erfolg, aber das machte nichts. Ich ging einfach hin, traf neue Leute oder schoss ein bisschen aufs Tor. Um sechs Uhr würde ich heimkommen und mich bei meiner Familie beschweren über mein Pech. Wie oft hatte ich den Pfosten oder die Latte getroffen? 22 mal in 15 Minuten. „Verdammt! Echt unglaublich, oder? Alle sind gegen mich!“ Die Welt hatte sich eindeutig gegen mich verschworen!

Heute sind Krankenhäuser mein zweites Zuhause, denn mit 17 wurde bei mir eine Krankheit mit dem komischen Namen „Neurofibromatose Typ 2“ diagnostiziert.

Zuhause, an der Seite des Hauses Richtung Garten, war ein Stück Zaun aus Holz. Dort kletterte ich fast täglich rüber, um den Nachbarsjungen zu besuchen und mit ihm zu spielen, manchmal durfte ich sogar zum Essen bleiben. Er war auch fußballbegeistert, und wo es ging, kickten wir den Ball herum (weil sonst seine Mama zu Recht schimpfte, wenn im Haus gekickt wird) und lieferten uns leidenschaftliche Matches, besonders im Garten. Der Spielstand war nie wichtig. Für mich jedenfalls nicht. Der Spaß, den wir hatten, dafür umso mehr.

Seiner Mutter war aufgefallen, dass etwas mit meinem Gehör nicht stimmte. Ich merkte es auch und es nervte allmählich. Wie immer – beim örtlichen Supermarkt die Stufen runter, aus ein paar Metern Entfernung rief mein Freund mir etwas zu, das ich einfach nicht verstand und immer öfter nachfragen musste. Im Sommerurlaub in Frankreich stellte ich dann fest, dass es noch schlechter wurde. Ich zeigte meinen Eltern auch, dass ich keine gerade Linie mehr laufen konnte. Sie dachten, ich mache Spaß. Unglücklicherweise war es auch die Zeit, in der ich den Alkohol entdeckte. Wenn ich abends durch die Dunkelheit lief, dabei hin- und her schaukelte und sogar mal im Gebüsch des Campingplatzes landete, war mit dem Alkohol schnell der Schuldige ausgemacht. Schon sehr lustig damals. Stell dir meine Eltern vor: Sie sitzen am Campingtisch und schlürfen gemütlich ihren Wein, als die anderen Kinder ihren Sohnemann nach zwei Radlern heimbringen und aufgeregt vom Ausflug ins Gebüsch erzählen …

Heute, wo das Gleichgewicht noch schlechter ist, gehören Kommentare wie „sieht aus wie ein Besoffener …” schon dazu. Oft fang ich sogar selber mit solchen Witzen an. Es bringt die Leute zum Lachen, ich lach mit, nicht nur, weil das Gelächter der anderen ansteckt, sondern auch, weil ich einfach von Herzen darüber lachen muss. Das muss echt lustig aussehen! Außerdem löst es die Spannung. Manchmal ist es für mich natürlich nicht ganz so amüsant, aber an Ort und Stelle sehe ich darüber hinweg und lache mich kaputt, vor allem, wenn ich die Gesichter der Leute sehe oder mir deren Gedanken vorstelle. Lachen über mich selbst und das Bewusstsein, dass etwas mit mir nicht stimmt, hat sich als meine beste Medizin entwickelt und hilft mir, Dinge lockerer zu sehen. Mir ist es eins der wichtigsten Dinge, meinen Humor und meine Selbstironie zu erhalten. Manchmal frage ich mich sogar, ob ich zu wenig ernst bin, enden doch viele Situationen in einem Witz. Zum Beispiel, wenn meine Mutter hoffnungsvoll mit heruntergelassenem Kiefer mich ernsthaft fragt, ob ich hören kann, wenn ich anfange zu tanzen, während Musik läuft, oder wenn das Telefon klingelt und ich blitzschnell hinschaue (sie weiß nicht, dass ich auf irgendeinem Display abgelesen habe, dass da was ist), ja, dann krieg’ ich mich nicht mehr ein vor Lachen, und ich mach das bei jeder Gelegenheit. Tschuldigung, Mami!

Wenn ich über solche Dinge nicht mehr lachen kann, hey dann stimmt echt was nicht mit mir. In so einer Situation war ich auch schon, aber das ist eine andere Geschichte …

Zurück in Frankreich, nahmen wir also die Dinge nicht so ernst, ich begann sogar selbst zu glauben, es läge am Alkohol. Auf jeden Fall half es mir dabei, den Betrunkenen zu spielen. Trotzdem spürte ich, dass da was nicht stimmte. Mit meinen 16 Jahren kümmerte mich das jedoch nicht, ich war eher daran interessiert, Mädchen kennenzulernen. Aber wo passten die Probleme mit dem Hören hin? Aber wiederum nicht so wichtig – Mami mit ihren Theorien über Probleme mit der Gesundheit war schnell mit einer temporären Diagnose: Manchmal entstehen solche Klümpchen aus Ohrenschmalz. Damit gaben wir uns ungefähr ein Jahr zufrieden, solange, bis es nicht besser, sondern schlechter wurde. Wir gingen zum HNO-Arzt. Es war etwas überraschend, zu erfahren, dass in den Ohren alles in Ordnung sei. Der Hörtest jedoch zeigte tatsächlich eine Minderung des Hörvermögens. Das hieß, das Problem blieb also vorerst bestehen. „Na toll! Haust du blödes Problem schon ab!“, dachte ich mir. Also wurden wir zum CT geschickt, um dem Problem auf den Grund zu gehen. Dort sprach man mit mir im Vertrauen – ohne die Anwesenheit meiner Mutter. Ich verstand nur Fachchinesisch und der Bericht wurde an meinen Hausarzt übermittelt. Wir ließen die Dinge also erst mal ruhen und ich fuhr mit meinem Leben fort. Monate später war ich mitten in den Prüfungen für den Realschulabschluss. Mein Hausarzt sprach mich nie auf den Brief an, in dem stand, dass eine mögliche Erkrankung abgeklärt werden sollte, wenn ich mal in der Praxis war. Heute wissen wir, dass ich wertvolle Zeit verloren habe. Ohne, dass ich es ahnte, hatten die Tumore im Kopf Zeit zum Wachsen.

Damals, nichts ahnend, woher die Probleme des schlechteren Hörens kamen, war ich in der Hörprüfung in Englisch sehr erfreut darüber, als ich einen vorderen Platz neben den Lautsprechern zugewiesen bekam. Für andere war das ein Witz, denn sie wussten, dass ich mit Englisch aufgewachsen war. Scheiß doch auf die …

Ich wollte jedoch das Abitur erreichen und rechnete nach den Prüfungen damit, das nächste Schuljahr an einem Gymnasium fortzusetzen. Mit der Mittleren Reife in der Tasche ging es wieder in die Sommerferien nach England mit dem Wohnmobil und mein Zustand wurde nicht besser. Ich habe sogar erfahren, dass mein Vater mein Zelt nach leeren Flaschen durchsuchte, doch nur schmutzige Wäsche fand. Ich kann mich auch noch an ein paar unsanfte Fahrten mit dem Moped inklusive erneuter Landung im Gebüsch erinnern. Für nach dem Urlaub legten wir fest, ein CT zu machen. Und dann ging es los. Wir gingen zur Neurologie, um herauszufinden, was die Radiologen beim CT gefunden haben könnten und ließen ein noch genaueres MRT machen. Als wir erfuhren, dass Tumore die Ursache für meine Probleme waren, war meine Mutter alarmiert. Ich war es nicht so sehr. Stell dir einen 16-jährigen vor, der gerade einen richtungsweisenden Schritt in die Zukunft geht. Und die Mädchen nicht vergessen! So war das also, als wir die Diagnose erhielten. Neuro-was? Wir hatten absolut keine Ahnung und sind blind dem Rat der Ärzte gefolgt. Wie im falschen Film begann schon das mulmige Gefühl, als wir uns dem Eingang der Neurochirurgie näherten. Der einfache Satz vom anonymen Aufnahmearzt „Hm, was tun?“ riss uns aus den rasenden Gedanken und beruhigte nicht unbedingt. Schon das Wort „Tumor“ war Angst einflößend, fremd und schockierend. Tausend Fragen schossen durch den Kopf, besonders betroffen waren meine Eltern, die sich wohl ein bisschen informiert hatten. Keiner kannte dieses Neurodings … Was ist nur mit ihm los? Sogar die Ärzte wissen nicht weiter? Ratlosigkeit machte sich breit. Angst.

Heute wissen wir, mit NF2 ist es immer das Gleiche: Erst im Nachhinein weiß man es besser. Was wäre, wenn wir uns besseren Wissens nicht auf die sich oft selbst überschätzenden Herren in Weiß eingelassen hätten und direkt zum Profi gegangen wären? Wäre mein Leben heute ein ganz anderes? In den folgenden Jahren lernten wir viel mehr über diese Erkrankung. Sie ist sehr selten und Tumore wachsen im gesamten zentralen Nervensystem. Typisch dafür sind zwei Tumore auf den Hörnerven beider Seiten, was oft irgendwann zur kompletten Ertaubung, Schädigung des Gleichgewichts, der Gesichtsnerven und anderen Lähmungen führt. Also dort, wo sich die Zentrale aller Organe befindet und somit alle möglichen Funktionen des Körpers. Tumore in der Wirbelsäule und woanders können genauso gefährlich werden. Sie müssen deshalb regelmäßig kontrolliert werden, um Wachstumsveränderungen zu beobachten. Die Berücksichtigung der Symptome und Patientenbefinden und Beobachtungen des Patienten sind natürlich auch wichtig für eine Entscheidung der richtigen Therapie, meist Entfernung oder Verkleinerung des Tumors durch Operation. Da es sich um einen Gendefekt handelt, ist bislang keine Heilung möglich. In Zukunft geht da vielleicht was, aber jetzt noch nicht.

Der Weg dorthin ist noch steinig. Nur eine Handvoll Chirurgen ist kompetent genug und kennt sich mit der Erkrankung aus. Sie werden oft mit großen Herausforderungen konfrontiert, denn nicht selten wird eine Operation zwar als erfolgreich deklariert, aber der Patient erlebt Verschlimmerungen, und während des Krankheitsverlaufs mindert sich die Lebensqualität häufig. Die Symptome eines jeden einzelnen Patienten sind komplett unterschiedlich, Vergleiche also zwecklos. „Ha, an der Stelle hatte ich auch einen Tumor“, sagt oft genauso viel aus wie der Blick in eine Glaskugel. Bei jedem Patienten kann sich die Krankheit schnell, mäßig oder langsam entwickeln. Niemand kann das vorhersagen. Ohne all dies zu wissen, und mit Ärzten, die unfähig waren, uns mehr zu sagen, saßen wir also da und nahmen als größte Sorge mit, dass „die Lebenserwartung eventuell geringer ist. Mir machte das nicht viel aus, solange endlich das blöde Gehör wieder normal sein würde. Ich war mit den Gedanken sowieso woanders und es interessierte mich auch nicht sonderlich. Mich interessierte nur, dass in zwei Wochen eine Operation anstand mit einer Chance von 50:50, mein Gehör zu retten. „Wird schon werden“, dachte ich. Inzwischen bin ich realistischer geworden. Nach zwei Wochen Warten war es endlich soweit. Ich packte meine Sachen fürs Krankenhaus, die Schwestern auf der Station waren echt lieb.

Heute, nachdem eine anstehende OP inzwischen schon gang und gäbe ist, erinnert es mich jedes Mal an Urlaub, im Gepäck nur mehr Trainingsanzüge, die sind halt leicht anzuziehen. Schon bizarr, wie die Leute mit ihren Koffern und Taschen ankommen. Was allerdings fehlt, ist die Vorfreude, ein Lächeln ist selten zu sehen. Nach ein paar langweiligen Tests wurde es zunehmend ernster, aber ich bewahrte stets meine Ruhe. Am 22. September 2003 wurde ich aus dem Zimmer geschoben, rein in den OP-Saal. Dieses Datum ist für mich inzwischen fest in meinem Wesen verankert und trägt so viele Bedeutungen mit sich. Vor allem Abschied. Aber auch Neubeginn.

Es rührt mich immer wieder zu Tränen, wenn ich überlege, wie sich die Dinge seither geändert haben, insbesondere, wenn ich daran denke, was fort ist. Egal, wie ich heute damit klarkomme, der Tag teilt nun mal mein Leben in ein Vorher und Nachher. Wie hätte ich das damals ahnen können? Und jeden Tag könnte ich weinen. Aber ich bin auch stolz. Stolz darauf, woher ich gekommen bin. Darauf, wie ich entschieden habe, mein Schicksal anzunehmen, und anstatt dagegen anzukämpfen, es mit in den Kampf zu nehmen. Damals hatte ich nicht die Chance, mich zu verabschieden, da ich den Abschied nicht wahrgenommen habe. Vielleicht war es besser so. Ich nahm auch nicht wahr, wie ich aus meinem Zimmer geschoben wurde – ich hatte meine Narkose schon bekommen. Als ich aufwachte, war mein Leben auf den Kopf gestellt, aber wieder nahm ich das nicht sofort wahr …


Das Richtige tun, ist nicht, das Falsche nicht zu tun. Das Richtige zu denken, ist nicht, das Falsche nicht zu denken. Das Richtige zu denken reicht nicht. Das gedachte Richtige ist erst dann richtig, wenn es sich im richtig Getanen erwiesen hat. Es ist kein schwarz—weiß. Es ist kein richtig—falsch. Es ist primitiv. Belastend, schwer lastend sind Gedanken, sind Vorwürfe, welche ohne Kern in der Realität in der Realität bestehen. Die Hemmnis im Tun.


Was uns übrig blieb

„Ich erwache in der Muschelhilfe.“

(Ron Winkler, Karten aus Gebieten)

Ansammlung I

Jetzt bin ich offiziell obdachloser Flüchtling, dachte Anis. Das war wohl zu viel des Guten. Alles und insgesamt. Erst wurde er fast rausgeworfen wegen Rauchens im Zimmer und jetzt wegen Frauenbesuch. Dieses eine Mal. Das erste Mal seit so langer Zeit. Eigentlich hatten sie sehr gut aufgepasst. Keiner hatte etwas gesagt von den Menschen, die am Eingang saßen. Dann kam ein Brief. Es war kein böser Wille, hatten sie gestammelt am Telefon, nur deutsches Wohnheimgesetz oder so. Wer konnte das schon sagen.

Ansammlung II

Sommer. Eine große Anzahl asylsuchender Menschen zeigte sich auf dem Volksrasen. Viele sind durch Freiwillige oder Organisationen bereits in Teams organisiert, manche würden sagen, integriert. Man erkennt sie erst auf den zweiten Blick oder an der Sprache. Aber auch an unterschiedlicher Ernsthaftigkeit. Einem Spaß. Anders die Individualsportler von fernher. Sie faszinieren mich durch ihre Gesten und ihr sportliches Gehaben ungemein, hatte Ferdi einmal zu Leila gesagt. Während hiesige Sportler selbstsicher und routiniert ihr eigenes Training machen, stur zu Boden schauen, schwitzen, erkennt man Menschen von weiter weg oft durch einen umherwandernden Blick, völlig unkoordinierte Verausgabung, wilde Energie, fand Ferdi. Er spürte Verachtung gegenüber den Gesten europäischer, überbordender Selbstsicherheit, die in Fußballspielen und Actionfilmen gelehrt wurden. Alles so anstrengend. Ferdinand wurde zwar von allen liebevoll Ferdi genannt, hatte aber mit der geselligen Ameise aus der Trickfilmserie weniger Gemeinsamkeiten als ihm jeder zunächst andichtete. Auch der gemütliche Stier wollte nicht recht zu ihm passen. Ferdi fand Tier-Analogien auch schrecklich und einfach. Das Gleiche dachte er über Horden und Cliquen. Er hatte sich stets geschämt einer festen Gruppe von Menschen anzugehören, falls dies automatisch einmal passiert war. Überwiegend in seiner Jugend. Es hatte immer etwas Feiges, Ängstliches gehabt. Seit jeher, dachte Ferdi. Unflexibel waren Cliquen, sagte er. Du bist doch völlig daneben, hatte ihm eine seiner Exfreundinnen einmal dazu gegeigt. Ferdi war kein bornierter Typ. Er war wohl eher sensibel und empathisch. So hatte er Mitleid gehabt mit dem Menschen fremder Herkunft, als er ihn alleine auf dem Volksrasen sah. Mitten auf dem riesigen Rasen, einen Fußball jonglierend. Er hatte ein paar wilde Moves mit dem Ball gemacht. Spielte hier und da einen imaginierten Gegner aus. Hielt den Ball hoch. Alles völlig überzogen und hektisch, nach hiesiger Sicht, sagte Ferdi. Dabei blickte der Mensch ständig um sich. Vielleicht auf der Suche nach Beifall, dachte er. Vielleicht auch wollte er die Spieler, die eifrig in spontanen Teams auf den roten Tartanbahnen nebenan spielten, kopieren. Oder beeindrucken? Vielleicht dienen Volksrasen in seiner Heimat der Talentsichtung und er hoffte auf etwas? Solche Dinge wusste hier wirklich kein Mensch. Ferdinand erzählte Leila auch von der Begegnung mit Anis. Sehr detailliert. Überhaupt erzählte er oft von den Sommernachmittagen auf dem Rasen. Es stellte sich aber heraus, dass Leila diese Person vermutlich kannte. Anis. Man konnte es anhand einer Beschreibung, dünne Gestalt, sehr schöner breiter Mund, orangene Fußballstutzen, ein olivgrünes Trikot, in diesem Moment aber auch nicht genau sagen. Leila hatte das alles vermutlich schon mal gesehen. Als Ferdi ihn drei Wochen später wieder traf, lud er ihn ein in sein Team, den Anis. Seine Fußballkünste waren nicht schlecht. Er konnte immer wieder Leute ausspielen. Spielte nicht zu eigensinnig. Sie unterhielten sich nach dem Spiel. Er kannte Leila tatsächlich aus dem Wohnheim. Leila hatte organisatorische Funktionen und tauchte hin und wieder dort auf, machte Bürokram. Sie lachten über diesen Zufall. Andererseits ist diese Stadt aber auch nur ein kleines Kaff, hatte Ferdi gesagt. Anis verstand das Wort Kaff nicht. Eine small town war dann doch wieder etwas ganz anderes und sie nickten nur. Ferdi war wie immer sehr freundlich und aufgeschlossen. Als die Sonne unterging tauschte er sein Trikot sehr langsam gegen ein leicht ausgefranstes Ringel-T-Shirt. Anis und Ferdi verabredeten sich für die kommenden Tage auf dem Platz.

Zusammenfegen I

Kann sich ein fremder Mensch denn zuallererst über die Liebe integrieren, fragte Leila beim Abendessen. Kann man sich den Gegebenheiten hiesiger Liebe anpassen, den Umständen oder der Motivation? Die Fragen, die sie Ferdi während des Kauens eines belegten Körnerbrotes stellte, hatten es in sich. Sie hatte sie geübt. Leila hatte sie mehrmals geübt. Deshalb war es Absicht gewesen, während des Kauens. Ferdi konnte Leila manchmal nicht verstehen. Ihre Mitteilungslust war meist größer als seine. Vor allem beim Abendessen. Und Ferdi machte sich nicht besonders große Mühe, gerade weil das Begreifen nicht immer möglich war. Wie bei allen anderen auch. So wusste er keine Antwort auf diese doch recht seltsamen Fragen.

Zusammenfegen II

Immer noch Sommer, dachte Leila, als sie zum Wohnheim radelte. Es stand ihr schon nach Herbst. In Brasilien hatte gerade ein furchtbarer Rechtsaußen in der ersten Wahlrunde gewonnen. Er hasste Schwule, Demokratie und Reservate. Er wollte die Militärdiktatur. Leila hasste ihn. Leila hasste es, wenn Ferdi sich keinerlei Gedanken über so etwas machte. Du machst es dir sehr leicht, sagte sie dann immer. Das stimmt nicht, antwortete Ferdi darauf. Und tatsächlich stimmte es nicht, dass Ferdi sich nicht den Kopf über die Welt zerbrach. Es waren eben andere Dinge. Leila. Zum Beispiel. Lokalpolitik. Müllprobleme und Vegetarismus. Ferdi musste jetzt auch mehr arbeiten als Leila. Das Zimmer in der WG, in der beide wohnten, war seit Januar teurer geworden und Ferdis Bafög reichte nicht aus. So Sachen eben. Nicht ganz fair, sagte Ferdi da nur.

Die Jungs lernten nach dem Fußball sehr viel voneinander. Gingen manchmal etwas trinken. Einmal versuchten sie sogar einen Kinofilm. Nach einer Viertelstunde schon saß Anis nur noch da und grinste und stopfte sich ein Gummibärchen in den Mund. Ferdi deutete ihm überzeugend, dass es kein guter Film war und sie verließen das Kino. Sie kauften sich ein Bier und setzten sich auf die Treppen draußen. Anis erzählte viel. Manchmal etwas von Spanien. Manchmal etwas von Frauen. Ferdi hatte Anis gefragt, ob er denn glaube, dass man in anderen Ländern anders liebe. Keine Ahnung, sagte Anis.

Was Leila anging. Natürlich sprach sie Anis beim nächsten Mal an. Nach ihrer Unterhaltung. Sie bestellte Grüße von Ferdi, der keine Grüße bestellt hatte. Aber das sagte man eben so. Anis sah auch sehr gut aus, was seinen Körper und sein Gesicht betraf. Jedenfalls äußerst passabel, sagten Leilas Freundinnen. Hast du denn zu Hause auch Fußball gespielt, fragte Leila. Ja, aber nicht mehr in den letzten Monaten, sagte Anis. Und ob er denn vielleicht Lust hätte in einer Mannschaft zu spielen, Leila kannte da jemanden aus einem Team. Nein, gerade nicht. Beide lachten schon, obwohl es ja eigentlich gar keinen Grund dafür gab.

Zusammenfegen III

Anis war Ferdi ein wenig ans Herz gewachsen.
Anis war Leila ein wenig ans Herz gewachsen.
Auch Anis machte sich Sorgen. Es waren generell nicht dieselben Sorgen wie Leilas oder Ferdis. Sehr interessant, sagte Leila, wenn sie darüber sprachen. Sie konnte sich gegen eine gewisse Faszination nicht wehren und erkannte in Anis dann doch so etwas wie einen Gleichgesinnten. Vor allem abends. Oder nachts, bei einer verspäteten Tasse Tee und manchmal einer Zigarette.

Zusammenfegen IV

Immer wieder unternahmen sie etwas zu dritt. Einmal gingen sie ins Stadion, Fußball. Es kommt natürlich vor allem uns Jungs entgegen, dachte Ferdi. Wie schön, wir drei, sagte er. Aber auch Leila fand Fußball ganz gut. Anis erzählte etwas von einer bedeutenden Mannschaft bei sich zu Hause. Ein Manager — man wusste nicht was der Manager hierzulande bedeutete, es war ja kein großes Team, vielleicht ’Vorstand’ oder ’Abteilungsleiter’ — hatte sich mit dem Verkauf von Putzmitteln übernommen und den Verein finanziell mit reingezogen. Es gab nur noch die billigsten Spieler. Eine langweilige Erzählung, fand Ferdi. Leila freilich interessierte sich stark. So war das eine zeitlang. Und Ferdi musste für wenige Monate nach Bremen.

Anis kannte sich aus. Hatte sich viel umgeschaut. Eigentlich wie zu Hause. Er hatte ein nettes Mädchen kennengelernt. Sie waren mehrmals zusammen an den großen Fluss gegangen. Was für eine schöne Frau, sagte Anis zu Ferdi. Er brachte ihr mal ein kleines Buch mit Kinderversen ans Ufer worauf sie unheimlich stand. Einmal liehen sie sich eins dieser großen Tiere zum Aufpusten von einem netten Pärchen, das neben ihnen lag. Dann trieben sie damit den Fluss hinunter. Beim Zurücklaufen hielten sie ein bisschen Händchen und küssten sich am Platz. Nach einer Zigarette. Eine Woche später bekam Anis einen Brief.

Da war Ferdi schon in Bremen. Er könne ruhig, sagte Ferdi, für eine Weile in sein Zimmer ziehen. Wir suchen dir dann was Neues, meinte Leila. Es gab nicht viele Möbel und Leila half beim Umzug zusammen mit einem eher unbedeutenden Freund und einem von den Sozialdiensten. Sie mussten nur einmal fahren und Anis kochte abends für alle. Auch für die anderen in der WG. Leila verzog sich irgendwann in ihr Zimmer und versuchte, Ferdi zu erreichen. Ruf mal an, der Umzug war easy, sagte die Mailbox. Ich bin jetzt noch mit ein paar von der Arbeit auf ein Bier, telefonieren morgen, sagte Ferdi ein halbe Stunde später ins Nichts. Leila saß da schon wieder in der Küche mit Anis und den anderen.

Leila besuchte Ferdi in Bremen. Anis hatte eh Residenzpflicht, interpretierten alle. Sie waren mit Bekannten trinken. Ferdi und Leila schliefen dreimal miteinander, machten Liebe. Zu unterschiedlichen Tageszeiten. Glaubst du, das mit der Liebe kann man irgendwie umlernen, fragte Leila nach dem zweiten Mal. Ferdi wollte erst wissen, was Leila damit meinte. Die Vorstellung von dem Ganzen. Wie das sein soll, meinte Leila. Auf keinen Fall, sagte Ferdi zuerst. Nach dem umständlichen Zurechtrücken einer stark verschobenen Bettdecke aber: Eventuell, doch. Er war sich da keineswegs sicher und öffnete noch eine Flasche Rotwein mit Schraubverschluss. Überhaupt Liebe, dieses schwierige Thema.

Anis mochte Ferdi, aber Leila mochte er noch mehr. Das stand nach Leilas Rückkehr dann auch sehr bald fest. Es sprach so gesehen auch nichts dagegen. Abgesehen von einer üblichen Trennung. Wobei, eigentlich hat das ja auch seinen Reiz, fand Leila. Und die ganze Sache passe ja sehr gut zu ihr als Person. Sie stehe ihr, gestand sie sich in einer nächtlichen Stunde ein.

Und dann der Herbst. Ferdi brach ein und seine Arbeit ab. Seine Sachen holte er nur rudimentär aus der WG und zog vorübergehend zu einem Freund. Wie sowas immer passieren kann, sagte er dort. Die Kissen, die man ihm lieh, waren unbequem. Zigaretten waren wieder teurer geworden und in der dortigen WG klappten die Dienste zum Abspülen des Geschirrs keineswegs. Offenbar liebten Leila und Anis gleich. Im Sinne einer Art und Weise. Also doch die Gefühle, fragte sich Ferdi. Der Rest der sozialen Aufnahme Anis würde da sehr schnell folgen. Das fand Ferdi ein wenig gut. Er konnte ihn immer noch leiden. Trotz des kleinen Kopfkissens.

Für Leila und Anis war es eine tolle Zeit. Leicht unbequem, auch für sie. In geringen Maßen. Sie waren verliebt. Und alles andere, was dazu gehörte.

Der mittel- und arbeitslose Ferdi flog für einige Wochen irgendwo in der Stadt herum. Immer dort. Mit Freunden. Wenn Liebe kulturell gewachsen ist, braucht das jetzt auch Zeit, machte Ferdi dann mit sich ab. Vielleicht brauchen manche Sachen einfach sehr viel Zeit, und wir sind das nur nicht gewohnt, meinte er gegenüber einem Freund. Zweimal traf er Anis, dem er mit seinem Deutschkurs half. Trotz allem. Das schaffte Leila nicht, das mit der Grammatik. Für Anis ist es wohl etwas Selbstverständliches, sagte Ferdi. Konsequent, meinte er in seiner neuen WG am Tisch bei einem dritten Bier aus dem Kühlschrank. Anis bestand einen Test und Ferdi gratulierte. So war das dann. Und Anis wollte mehr.

Anis wollte eine Frau und wollte Festes. Zum Beispiel ausziehen mit Leila. Nach zwei Monaten. Er wollte es sehr. Und Leila merkte, dass sie das nicht wollte. Anis verstand nicht. Leila wollte es überhaupt nicht. Sie zog es auch nicht in Betracht. Anis hielt sich für einen einigermaßen schönen Menschen. Er würde schon noch Geld verdienen. Das war doch überall gleich gut. Es erschien ihm alles um Leila rum sehr unverständlich und Leila weinte. Wegen Anis. Wegen Ferdi schon nicht mehr.

Sie bildeten zu dieser Zeit dann ein komisches Dreieck. Sie mochten sich, aber wenig von ihnen wollte zusammenpassen. Für eine tiefe Freundschaft reicht es auch nicht mehr. Bei keinem der drei. Aber sollen wir alle drei so versickern, fragte Anis Ferdi bei einem abendlichen Treffen und einem Bier. Und einem Schnaps. Was das soll, mit dem Versickern, fragte da Ferdi. Das ist doch gar keine richtige Metapher, sagte er.

Anis blieb dabei und wollte das nicht ändern. Was bedeutet „Schnaps der Stunde“, dort drüben auf dem Schild, fragte er Ferdi. Prost, meinte der. Sie hatten bereits ein kleines Gläschen mit Klarem vor sich stehen. Ferdi und Anis stießen an.

Das ging noch ganz gut.


Zucht und
Züchtigung

Der einundsechzigjährige Landwirt Josef K. aus dem rheinischen Niederweiler wurde, bei kleinen Reparaturarbeiten an einem Stallgatter, von seinem dreijährigen Zuchtbullen Romeo so schwer verletzt, dass er noch am Unfallort verstarb. Seine Familie saß noch in der ersten Bestürzung über das endgültig und unvermittelt hereingebrochene Unglück, als ein zweites Ereignis den familiären Schmerz jäh vertiefte.

Johanna Delphine Uebergall nämlich, die sich als langjährige Vorsitzende der militanten Tierrechtsorganisation Cosmic schalom vor allem in radikalen Veganerkreisen einen Namen gemacht hatte, bejubelte dies auf Facebook als einen längst überfälligen Akt der Selbstbefreiung von Kette und Joch. „Ein dreijähriger Bulle hat nahe Köln seinen Sklavenhalter angegriffen und tödlich verletzt. Wir knien nieder vor dem Held der Freiheit. Mögen ihm viele weitere Rinder in den Aufstand der Geknechteten folgen.“

In den sozialen Netzwerken Empörung, Verstörung, wenig Verständnis. Dazu aus zuchtbullennahen Kreisen ernste Warnungen: Kein voreiliges Niederknien in Zuchtbullennähe. Niemals.

Familie K. wiederum, durch die Organisation der Bestattungsabläufe ohnehin in Mitleidenschaft gezogen, schwankte tagelang zwischen Wut und Trauer, erstattete dann aber bei der zuständigen Staatsanwaltschaft Strafanzeige wegen Beleidigung und Störung der Totenruhe.

Der Tag der Hauptverhandlung nun schien von Johanna Uebergall geradezu herbeigesehnt zu werden, so ließ sich ihr nervöses Trappeln und Hufescharren vor dem Sitzungssaal verstehen. Sie sei nicht bereit, auch nur eine Silbe ihrer Äußerungen zurückzunehmen, blökte sie schon vor Beginn der Verhandlung durch den ganzen Saal. Vom Vorsitzenden daraufhin zur Mäßigung ermahnt, schnellte die Uebergall empor wie eine Königskobra, der Richterbank entgegen, wollte schnellen, genauer gesagt, verfing sich aber mit dem Saum ihres Baumwollkleides an der Stuhlkante. Dieser kippte zur Seite, die immer noch schnellende Uebergall aber stolperte über die nun waagerecht herausstehenden Stuhlbeine und stürzte schwer auf den neben ihr bereits dösenden Gerichtsbediensteten Ottfried H., ihn gleichermaßen zu Boden stoßend. Blieb dann liegen, mit leisem Jammerton, mitten in Ottfried H.s melodiös befluchtem Wiederaufrappeln. Der mit großen, vertrauenerweckenden Schritten herbeieilende Gerichtsarzt stellte eine relativ unproblematische, aber außerordentlich schmerzhafte Torsionsverletzung des rechten Knies fest und versorgte die oberflächlichen Schienbeinabschürfungen.

Allgemeines Stimmengewirr.

Und über allem mit einem Mal der überraschend wohltönende und erstaunlich weltgewandte Bariton von Clemens K., Sohn des Bullenopfers, Agraringenieur und Naturphilosoph. Schweigsam und findlingsgleich war er bisher dagesessen, in rundköpfiger Bäuerlichkeit, schwer wie Lehmboden.

Ob er, Clemens, denn der einzige wäre, der in diesem Ereignis ein Zeichen sähe? Ein epochales Zeichen, ein emanzipatorisches Zeichen, dass das Sitzmöbel sich endlich an seine Herkunft aus starkem Holz und stolzem Stamm erinnere? Sich dieser Stuhl gegen Ausbeutung und jahrhundertelange Arschbackenknechtschaft empört habe? Und auch der Polyvinylchlorid-Fußboden! Habe der sich nicht der Uebergall geradezu aufsässig entgegengeworfen und die langen Polymerisationsketten im molekularen Freiheitsrausch zerschmettert? Seine Ketten zerrissen genau wie Romeo, der Bulle. Er, Clemens K., würde mit Freuden hier die Scheiben aufreißen, um diese Botschaft bis hinaus in die düster aus der Eifel und dem Siebengebirge herunter drängenden Kiefernwälder hinauszuschreien, die doch noch wie Leibeigene in den alten preußischen Pflanzreihen ständen. Aufbegehren sollten sie und sich auf das verhasste Menschengeschlecht stürzen, ganze Sippschaften dieses zwergenhaften Despotenpacks auszulöschen.

Er, Clemens, fürchte aber, mit seinem Aufreißen den Fenstergriffen Gewalt anzutun. Clemens schwieg, und blöde Bestürzung verlief sich um ihn her. Über das Gesicht des Vorsitzenden Richters huschte etwas, was der gleich dabei sitzenden Beisitzer entweder als Lichtreflex einer Klarsichtmappe, den Widerschein des Handydisplays oder als Vorform eines Lächelns hätte deuten können. Er sehe sich gezwungen, über Clemens K. ein Ordnungsgeld von 75 € wegen Missachtung des Gerichts zu verhängen, folge im Übrigen aber der Argumentation der Familie und verurteile Johanna Delphine Uebergall nach Aktenlage zur Zahlung von 1200 € Schmerzensgeld, ihrer unklaren Finanzsituation wegen zu 48 Tagessätzen a 25 €. Das Urteil sei rechtskräftig.


Nachwort #1

VITALITÄT VERKAUFEN: Später komme ich zu den Dingen, die man von mir, einem Nachwort, erwartet. Die Peitsche meines Setzers schlägt ruckartig links und rechts von mir ein, trifft mich also nicht; tut mir leid, Anton. Allem Trotz zum Trotz ist es der zweite Versuch. Bereits beim Ersten saß ich in einer nicht näher genannten Kneipe und imaginierte. Der Erste war ihm, meinem Setzer, zu brav, er hatte etwas mehr „in die Fresse“ erwartet.

Beiden Versuchen wohnt inne: Energie, eher Vitalität, zu verkaufen. Vitalität als Ware, welche man sein gesamtes Leben feilbietet.

SEID GEFICKT!, waren die ersten Grüße, die mir daher kamen. Fühlen Sie sich bitte so, denn ich darf wohl davon ausgehen, das Leben macht auch vor Ihnen nicht Halt. Ist das genug in die Fresse?

Sehen Sie, werte Leser*in, Energie, Vitalität, hin oder her, der Ton ist es, der Ton, die Saite, die schwingt. Ich weiß nicht, welchen ich spielen soll. KLW. Haben wir Topffrisuren? Kahle Schädel? Reden wir Ihnen gut zu? Oder schreien wir, speien Ihnen ins Gesicht? Gift, Lava, Glitter?

In meinem Kopf steht eine bürgerliche Familie. Sie wendet sich ab. Sie benutzen keine Schimpfworte – habe ich Verlustängste, bezogen auf etwaige Klientel? Angst davor mich anzubiedern? Wenn Sie gehen, gehen Sie. Wenn Sie bleiben, bleiben Sie. Wenn sie gehen, gehen sie. Wenn sie bleiben, bleiben sie.

Lassen Sie mich fragen: nach Ihrem Befinden. Weingeschwängert. Selig, bacchantisch, liegen wir uns in den Armen und ich frage, der rote Weinnebel kriecht aus meinem Maul, ob Sie es geschafft haben.

„Was?“, fragen Sie. „Bis zur letzten Zeile …?“
„Nein, nö, ach nein, Mamadovs ‚schlechte Lyrik‘ gab mir den Rest!“

Eine andere Leser*in, mustergültig: „Habe ich, bis zum Schluss, ja, geschafft. Anton Maria Mosers ‚Der Mops‘.“ Und sie fiel tot um. Leser-Nachwort-Fusion. Ein mehr als würdiger Abgang, die Kür wie man so sagt. Ich verstecke mich nicht.

V.i.S.d.BayPrG: Verantwortlicher im Sinne des Bayerischen Pressegesetzes. Was Ihnen gefiel, senden Sie es ein. Was Ihnen missfiel – wutentbrannt – kochen Sie nicht herunter und nehmen Sie auf den gereizten Magen keine Tasse Kamillentee – senden Sie es ein. Lassen Sie es regnen. Kritiken, Lob, Anregungen, Leserbriefe.

Vielleicht ist die Erwartung erfüllt?
(Mir geht jetzt auch der Platz aus.) Dank an Anna für verführerische Kekse. Dank an Luis für den Kameraverleih.

„wir erloeschen auf parkbaenken mit konturlosem gesicht“  – Nora Hofmann