Ausgabe 11

  • 25/03/2023

Vorwort #11 – Torfmoosstil

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Wenn ich nun anfange von unbegrenztem Wachstum zu sprechen, dann endet dieses Vorwort – ich versichere – in keiner zu kurz geratenen Kapitalismuskritik, die uns ohnehin nur mit einem Fingerzeig in Richtung unzufriedenstellender, wenig erbaulicher, utopischer Alternativen diese Ausgabe beginnen lassen würde.

Die Kollektive Literaturzeitschrift Würzburg wächst potenziell unbegrenzt. Lassen wir uns von potenziell nicht aufhalten, wobei an dessen Stelle auch scheinbar stehen könnte. Seit der Jubiläumsausgabe #10 im Sommer 2022 hat der KLW e.V. eine Junge Lesebühne erfolgreich etabliert, ein Vereinsheim mit Büro, Saal und Schenke bezogen sowie eine Lesereise durch Deutschland und Österreich geplant. Man könnte meinen, ein gewisser Professionalisierungsgrad sei damit erreicht und man sei so herausgewachsen aus seiner Basis und schließe gewisse Unsicherheiten für immer ab. Statt aber mit der Gewissheit zu schreiben, dass regionale Zusammenarbeiten zunehmender Größenordnung der nächste logische Schritt seien, beherrscht das Milieu des Niemals-ehrlichen-Nährbodens. Dem Außenstehenden entziehen sich Verflechtungen im Kunst- und Kulturbetrieb Würzburgs, die grundsätzlich einem solidarischen Literaturbetrieb im Wege stehen.

Am Ende der Würzburger Sanderstraße finden sich zwei Barlokalitäten, die unterschiedlicher nicht aussehen könnten. Geschmackloses grün und piefiges Modern sich direkt gegenüberstehend, wer würde da daran denken, dass es aus einer Hand, aus einer Art geschaffen ist. Die Zusammenhänge in der Kunst- und Kulturpolitik Würzburgs sind nicht anders als in der Gastronomie. Und so sind es auch die Zusammenhänge der Geldflüsse oder die Chancen auf diese. Ein also sehr wohl gut gemeinter Rat von meiner Seite, erschaffe dein eigenes Imperium, nenne es Literaturmetropole, denke nicht in Häusern und wünsche viel Spaß und Freude mit einer gelungenen Ausgabe.

Die Kollektive Literaturzeitschrift Würzburg wächst unabhängig mit euch Lesern und Leserinnen.

Florian Bötsch, Literarischer Vorsitz

KLW e.V. – gemeinnützig und unabhängig für Literatur und Kultur in Franken und Würzburg


1 krähe

zerzaust sieht sie aus
sammelt die pommes ein
warum ist sie zerzaust
denke ich
zu viele pommes gegessen?
das ist schlecht für die federn!
ich sollte sie beraten
ich sollte ihr tipps geben
was sie essen soll & was lieber nicht.
lacht sie mich aus?
sie lacht mich aus!
geländer
sie hüpft auf das geländer
& späht, was es noch so gibt.


Der Raum ist von ooooben bis unten mit EQUIPMENT vollgestellt: Der Vox-Verstärker, 30 Watt, Vollröhre, schwarz, da auf dem Tisch. Daneben die Lavalampe, mattgrau, blubbert. Das Yamaha PSS-A50 ist mit Klinke am Vox angestöpselt, soll man laut Lehrbuch eigentlich nicht machen, aber der Kompressor vom Vox klingt ehrlich gesagt zu gut, um wahr zu sein. Das Tone-Work Effektgerät muss fürs erste unbestromt bleiben, bis Darius ein neues Netzteil vom Saturn klaut. Die E-Gitarre klingt auch so einfach mal irresistible. So holzig jazzy schwebend süß. Zwei Mikrophons, ein Starzz-Allround und eines dieser Zoom-Exemplare, die einem in den 2010ern von thomann.de hinterhergeschmissen wurden. Das Starzz hängt im Stativ, auf Lippenhöhe, das Zoom liegt in einer Kaffeetasse auf der Küchenzeile. Drumcomputer gibts hier logischerweise auch. Zwo Stück. Ein Pocket-Operator K.O., das da nackt auf dem Kommödchen in der Sonne schmort, mit einem Dreikommafünf Millimeter am Vox, dann noch ein Korg Volca. Der Korg ist nicht angeschlossen und sequenziert da so still vor sich hin. Ist echt enigmatisch, dem Korg beim Blinken zuzusehen, ohne dass Sound rauskommt, man kann nur draufgucken und sich zusammenreimen, was da rauskommen würde, wenn der Korg angeschlossen wäre, dann könnte man sich den delikaten Beat einfach mal reinziehen, aber nö, geht nicht, die Konnektivität ist auf Krise, der Korg trommelt da so still und allein in sich rein, und was mildly interesting ist: Kein Philosoph kann widerlegen, ob der Drumcomputer in den Hinterzimmern seiner Platinen gerade das vierte Reich vorbereitet. Das hat Darius mal so in den Raum gestellt. Er meinte mal, es wäre theoretisch möglich, dass die Elektronen und Schaltkreise im Inneren eines Drumcomputers sich zufälligerweise zu einer Entität anordnen, die der subatomaren Struktur von Adolf Hitler ähnelt. Er meinte auch mal, die ultimative Einstiegsdroge ist Musik. Deshalb hat die Diktatur des Drumcomputers auch leichtes Spiel: Weil Leute, für die Musik ein Thema ist, grundsätzlich latent drauf sind.

Wenn Darius sich mal die Mühe machen würde, an das Fenster seines Zimmers/Tonstudios so etwas wie Vorhänge zu montieren, würde die Sonne hier auch nicht so ungefiltert reinknallen. Ihn stört das nicht. Nicht, wenn er im Flow ist, so wie jetzt gerade. Er nimmt sich alle möglichen Gerätschaften vor, seine Guitar, seinen Pocket-Operator, sein PSS-A50, seine Mics. Er produziert Musik, man hört es, man sieht es, und das, was man hört, und was man sieht, scheint, sich für die gefühlten 40 Grad im Zimmer nicht die Bohne zu interessieren.

Es geht um die VIBES. Die VIBES müssen gesynced werden. Seit Darius von Frida einen Crashkurs in atmosphärische Klangproduktion bekommen hat, geht es ihm nur noch um die VIBES. Kannst du jetzt ohne Scheiß mal das Bad putzen? Und den Müll rausbringen? Mann Mann Mann Mann Mann, wie lange muss man denn hier rumturnen, bis was passiert? Ich stehe hier schon seit vier fucking Monaten in der Ecke dieses Zimmers oder Tonstudios oder whatever und muss mir diese Tretmühle angucken. Jeden Tag dudelt er da rum! Jeden Tag! Wann kann ich mich endlich mal aufs Ohr hauen? Ich bin müde, Brother, ich möchte mich endlich im Weltgeist auflösen, aber du und deine Künstlerkarriere, ihr haltet mich gefangen.

Darius meinte, man kann die Preissegmente seines EQUIPMENTs als Stilmittel benutzen, um auf die sozialen Umstände seiner Lebenssituation hinzuweisen. Die Herstellerinnen von EQUIPMENT wissen das, meinte Darius, deshalb wollen die ihre Produkte auch immer billiger machen.

Aufnahmestopp. Darius muted alle Instrumente. Er legt seine Hände auf die Laptoptastatur und drückt auf Play, hört sich seine Gitarrenspur an. Ich würde sagen, so, wie er nickt, ist er happy.

Was du brauchst, sind Audiointerfaces → Audiointerfaces → Audiointerfaces. Nur 170 Euro Anschaffungskosten für ein Audiointerface. Nur 170 Euro! Du wirst doch wohl 170 Euro entbehren können, oder, Darius?

Tja, wie soll ich sagen: Er hat einen Fetisch auf subversive Garagenvibes, mit all ihren finanziellen Shortcomings inklusive. Praktisch gesehen produziert er einfach nur Musik, aber theoretisch gesehen geht es dabei auch um das Bilden von Gegenkulturen als metaphorisches Koten auf die Schreibtische irgendwelcher Plattenbosse. Warum müssen Künstler immer so heroisch sein? Würden die alle mal ihre Don Quijote-Komplexe abstellen, würden unsere Badezimmer auch wieder glänzen.

Darius, wie er da hochkonzentriert am Arrangieren ist … Das wird jetzt stundenlang so weitergehen. Stundenlang wird er zwischen Gitarre, Pocket-Operator und PSS-A50 trigonometrisch durchiterieren. Das fensterförmige Rechteck wird über den Boden kriechen, die Tischbeine hoch, entlang der Tastatur, einmal quer über das Face von Darius, der sowas von absackt in seinem Flow, dass er gar nicht mitkriegt, wie der ganze Spätnachmittag einfach so um ihn herumpassiert. Ich bleibe hier stehen. Mache seit vier fucking Monaten ja eh nix anderes. Meine Arbeit macht echt keinen Spaß, aber irgendwer muss dem Darius ja sein Gewissen verderben. Übrigens steht heute Abend zur Abwechslung mal Entertainment auf dem Plan: Heute Abend wird Darius einen Stromschlag vom Vox verpasst kriegen, er wird durchdrehen, und er wird alles, was auf dem Schreibtisch liegt — Laptop, Lavalampe, Gitarrenverstärker, Drumcomputer — quer durch den Raum schleudern, bis sein gesamtes EQUIPMENT vollständig und irreversibel Schrott sein wird.


Abgeordnet ohne Sinn
Transzendent – auch transzendental
Geborgen und kaum verhandelbar
So stehst du da und gestern wars ja noch anders

Unnahbar und mir trotzdem ganz fern
Wanderlustig wurde er gestern gewogen
Gesprächsfetzen liegen jäh im Raum
Und Niemand – ja niemand hebt sie je auf

Es geht uns ums Wollen
Ihm geht es ums Sollen
Wir stecken fest – kommen hier nicht weg
Er geht, erkrankt und fällt vornüber um

Man soll sich nicht fühlen
Gefügt werden Rohre
Ein Wintergedicht macht im Sommer kaum Sinn
Aber Joy Division geht immer

Man stehe da und schaue hinab
Auf Mariah Carreys Grab
Und wenn sie denn stribt
Dann soll man sich hüten

Gestorben wird immer
Und vielleicht nicht mehr lange
Er droht zu krepieren
Doch man sieht’s ihm nicht an


Angstartenvielfalt

Meine Angst ist Löschpapier,
es will mich rein behalten, frisst doch die Spuren ganz;
mein Bezeichnen verschwindet,
ich bleibe unbeschrieben, konturlos
verschwinden Lebensentwürfe,
es bleibt Re-
kapitulation.

Die Angst ist Weichzeichner, behält
übertriebene Härte – es fehlen Schiedsrichter,
ich kann rote Karten im Nebel nicht sehen;
einsam bin ich, wenn ich durch Wasserdampf wandere,
mit mir, in Gedanken nur Hesse und ich
frage ihn, was ihn von der Welt trennt.
In mir ist ein Zoo, der Angstarten-Vielfalt,
Angstaffen: ihr Brüllen, verstörend
auch der Hyänenschrei;
Ich bin: Wärterin, über mir kreisen Geier,
ich füttere meine Angst
-Arten, suche Schutz
bei den Zebras, weil mich ihre
Kontur hält.

Ich stehe dazwischen, werde selbst Streifenkörper, bin
schwarz oder weiß: ein Sträfling,
unschuldig, lebenslang
suche ich nach Orten in einem Dazwischen,
Ausweichstellen, wenn die Angst
mir die Weichen stellt.


Balken & Waage

Vater wacht
über das Verlies meiner Gedanken.
Zweimal am Tag
klirrt er mit den Schlüsseln.

Abends rasiert er
Phantasie
mit der Klinge.

Gestern band ich die Kettensäge
an die Wand meines Zimmers.
Morgen falle ich in dem Alten
wieder zur Last.

– – –
Kontrafaktur zu Sigune Schnabels Gedicht Kindertage


Bewegungen, Räume

Neue Wohnung 1

Reib die Fasern, rau noch, am Schrank,
am grünen, braunen Wandbehang, am Sinn
dieser kleinen Pusteln zweifelnd, so entzweckt,
ziellos einfach so in den Raum gereckt,
plusternd die Brauen (Augenränder, befiedert kaum);
jedenfalls: die grünen Augen unter braunen Haaren sehen
wie schön die verriebenen Tapetenkrümel fliegen,
wenn du pustest … atmest …; und
jedenfalls beim Umziehen rücken wir jedes Mal
vor die zerschundnen Simse alle Möbel, alles schmiegt sich,
muss sich fügen, alle Tapeten schmirgeln wir aalglatt bis
sie keinen Widerstand mehr bieten unsren Augen, kratz kratz.
Und kleine Kugeln säumen unsre Böden und die scharfen Ecken
unsrer Möbel, wir haben sie extra so eckig bestellt, wir
ziehen mit ihnen einmal jede Wand entlang, wir
schleifen Tapeten, die grünen und braunen Fasern an/ab, und
all unsre Möbel haben sich endlich um uns gehüllt und
an unsren Tapeten endet die Welt.

Neue Wohnung 2

Im Bett, im Schlaf naht dann ein Gefühl, und
ich schweig und ich klag nicht so viel, aber
richtig daheim bin ich nie, und oh, ich frag mich,
ob so richtig daheim noch die alte Küchenuhr tickt;
siehst du die Nacht um Dunkelheit ringen,
von den letzten und ersten Karren befleckt,
sag, hörst du die schwarzen Straßen singen,
hörst du, wie manchmal die Krähen verstummen?

Alte Wohnung 1

Versinken in den Spiegelflächen
ausgehängter Türen, ihren kühlen Lack ziehend
am Boden, wo Stoffe liegen, Baustoff: gelb,
Dämmstoff: lachspastell, vom Sprechen der Hall
im Haus, die Wechsel im Hintergrund verklingend und
ertrinkend in den Brachen und zu dünnen Laken
und dem Papier, darin trotzdem die Gläser klirren,
bruchblütig ihre Nähte und seiden ihr Appell,
von Seife rosenduftend, schon völlig deplatziert.
Wo die Glasnaht pocht, am Boden Staub,
auf Spiegeln Partikel in rosa und gelb und
ich kann mich in allen Türflächen wechselfühlen
und vor ihnen fliehen sehen in diese Distanzen,
ich platze wie Lack, platze einfach ab.

Alte Wohnung 2

Einzelne Bewegungen wie die von kleinen Tieren im Wald
dissoziieren durch Nicht-Ort, Nicht-Raum; fällt
ins leh-leere Herz, bin sehntrunken, -süchtig,
alle Lichter grau; diese Insekten, sogenannten,
diese elend kleinen Nicht-Tiere, diese Funde hier sind
alles Steine, sind alle meiner stämmig, kantig, aschen oder Eis,
alte Wohnung im leh-fahlen ledernen Herz. Sag,
hörst du die Küchenuhr, wie noch ich nur, pochen hin-wo?, hin-aus.


Die Verteilung des Glücks

Du drückst das Gesicht in das Kopfkissen und heulst. Du hast die Nachprüfung nicht geschafft und musst das erste Jahr wiederholen. Ich sitze neben dir und streichle dir über den Rücken.
„Ich wäre gerne wie Katrin“, sagst du. „Ihr gelingt immer alles, ohne dass sie sich dafür anstrengen muss. Das ist unfair.“
Ich nicke. Es ist kein Geheimnis, dass das Glück in unserer Familie ungleich verteilt ist. Während du dich mit Mathe, Pickeln und den dummen Sprüchen deiner Mitschüler quälst, schreibt Katrin gute Noten, sieht gut aus und ist beliebt. Sie hat ein lautes, heiteres Lachen und ist umgeben von Menschen, die genauso lachen. Wenn man Katrin sieht, hat man das Gefühl, leben ist einfach, glücklich sein etwas, das jeder auf die Reihe kriegen sollte.
Ich beneide sie, weil sie nichts zu bedrücken scheint.

*

Unsere Mutter hält Katrin die Zigaretten vors Gesicht.
„Du bist erst vierzehn! Versprich mir, dass du das nie wieder machst!“, brüllt sie. Katrin schaut schuldbewusst zu Boden. Mutter dreht sich zu uns.
„Und ihr, ihr fangt erst gar nicht damit an!“
„Versprochen“, sagen wir im Einklang.
Wir gehen in Katrins Zimmer. Sobald die Tür zu ist, zündet sie sich eine neue Zigarette an. Sie schwört uns, dass sie damit nie aufhören wird. Sie liebt Camel Blue. Schon als Kind fand sie die Verpackung toll, wegen der blauen Farbe und des Kamels. Du nimmst ihr die Packung aus der Hand und liest ihr die Warnhinweise vor.
Rauchen verursacht 9 von 10 Lungenkarzinomen. Raucher sterben früher.
„Hast du nicht Angst?“, fragst du.
„Wovor?“
„Dass du auch Krebs bekommst.“ Sie schüttelt den Kopf.
„Daran denk ich nicht.“

Wir sitzen auf deinem Bett und schauen aus dem Fenster. Es dämmert. Wir sehen, wie Katrin das Haus verlässt und sich eine Zigarette anzündet. Sie ist die Erstgeborene und das unangefochtene Lieblingskind unserer Mutter. Sie verzeiht Katrin alles, auch dass sie sie immer wieder beim Rauchen erwischt.
„Es wäre schön, wenn wir noch einen Vater hätten, der könnte dann dich oder mich bevorzugen“, sage ich. Du seufzt.
„Weißt du noch, wie er war?“
Du schweigst. Dann: „Schwer zu sagen. Er war damals schon viel im Krankenhaus.“
Du warst fünf, als er starb, ich vier, Katrin sieben. Sie müsste bestimmt die ein oder andere brauchbare Erinnerung an ihn haben, doch ich traue mich nicht, sie zu fragen.
Sie spricht nie über ihn.
Würde ich sie fragen, ob sie sich an ihn erinnern kann, bevor er krank wurde, würde sie vermutlich mit den Schultern zucken und sagen: „Was bringt das schon?“

*

Katrin sitzt mit großen Augenringen beim Frühstück. Ihre Haare riechen stark nach Rauch. Es wundert mich, dass unsere Mutter nichts dazu sagt.
Ich flüstere ihr zu: „Du stinkst.“ Sie gibt mir einen Tritt.
„Au!“, schreie ich.
„Ist was?“, fragt unsere Mutter. Ich schüttle den Kopf.
Ich frage mich, ob sie nicht merkt, dass Katrin sich in der Nacht regelmäßig rausschleicht oder ob sie es nicht merken will. Auf Katrins Unterarmen sind verwischte Stempelreste und Armbänder von den Klubs zu sehen, an denen sie am Vorabend war. Wir sitzen noch bei Tisch, da setzt Katrin sich ihre Kopfhörer auf. Sie dreht auf die oberste Lautstärke. Ich glaube, Katrin braucht den Lärm. In der Stille wird sie nervös. Erst ein Lärmpegel, der es einem unmöglich macht, sich noch auf irgendwas zu konzentrieren, lässt sie innerlich ruhig werden.

Du klopfst an meine Tür.
„Darf ich reinkommen?“, fragst du. Ich nicke. Du setzt dich auf mein Bett.
„Ich mach mir Sorgen um Katrin.“

Du verstehst nicht, wieso sie sich ständig wegschleicht. Du bist mittlerweile 16, du dürftest am Wochenende fortgehen, aber das machst du nicht. Du magst den Lärm, die grellen Lichter und das Gedränge nicht und am aller wenigsten magst du die Vorstellung, die Kontrolle zu verlieren und am nächsten Tag so verkatert wie Katrin zu sein, dass man nichts anderes machen kann, als im Bett zu liegen, als wäre man krank.
Du zögerst, ehe du hinzufügst: „Man sagt so Sachen über Katrin.“
„Was für Sachen?“
Dass sie am meisten Shots trinken kann und bei Partys als erste kotzt. Dass ihre Brüste geil sind und dass ihre Brüste ohne BH gar nicht so geil sind. Dass jeder auf sie steht und dass sie nichts für was Ernsthaftes ist, weil sie sich am Schulklo fingern lässt.
„Glaubst du, das stimmt?“, fragst du. Wir überlegen hin und her. Wahrscheinlich nur Gerüchte, sagen wir uns dann.
Irgendwann hört das schon wieder auf.

*

Katrin geht nach Wien studieren und ihre Geschichten erreichen uns noch immer. Als sie das nächste Mal nach Hause kommt, sprichst du sie darauf an.
„Ist doch egal“, sagt Katrin. Sie macht, worauf sie Lust hat und jeder, der darüber ein schlechtes Wort verliert, ist neidisch. Stolz zeigt sie dir Fotos, mit wem sie gerade schreibt.
„Wie lange willst du noch so weitermachen?“, fragst du. „Hast du nicht das Gefühl, dass es reicht? Willst du dir nicht irgendwann einen Freund suchen?“
„Nein“, sagt Katrin. „Und Kinder will ich auch nicht. Ich bleib lieber allein.“
Du verdrehst die Augen. Du kannst dir nicht vorstellen, dass man ohne Kinder glücklich wird. Du willst zwei, vielleicht sogar drei.
Sie zündet sich eine Camel an und äschert dir vor die Füße.
„Du machst dich damit nur kaputt“, sagst du.

*

Wir kommen zum Mittagessen. Du bist gerade in deine erste eigene Wohnung gezogen.
„Schön hast du’s“, sagen wir. Du wohnst allein. Es gibt Frittatensuppe und Schnitzel. Nach der Hauptspeise sagst du, dass etwas in dir wächst. Du versuchst wiederzugeben, was die Ärzte gesagt haben. Am Montag wirst du mit der Chemo anfangen. Du weißt es schon länger, du wolltest uns nicht beunruhigen.
Ich frage nach Metastasen. Du sagst: „Nein.“
Dann: „Doch.“
Ich drücke meine Lippen gegen die Faust, ersticke den Schrei mit offenem Mund. Katrin weint in deinen Armen. Du streichelst ihr über den Rücken. Die ganze Trauer, die eigentlich deinen Körper erschüttern sollte, scheint in Katrins gewichen zu sein. Ich denke: Es hätte sie treffen sollen.
Als Katrin aufgehört hat zu weinen, sehe ich genau, wie sie sich zusammenreißen muss, um sich nicht vor deinen Augen eine Zigarette anzuzünden.


First Snow In New Home

First Snow In New Home

One day you will tell yourself
You had no idea
(and trees will be blue)
And you’ll be surrounded
By things you can’t imagine Now

Overwhelming, yes
Possible outcomes
And yes I do feel all oft them
Tugging on me
And the „me“ that I named
Has to choose
Isn’t that right?

There are no problems
There are no solutions
Pain is not a punishment
Pleasure is not a reward

It’s important to be messy
It’s important to know how
to clean the slate
It’s important to wake up and
listen to the way
the snow changed the air

It’s important to blur
the edges of me
dissolve, when possible,
into everything else

Erster Schnee im neuen Zuhause

Eines Tages wirst du dir sagen,
dass du keine Ahnung hattest
(und Bäume werden blau)
Und du wirst von Dingen umgeben sein,
die du dir jetzt nicht vorstellen kannst

Überwältigend, ja
Mögliche Wege
Und ja, ich kann sie alle fühlen
wie sie an mir ziehen
Und das „Ich“, das ich ernannte,
muss wählen
nicht wahr?

Es gibt kein Problem
Es gibt keine Lösung
Schmerz ist keine Strafe
Freude ist kein Lohn

Es ist wichtig, unordentlich zu sein
Es ist wichtig zu wissen,
wie man neu beginnt
Es ist wichtig, aufzuwachen
und darauf zu hören,
wie der Schnee die Luft veränderte

Es ist wichtig,
meine Kanten zu verwischen
aufzulösen, wenn möglich,
in alles Andere hinein


Es liegt ein Grausen in der Welt, als ob ihr Kern verdorben wäre, ihre Früchte ekeln mich;
mein Verlangen: Bruchstücke, weil mich Unversehrtes irritiert;
ich wähle saure Äpfel,
in Bissen, auch ungenießbare Stücke, der Ekel trägt mich,
es ist stets nur der Glanz, der mich irritiert;

Ich fürchte Scheinbares, in dem Lügen hausen, Lockstoffe übertünchen ihr Gebäude, sie versprechen mir ein Lebkuchenhaus;
hinter Zuckerglasur tönt das Lachen einer Hexe, die Fassade glänzt, ein Biss: es bröckelt, Sporen dringen in mich ein;
in meinem Hals ein Gefühl nach Rattenschwänzen, ein Reiz,
brechend auch die Worte
noch ungesagt.


Grombühler Elegie

Gern wär ich in dieser Stadt geboren
um aus ihr fortzuziehen.
Wäre wieder und wieder zurück
in diese Weinberge geflohen
um Weltwunden zu lecken.

Nun bleibt mir nur halber Abschied
Nach kurzem Kennenlernen
Konnte Reben kaum genießen eher besaufen
Wollte mich nie von einer dieser Brücken
stürzen.

Gehetzt beruhigt liegen offen meine Triebe
Ziehe Nomadenstiefel an aus Leder
Bevor ich mich in Stadt und Frau weiter verliebe.

Zurück bleibt das Hallen meiner Schritte
Das Knarren meiner Jacke
Ein, zwei poetische Sätzchen
Schwirren noch durch Gassen und Köpfe
Bis meine Küsse verblassen
Und der Main mich vergisst.


Irgendwas mit Körperlichkeit

Wenn ich morgens aufwache klebt
Mir die Zunge am Gaumen
Das totale: Ineinanderübergehen von
Fleisch und Haut
Der Kopf schief gelegt; eine Suggestion von Verständnis

»Wie lange schon?«
Eine Weile
Ich pule, nehme Fleisch zwischen Finger
»Aber bitte mit Fingerspitzengefühl!«
Bis zum Würgreiz
»Eine tapfere …«
»ABER HERR DOKTOR«
Ein Versuch von Kontrolle:
Das Ruder wieder in die Hand nehmen
»Aha«
Bis gestern war da noch

Ein Gefühl für das Selbst: Von Sein und Haben
Diese Sache mit der Körperlichkeit, die nistete bis gestern noch
In entlegensten Hirnritzen, im
Unbewussten
Solange ein Körper systemgetreu funktioniert
Solange Gelenkscharniere passgenau ineinandergreifen
Vergessen wir getrost
Dass wir überhaupt einen haben: ein Zustand körperloser Existenz
Wie schön
Bis gestern noch –Jetzt: EIN PERMANENTES
SICHSELBSTBEOBACHTEN– Allegro Pastell

Jemand muss die Haut an den Ellenbogen mit Schmirgelpapier
Abgerieben
Haben; Sie ist ganz rau geworden; sie schält sich von selbst-
Suche – mir ist da was entglitten
»Aha«
»ABER HERR DOKTOR«
Das Sieb in der Wanne fängt seit kurzem immer eine beträchtliche Menge
Haar ein- wie Spinnenbeine über weiße Emaille gespannt
Neulich zählte ich 36 Stü–
»Und sagen Sie, trinken Sie denn genug, Frau
»ABER HERR DOKTOR«

Ich habe meinen Magen sinnentleert
Die Sache mit der Übelkeit ist mittlerweile so permanent geworden
Dass Sie immer wieder aus dem Blickfeld
Rutscht, sich dann wieder einschleicht und
Mich aushöhlt;
ALS HABE MAN MIR DIE DARMWÄNDE
MIT BLOßEN FINGERN AUSGEKRATZT

Und das ist es doch,
Was Sie meinen, wenn Sie sagen man müsse sich verletzlich machen
Sein Innerstes nach außen kehren
Mein Innerstes, Ich trag es vor mir her WIE
AUF DEM SILBERTABLETT

»Das ist wohl der Stress– sagen Sie,
Haben Sie Stress auf der Arbeit, mit dem Partner, Frau
»ABER HERR DOKTOR«

Neulich, als ich meine Brust in der Hand wog
Die, unter der es pulsiert, als ob ein Falter eingeschlossen
Wäre – ein weißer
   EIN BLINDER
Fleck: am Brustbein im Tal zwischen
Wölbungen
Dort links von Anbeginn

»Probieren Sies mal mit Schlaf
Ein guter Traum hat noch jedem geholfen
ZumGewissheitgebenden
A u s e i n a n d e r f r i e m e l n von
Wahrnehmung
  und
Wahrheit«

FADEOUT
Mir ist da was entronnen
Aus den Fugen wie durch die Finger

ICH HAB MICH
AN DER WELT ENTSTIRNT
  Ein Gefühl wie auf den Kopf gefallen
»Aha, tatsächlich«

Mach dich glaubhaft, mach dich
Nackt

Es geht ums Hautablösen
Körper ist auch bloß Faserland -wie Mandarinen
Dekonstruktion
Entlang von Hautschichten
Epidermis- Cutis- Subcutis
WENN MANN DIR NICHT DIR NICHT INS FLEISCH FASSEN KANN, wie dann wissen
Was fault
Se-zier dich doch nicht so

Bis gestern war da noch

»Jaja«
»ABER HERR DOKTOR«
Hören sie zu?
»Machen Sie Sport?«
»ABER HERR DOKTOR«
Bis gestern war da noch
»Jaja, das: Eine Einzige Inszenierung von
Es geht mir nicht gut«
»ABER
–Mann ist heute schon ganze zwei Stunden empathisch gewesen–
HERR DOKTOR«
Männer in weißen Kitteln: ein unmissverständliches Vorsichertragen von
AUTORITÄT

Als es blutete, tropfte es eine Marmorierung
Auf den Asphalt; fast schön – aber viel
»Aha«
Sie sagen:
Ich sehe, da müssen Diäten gekürzt werden, Frau
Sie verlieren ihre Immunität, Frau

Und meinen es politisch
Sie fragen:
Ist denn das Fallen notwendigerweise unbequem?
Ein Körper, der sich stetig auf die Gerade
Zubewegt; optische Täuschung womöglich
Klangloses Ineinanderüberschwappen von
Das ist real
   Illusion

»Jaja, Sie
Wir schaffen das– Frau«
Da liegt etwas im Argen;
Irgendwas mit Körperlichkeit


Langer Abspann

Meine Mutter sagte, der Wolf Kaiser ist gestorben, er hat sich umgebracht. Sie klang sauer, hätte aber nie gesagt, warum. Wir hatten Wolf Kaiser in Kleiner Mann, was nun? gesehen, er hatte den Jachmann gespielt. In dieser Rolle hatte er dem Helden des Filmes geholfen, und diese Freundlichkeit war bis zu mir durchgedrungen. Wir stellten Essen und Geschirr auf den Tisch. Neue Dinge schoben sich in den Haushalt, verdrängten alte und gingen kaputt, und alte Sachen gingen auch kaputt. Meine Mutter räumte den Tisch wieder ab. Es war unklar, ob das Geld reichte. Das Portemonnaie, schon vorher geschlossen, schien sich schmerzhaft zu verkrampfen. Im harten Licht des Winters und des Frühlings sah alles klein und schäbig aus. Die Sommer ließen alles vergessen in ihren goldenen Ausschüttungen, und sie gingen vorbei.

Meine Mutter sagte, der Jürgen Frohriep ist gestorben, er hat sich totgesoffen. Ihre Stimme klang vorwurfsvoll. Ich kannte Frohriep als Ermittler im Polizeiruf. Seine Frisur war lange vor meiner Geburt mit Fortschritt und Schwung verbunden worden. Er stellte eine mit Linoleum ausgelegte Atmosphäre her, in der Sätze fielen wie: Bürger, jetzt kommen Sie aber mal zur Vernunft. Später, in dem Januar, in dem ich 36 Mal ins Kino ging, sah ich ihn in Sterne und erkannte ihn nicht. Ich war dann schon 16, urteilte streng, aß wenig und gab kaum Geld aus, nur für Kino.

Ein bisschen später sagte meine Mutter, der Arno Wyzniewski ist tot. Der sah immer ein bisschen zart aus, nicht?, und der Name ist schwer zu schreiben. Vielleicht spielte Mitleid hinein, als sie das sagte. Wyzniewski hatte neben Wolf Kaiser den Pinneberg gespielt, und Friedrich den Großen, und Gomulka in Die Abenteuer des Werner Holt. Ich spürte Feinheit und Entschlossenheit, wenn ich ihn sah. Es war schade um ihn, er war keine 60 geworden. Alles schien ein kurzes Ende zu nehmen, knapp zu sein, vor der Zeit zu verblühen. Der Ersatz, mit dem die Welt aufgefüllt wurde, war manchmal unseriös, wie Manfred Krug mit seinen blöden West-Rollen und wertlosen Aktien, oder die Seifenopern, die etwas Fremdes und Unverständliches verhandelten. Wir hätten Nerven und erhabene Maßstäbe gebraucht, um zu prüfen, wie gut das Neue war, und was die alten großen Rollen getaugt hatten, die vertraut gewesen waren. Sie fielen unversehens in ein Früher und blieben dort zurück wie in einem Gehege. Die Welt war erst in streng abgegrenzte Gebiete geteilt gewesen, und als das vorbei war, teilte sich die Zeit in ein Vorher und ein Nachher, die sich kaum berührten und einander verwundert anstarrten. Die Dinge teilten sich mit ihnen. Mein Vater sagte, das ist alles Mist, du musst dir das nicht angucken, es wird wiederholt. Wir hörten ihm nicht zu und sprachen über Schauspieler.

Der Rolf Ludwig ist gestorben, sagte meine Mutter, und sie schien verletzt, mich hat es auf jeden Fall verletzt. Ich hatte ein paar Hörspielplatten mit ihm als Sprecher, die ich wieder und wieder hörte, wenn ich krank war. Dabei lag ich auf dem Sofa und wickelte die Gardine vom Fenster über mir um meine Finger. Rolf Ludwigs Stimme war zärtlich gewesen, und diese Zärtlichkeit hatte mich erreicht. Er war in meinem Stadtviertel groß geworden, aber in einer fremden Straße. Wir hatten ihn besonders als Arzt in Paul und Paula wegen seiner Fürsorglichkeit gemocht. Sein Name war wie der eines Onkels. Ich hatte nicht gewusst, dass er gesoffen hatte. Es tat mir leid, und ich bewunderte ihn, weil er trotzdem so gut gewesen war. Die Katrin Sass trinkt auch, und der Jaecki Schwarz macht nur noch blöde Polizeirufe, und die anderen kriegen keine Rollen mehr, sagte meine Mutter. Es war, als ob sie von den Leuten in ihrer Schulklasse spräche. Sie war Mitte fünfzig. Es war das Jahr, in dem ihr Körper die ersten Symptome zeigte, und ich traute mich nicht, hinzusehen.


MAN
meldet sich zu Wort ohne Tat, zur wortlosen Tat wär ein jeder Weg zu weit! Einer von vermeintlich vielen, Bataille sagt doch, Schreiben ist das Gegenteil von Arbeit! Oder schrieb MAN’s auf?
Und fragt – wonach ein Leben riecht.
Daran erinnert MAN sich fast, wie ‚dein‘ Schweiß riecht. MAN sagt ja, Gerüche sind bombastische Schlüsselreize. Fast, das heißt versucht daran. MAN nehme den Versuch als nachgetragenes Geständnis, aus Tat wird wieder Wort, und Ereignis wird Bedeutung. Aber wer will sowas hören? Zu wem reden? ‚Dein‘ Schweiß, kein schmutziges Geheimnis. Erfahrung kann, wird sie zu körperlich, nicht mitgeteilt werden, und dabei denke MAN nicht an die Unzulänglichkeit der Sprache, trügerische Metaphorik, und peinliche Versuche, sinnliche Wirklichkeit abzubilden. Sondern an Tabu und Comfortzone, denke MAN will sie nicht mitteilen. „Dein Katerschweiß am dritten Tage nagelte mich aufs Kreuz.“ Trotzdem geisterhafte Stimmen zuletzt lauter rufen, Alles ist Körper, bespielt das Leben den Geist. [Das Leben der Maschinen ist kein Leben sondern Lieben.] Schließt MAN sich nach dem Stell-dich ein, will MAN vielleicht nie wieder raus, obwohls die letzte Zeit sowieso nicht erlaubt war, sich zu küssen. Im Stillen liebt MAN wohl, das nicht zu müssen. – Halt, bist du ein Mensch?
MAN hoffe nicht, und zu hoffen ist wenig, denn Sein = Machen und nichtmal in Not wendigerweise mit Denken gepaart. Wendig flutschend paaren sich Atome, Oktopussies, Schlangensterne? Symbolisch ausgelutscht für die neugewonnene, oder noch zu erkämpfende Freiheit. MAN hofft von Pornos als höchste intellektuelle Lust zu sprechen. Geruchs- und Tastsinn, eher ungern aktiviert, sind hier nicht, gefragt: ‚Lässt dein süßer Geruch aus Schweiß und Shampoo mir den besten Willen? Lässt er mir Raum zum ruhigen Atmen und flüstert mir mahnend, dir den deinen auch zu lassen? Fragt er mich, was sollst du tun?‘ Riechen und Zucken ist eins, eins ist Sehen und Denken. Der Akt dagegen, der sich in Machtgefällen, Gewalt, wirklicher Gefahr (körperlich, siehe alles außer BDSM, und psychisch, siehe Bataille) realisiert, materiell so verschrien, dabei sprachlich mit (Dis)Kurs auf völlige Erschöpfung hin beschrieben, und theoretisch vielerseits eingeholt. Ist doch nichts dagegen! Liest MAN die Zeit kann MAN Gefallen daran finden, Pornos das Vorbild, als Eigentliches und überhaupt als (platonische, sehr platonische) Idee zu erleben, von der zwischenkörperliche Erfahrungen, die nach Schweiß und Wichse riechen, die Cellulitebeulen ent-decken, die Erfüllung von Ängsten und Begierden in manchem Fall sogar bedeuten, Erscheinungen darstellen: die Reihe Einzelna, deren jedes nicht vollkommen sein kann. – Aber all die Dates?
Mit der App so leicht führt kein Weg mehr dran vorbei. Dann macht MAN sich halt frei, aber ‚Gott‘ sei Dank passiert das nicht so schnell, denn überstürztes Verlangen duftet weit, weit vom Display, ganz fasrige und blasse Erinnerung, es hat, wenn MAN sich recht erinnert, ziemlich viel an Kraft gekostet, es gab da Demütigung und Schmerz. „Keine Haltung, keine Pose, keine Stellung, diese schmerzt. Ich hechle, die Tränen hier zu halten, und blinzle nicht.“ Kein Grund zur Beunruhigung. MAN atmet durch und spürt: wie smart, wie glatt liegt SIE noch immer in der Hand. Die Andere: wie smart und glatt, wie schmiegsam liegt SIE in der Hand und der leichte, wie vorgetäuschte Widerstand, wenn MAN den Deckel mit dem Daumen aufschiebt: ganz sanft, MAN braucht kaum Kraft. Magnetisch! Beide am vorherbestimmten Platz, so symmetrisch (es ist gottgewollt), gehalten, aber vorsichtig!, langsam!, SIE könnten rausfallen, die natürliche Grobheit fettigen Fleisches spürt, wie verletzlich SIE ist. Dieselbe Brise streift das unbehaarte Gehäuse, die auch das Nackenhaar grad kitzelt. MAN durchlebt eine 25 Sekunden Ekstase mit den Airpods, enthüllt ihre zarten akkustischen Organe, und lässt sie gleich danach schon abwesend in die Jackentasche gleiten – vorsichtig noch immer, ja, aber in Gedanken nur noch an den hohen Preis! MAN betatscht sie und fettig bleiben Fingerprints auf unendlich feinen, zarten Rillen, auf den von Folie freigemachten Displays, MAN benutzt sie. – Und was heißt hier platonisch?
Heißt von der Idee besessen, wenig Sex und wenig Essen, heißt zu wissen a priori, dass Kosten unerträglich ist, und eklig. Schopenhauer lässt erst das Herz des Genießers die geniale Idee vollenden, wenn es flüstert ‚Ja, das war es.‘. Der Konsument trägt die Ehrfurcht an den Creator heran, der die Übertretung nicht nur andeutet, sondern durch und durchspielt. Sein ‚Ding‘ steckt er damit, dass er statt jedem krummen Einzelnen als dessen aalglatte Idee sich anbietet, gleichsam der erst halb entkleideten Natur schon, während sie noch stammelt: ‚Rein!‘ Sein ist „die Schönheit der Form, welche ihr in tausend Versuchen mißlingt“, die er der Kamera hart wie Marmor aufdrückt, „sie der Natur gegenüber stellt, ihr gleichsam zurufend:“ ‚Das war es, was du zeigen wolltest!‘. (WWV I, 262) Und was wir sehen wollen, allein zuhause, sicher verwahrt. Also: Feed sharing is caring, greets vom Creator, er zeugt die Zukunft nicht in Babies, sondern – interfacially tanscendent?
Und ja, von Schopenhauer weiß MAN ist zu träge zwar, um Lust zu finden, einen solchen zu besteigen, kann aber doch am Fuß des Regenbogens angekommen sein: Server erlauben zwischen ‚Ich‘ und ‚Ich‘ zu wechseln, beide vom selben Stern, vom selben Schreibtischstuhl und die Pop-ups dazwischen – die reinste Freakshow! Ist es Werbung, politischer Content?

„Klicken Sie und lesen Sie! Im Namen unserer geteilten Zukunft, geteilten Vergangenheit, poppe ich hier vor Ihnen auf, um völlig offen zu sprechen!
‚Gibt es Liebe?‘ Und, kann man genauso fragen: ‚Gibt es Sex‘? Gerade auf der Schwelle zum Zeitalter der standardmäßigen künstlichen Befruchtungen, wieso sollte es ihn geben? Und schließlich: ‚Wer fickt?‘ Zwei Jahre lang haben wir uns, nach dem ersten Schock [Jetzt Traumhotel in Italien buchen], mehr oder weniger widerstandslos dem Gedanken genähert, es möge nicht das Ende der Welt sein, auf Körperkontakt verzichten zu müssen. Die Angst, sich und vor allem geliebte Andere in den Tod zu küssen und die soziale Verantwortung, die damit einem jedem zum Schutz Unschuldiger auferlegt worden war, führte manchenfalls sogar dazu, auf Körperkontakt verzichten zu wollen. Zumal dieser Kontakt wesenhaft schmerzvoll, reizüberflutend, grenzüberschreitend ist. Mit Körpern in Kontakt zu kommen, ermöglicht Herrschaft und Hierarchie, gewalttätige Dominanz. Körper sind nicht gleich, weder ihrer inneren Organisation, noch ihrer äußeren Erscheinung nach, und dieser Ungleichheit sind wir, insofern wir an unsere Körper gefesselt sind, unterworfen. [Zum Artikel. Lesezeit 2 min.] Artaud drückt in rohen Worten das Unbehagen aus, mit dem wir unsere Fesseln zunehmend tragen. Seine gewaltige Fantasie unterstreicht, dass wir, solange unsere Körper unterworfen sind, als Ganze unterworfen sind, und seine Aggression ist Resultat einer verzweifelten, schwachen Position. In dieser Position sind wir als Gesellschaft und auch als Einzelne gehindert in jedem demokratischen Bestreben. Wie kann unter solchen Bedingungen materieller Ungleichheit GG Artikel 3, P. 1 gelten? Wie quälend und erfolglos der jahrhundertealte Versuch, demokratische Gleichheit anders als körperlich zu begreifen! Chancengleichheit? Meinungsfreiheit? Nimmt man, mit Foucault, drei ausschließende Faktoren an, die den Diskurs regulieren, spricht man von Körpern, die anderen Körpern den Zugang zu einem idealdemokratischen Diskurs verstellen, die im Weg des einen und anderen wellenbrechend herumstehen. Will denn keiner die hart erkämpfte Freiheit unserer Emanzipation von maroden Hierarchien, struktureller Diskriminierung und spießigen Tabus voll auskosten? Und endlich die Frage ‚Wer bin ich?’/ ‚Was will ich?‘ vollständig von der Frage ‚Wer fickt mich?‘ ablösen? Dies wird uns nie möglich sein, solange wir das Geschlecht weiterhin Ausgangspunkt unserer Suche nach ‚Ich selbst‘ sein lassen. Bis hierher sind wir nicht emanzipiert. Ich frage Sie: Warum das Geschlecht operieren, anstatt es zu negieren?
Wir sind ja weit gekommen und ahnen, was ‚Ich‘ ohne ‚muss‘ bedeuten könnte! Und ‚Du sollst‘ ohne ‚für mich‘! Bevorzugen wir eine progressive Zukunftsplanung und, für unsere Selbstüberwindung und Weiterentwicklung, eine ausgeglichenere Perspektive aufs Jetzt, sollten wir statt einer gegen den eigenen Körper gerichteten Zerstörungswut nachzugeben, eher positiven Beispielen folgend und affirmativ operieren, in Sprechen/Denken und Handeln. Haben sie schonmal einen Porno angesehen, ohne dabei zu ma


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– Und was? „Ich meine … was machen wir jetzt?
Wir sind schon am Machen, das ist es … wir sind schon voll in der Aktion!“ Stehen auf, bleiben at Home Office, bestellen Essen, schlafen, stehen wieder auf, bleiben at Home. Minimal mögliche Auslastung des Körpers, absolute Priorisierung visueller Reize. Das hat MAN nicht frei gewählt, dies vergeistigte Leben! Empört ruft MAN: „Ich bin nicht einfach eine kluge Maschine!“, nur umgeben von ihnen, unter gegebenen Umständen ist MAN also das, was inferiore heißt. Der inferiore Ekel dem Geruch von Krusten, Haaren an bestimmten Stellen, von Ohren, Piercings, Händen, und natürlich, ganz natürlich, dem unbedeckten Geschlecht gegenüber. Haarwuchs war in vielen Epochen, und so auch wieder in den 2000ern, streng sanktioniert, idealerweise Marmor, auch für Männer. Dem Michelangelo, seinem Gotte, flüsterte David damals großen Dank: ‚Es fühlt sich so ganz anders an, wenn einer meinen glatt rasierten Schenkel streift, als wenn dort Krausehaare sind!‘ Inzwischen ist MAN aus den Fängen von Enthaarungscreme und Rasierpickeln befreit, MAN muss jedem Haar mit Toleranz begegnen, nur, dazu ist MAN nicht bereit! Und Ekel macht im Stillen sich doch breit. MAN spürt sehr wohl, der Ekel steht Emanzipierten, Toleranten nicht gerade gut zu Gesicht. Er ist Schwäche und resultiert aus Schwäche. Maschinen riechen nicht, – und Götter?
Riechen nicht, riechen nicht, sind unempfindlich und kennen nicht das Wort ‚Abjekt‘. Alles ist verwertbar, und MAN kann eine wertvolle Scheibe abschneiden. Wo MAN in sinnlicher Wahrnehmung lebt, prekär lebt, Umweltreizen hilflos ausgesetzt und Affekten unterworfen, da lieben die Maschinen und – die Avatare, viel nüchterner als MAN selbst, so gar nicht blau. Die freie Liebe ist viel freier, wenn weniger fleischlich, je intelligibler desto heißer, und so weilt MAN unschlüssig an der Pforte zur heilenden virtuell realen Welt, ähnlich dem Kinde, das andere beim Spielen gerne sieht. Hinter vorgehaltener Hand zischt MAN: Alles ist Körper, Nichts ist Geist! Und unterschreibt die rückständige Einfalt wohlgenährter Konsumenten, anrüchiger Herrenwitze, behaarter Primaten. Und aus der Einfalt heraus, wer bewundert SIE nicht, die Glätte des Iphonerückens, gerade aus dem Ei gepellt. Wen schmerzt es nicht, der erste Kratzer, mehr als am eig’nen Leib! Vergessen in Stumpfsinn, dass SIE solchen Schmerz nicht kennt. Und nicht weiß – wo MAN endet und SIE beginnt?
Ein Schwanz oder ein Dildo, Plastik. Ein Totes, Stück der Zuneigung. Lebendig, ins Leben gerufen, erweckt von Blut und Kreisen. Als Preciado sagte, Der Penis macht den Dildo nach, war das keine provokante Neuigkeit, sondern ein Auf der Stelle steif geworden. ‚Wir müssen priorisiert daran arbeiten, die Frage nach Geschlecht von der nach Identität zu trennen!‘, sagt MAN, aber tut es nicht. MAN fragt also ‚Wer bist du?‘ und antwortet nicht – ‚Klitoral‘, ‚Nippel knabbern‘; ‚Wer bist du?‘ und antwortet nicht ‚Dein‘. ‚Ich liebe sie‘, aus der Küche kommt kein Klirren, kommt kein Köcheln. MAN überwindet das Geschlecht nicht, solange MAN dran rumbastelt, und Ausgangspunkt für Persönlichkeitsentwicklung es sein belässt. ‚Ich bin so viel mehr als das!‘ ‚Endlich eingegriffen, so beginnt mein Weg zu wirklich Ich.‘ ‚Ich bin nicht mein Penis?‘, flüstert Mann erstaunt, ein Raunen, – hat er wirklich einen?
„Es geht nicht in erster Linie um das Geschlecht oder den After, die übrigens abgeschnitten und liquidiert werden müssen, sondern um Oberschenkel,
Hüften,
Lenden,
um den ganzen geschlechtslosen Bauch,
und den Nabel.“, so besingt Artaud seine wirklich wahnsinnig emanzipierte Kunst des Liebens. Man kann hinzufügen ‚…slosen Bauch (um den ein Silikon-Dildo geschnallt werden muss), und d…‘. Damit befindet MAN sich, mit Preciado und dem aktuellen Diskurs, im anrüchigen Dunstkreis der Geschlechterfrage. MAN denke jetzt nicht an r. E., und so auch hier: ‚Geschlecht und After‘ sind immer noch der Ausgangspunkt. Die rohe Gewalt von Abschnitt und Liquidierung ist ein Eingeständnis ihrer furchteinflößenden Macht. Ganz Herr über das Menschlein. Ihre Überwindung kostet MAN. Und Überwindung – ist doch immer ‚Verlust des Normalen‘? So haben sie gesagt, dabei ist gerade das Normale in Quarantäne, Maske, Sozialer Distanz auf die Spitzen potenziert, ein alter Ekel aus der Latenz geholt. Im Stillen liebt MAN wohl, es nicht zu müssen! Das Umarmen, das Rausgehen, den Andern riechen. Laut dem Physiker Feynman gibt es keine Umrisslinie. Er schreibt, MAN solle sich bewusst machen, darüber sich verwundern, dass Dinge(r) nicht mit einem schwarzen Strich umrandet sind. Das sei nur, wie MAN malt. Wie manche malen, wie MAN malen lernt. Physikalisch aber, und mikrosk-optisch, gibt es keine solche Linie. Woher soll MAN dann wissen, Baby, wissen, wo MAN aufhört? Welcher Linie gibt MAN das Recht, von Schmerz zu sprechen? Welcher gibt MAN das Recht von Ich zu sprechen?

‚Ein Geruch ist es, der mir die Nasenscheidewand zermartert, der Versuch, was mir schon hinten auf die Zunge sickert, nur noch einmal hochzuholen.‘

Trotzdem alles Körper ist, spielt das Lieben also den Geist. In seinem Namen schreibt MAN gerade jetzt, statt warme Nähe, statt bergende Achselhöhlen und raues Haar zu suchen, statt zu versuchen, ruhig zu atmen, nichts zu sagen. Als Sprechende tut MAN wohl daran, die unsagbaren Körper Anteile im Miteinander zu verringern. Sagen macht froh, Infos füttern, teilen, feed sharing is caring, was MAN aber nicht teilen kann bleibt dunkel, unbewusst zurück. Lichtbringende Metaphern stützen sich aufs Sehen, Gerüche bleiben sprachlich unerwünscht, unbefriedigend, und traurig wird MAN beim Versuch, mit geschlossenen Augen von ‚deinem‘ Schweiß zu sprechen. Also Augen auf, pick your Server, Poison, Chatmate. Und wenn’s ein Bot ist, welche Ehre!


In Ufermorast
ein Bein vertreten,
der Ostwind hustete uns
hinter die Ohren.

Der Salix Haare
hingen im Fluss,
ausgeweidet die Stocher-
kähne an Ketten.

Auch den letzten Tag sinn-
& sorglos verbummelt,
taumelten wir ihr
ins nachtblaue Kleid.


Raubtiere Schlachten

Und unten in der alten Stadt
Verbindungsbrüder reiben sich an Frauen
Ego trieft von Biergläsern
und Scheitelfrisuren.

Discopumper, Polohemdträger
Unterdrücker aller Couleur
Sie üben sich, sie wuchern
Um über Germania herzufallen
Ihr das Mark auszusaugen.

Die Mergentheimer Straße entlang
thronen von Wällen, Zäunen behütet
Verbindungshäuser:
die Nester der Heranwachsenden
Büros und Kanzleien:
die Höhlen der Ausgewachsenen
Die Haltestelle heißt Ruderzentrum
Raubtierrevier.

Bei den Burschenschaftern, den Nationalen
kristallisiert sich Typus heraus:
Die letzten Maden im Kadaver des Reichs.

Die einzigen Löwen sitzen stumm steinern
auf der Brücke.
Ein jeder blickt bereit in eine Richtung
Hyänen und Larven unter Tatzen zu zerfetzen.
Dass das warme Blut den Boden Würzburgs
Für Fortschritt fruchtbar mache.


Schwarzherzplanet

Ich hatte einmal ein T-Shirt. Darauf waren orangene und blaue Planeten. In der Mitte eine Jahreszahl, zu der ich 23 Jahre alt sein werde. Zum damaligen Zeitpunkt erschien mir dieses Alter Lichtjahre entfernt. Ich hatte es bei der Blutabnahme im Krankenhaus an. Sie haben nichts auffälliges gefunden, ich war gesund. Du warst schon ein paar Tage auf Station. Hast zu Übungszwecken Nadeln durch Orangenschalen gestochen. Bekamst viel Besuch, wir waren auch oft da. Ein paar Tanten konnte ich dabei beobachten, wie sie bei dir im Zimmer, zu Späßen aufgelegt waren, mit dir gelacht hatten. Sobald sie das Krankenzimmer verlassen, die Tür hinter ihnen zu fiel, geschah etwas eigenartiges mit ihnen. Etwas das nicht für dich bestimmt war. Ihre Körper krümmten sich in einer ruckartigen Bewegung zusammen. Ihre Hände haben sie vors Gesicht gehalten und sich die Augen abgewischt bevor sie gehen konnten. Ich wusste nicht was ich damit anfangen sollte. Bestand weiter darauf, dass du gesund werden würdest. Selbst als Vater mich und Mutter zuhause anschrie, als wären wir eine weitere Krankheit die es zu vertreiben galt, änderte sich das nicht. Die genauen Worte unseres Vaters fallen mir nicht mehr ein, aber seinen Gesichtsausdruck vergesse ich nicht. Er war böse auf mich. In mir wuchs der Gedanke, dass der falsche Zwilling krank ist, dass es das nicht geben darf, einen gesunden und einen kranken Zwilling, sondern, dass wir beide gleich krank oder gleich gesund sein sollten.

Vor der Diagnose warst du mit der Klassenschönheit, so wie man in diesem Alter mit jemanden zusammen sein kann, zusammen. Vor dir war sie meine Freundin. Wir haben uns im A&O Park ein paar Mal auf den Mund geküsst. Sie roch nach Kirschkaugummi. Jenny ist ihr Name. In der Klasse vermochte ich kaum ein Wort mit ihr zu wechseln. Nicht mal als sie eine Zeichnung die wir im Unterricht anfertigten, lobte, und meinte, dass ich alles so gut kann und dabei lächelt sie, so dass es jeder sehen kann. Schließlich war ich froh, als ein anderes Mädchen zu mir kam um mir mitzuteilen, dass sie mit mir Schluss macht. Endlich, habe ich dann gesagt. Ein paar Momente später teilte mir jemand anderes mit, dass du jetzt mir ich zusammen wärst. Sie hat dich gefragt und du hast ja gesagt. Darauf folgte eine schwierige Zeit, weil du das mit Jenny so viel besser konntest als ich. Du hast ihr Dinge und Aufmerksamkeit geschenkt. Als du aus dem Krankenhaus zurück in die Klasse kamst, hast du allen gezeigt wie das mit dem Spritzen ist. Während ich das erzähle, grassiert wieder diese Unsicherheit. Wann hast du die Krankheit bekommen? Das muss in der Volksschule gewesen sein. Da waren wir vielleicht 8 oder 9. Das mit Jenny war viel später. Mein Erinnerungsvermögen, meine Gedächtniszentrale vermischt die Jahre miteinander. Ich weiß nicht mehr genau, wie das war. Das bereitet mir furchtbare Angst, wenn ich jetzt schon darum kämpfen muss, was ist dann in ein paar Jahren? Erzähle ich dann nur noch Lügen von dir? Ich muss weiter machen, weiter machen wo ich mich gerade befinde und einfach erzählen. Es war nach der Schullandwoche, in der dich unser Klassenvorstand in der Hauptschule, Frau K., sehr früh aus dem Zimmer holte um deinen Blutzuckerspiegel zu kontrollieren. Zumindest glaube ich, dass es so war. Meine Erinnerungen sind übereinander gestapelt und manchmal fällt eine Szene aus dem Stapel, ohne dass ich weiß an welcher Stelle sie genau war. Zumindest weiß ich, dass du ein guter Freund warst, Jenny in der Schullandwoche in der Obersteiermark Blumen gepflückt hast, für die du dann von Frau K. gemaßregelt wurdest, weil man das dort nicht darf. In der Schiwoche, das muss ein Jahr später gewesen sein, habe ich Jenny gegen den Heizkörper gestoßen. Es hat einen ordentlich Krach gemacht. Sie weinte. Sie wollte mit anderen Mädchen das Jungszimmer sehen und hat fröhlich herein gelacht, dann habe ich sie gestoßen. Weißt du, es gab nämlich das Gerücht, dass sie mit keinem Kranken zusammen sein wollte. Vermutlich hast du das auch gehört, als sie mit dir Schluss machte.

Jahre später habe ich Jenny in einem Kaffee gesehen. Sie hat Tattoos, sieht nach wie vor wunderschön aus, nur irgendwie verbrauchter. Sie sagte, »Bist du nicht einer von den Zwillingen? Ich war mit einem von euch zu zusammen, stimmts?« Ich habe gesagt, »Mit uns beiden.« Sie lacht und sagt: »Wow, wirklich, ich glaube du hast recht.« Dann hat sie mich gefragt was ich bestellen möchte und unser Gespräch war beendet. Wir haben nicht darüber gesprochen, dass du bald nach der Hauptschule gestorben bist. Vielleicht hat sie das nicht gewusst, oder schon vergessen, oder es fiel ihr gerade nicht ein. Ich weiß es nicht, und es macht mich gerade rasend und am liebsten würde ich ihr über die sozialen Medien schreiben, seit kurzem folgen wir uns auf Instagram ohne uns auszutauschen. Aber was sollte ich schreiben, wozu, und das Schlimme ist, ich verstehe es irgendwie. Dachte ich damals daran, was es bedeutet 23 Jahre zu sein, dann hatte ich ein Haus, eine wunderschöne Frau, vielleicht so ein Mädchen wie Jenny, vielleicht sogar Jenny und ein paar Kinder vor mir. Bei jeder Vorstellung warst du dabei. Ich dachte auch, dass es ausreicht Klassenbester zu sein. Einserschüler in Mathe und noch dazu hervorragend beim Fußballmanager am PC um eine Karriere in der Wirtschaft, was das auch sein mochte, einschlagen zu können. Ohne dich Erwachsen zu werden, war nie Teil des Plans.

Eigenartig was mich dazu veranlasst an all das zu denken. Dabei sitze ich nur da und glaube, dass es eine Zeit her ist als ich dich das letzte Mal gesehen habe. Deine blauen Flecken am Bauch und an den Oberschenkeln waren für mich nicht sichtbar, für andere schon. Nach dem Fußballtraining sprach dich in der Dusche einer der Kameraden, mit denen wir aufgewachsen waren, auf sie an. Anstatt verstohlen auf einen Penis zu starren, wie es angemessen wäre, sah er eine Etage höher auf deinen Bauch. Abheilende, hellgrüne, gelbliche Tupfer. Frische Hämatome, blau rötliche Stempel. Mir war nicht bewusst, wie irritierend das aussehen kann. »Igitt, was ist das?«, sagt der Kamerad und zeigt auf deinen Bauch. Alle sehen dich an, wie du nackt da stehst, getroffen von dem Finger, wie von einer Pistole. »Das sind Gelsenstiche.«, erwidert einer von uns, du oder ich. Der Kamerad bohrte nach: »Was für eine Art Gelsenstiche sollen das bitte sein?« Dann sieht er mich an. »Warum hast du keine?« »Süßes Blut.« ist unsere Antwort. Den Weg nach Hause beschritten wir wortlos. Damals zerbrach was in dir, das habe ich gesehen. Das war der Knacks, fast wie damals bei den Tanten, nur schlimmer. Danach geschah das immer öfter und nachhaltiger. Kleine Haarrisse die sich summierten, lauter kleine Brüche bis zum Totalschaden. In der Familie war das kein Thema. Du spritzt in der Früh. Spritzt am Abend, manchmal auch Mittags und Zwischendurch. Misst den Blutzuckerspiegel mehrmals am Tag, oder solltest es tun. Pinkelst auf Streifen und trägst Werte in ein Tagebuch. Wie lange habe ich zu leben, hast du dich das gefragt, oder wie oft hast du dich das gefragt? Ich sehe das T-Shirt mit den Planeten und der Jahreszahl vor mir. Mit ungefähr 23 Jahren habe ich mich entschlossen in den Pflegeberuf zu wechseln. Für die meisten war das überraschend, auch für mich. Wir lernten Insulinspritzen und Blutzuckermessen. Heute macht mir das nichts mehr aus, damals war es schwer, denn wenn ich an dich dachte, dachte ich nur an dein Ableben, deinen toten Körper unter der Erde, von Käfern angefressen, sich im Zersetzen befindlich. Heute denke ich an mehr, an die Freundin die wir in der Schule hatten. An mein Schuldgefühl ihr und dir gegenüber. Ich wollte mich damals bei ihr entschuldigen, ich wollte ihr nicht wehtun, das mit dem Heizkörper tut mir wirklich leid wollte ich sagen, hab es aber nie getan. Mit ziemlicher Sicherheit hätte sie nicht gewusst wovon ich spreche, oder?

Ich bin glücklich. Ich kann mich kaum erinnern, dass es mir in den letzten Jahren jemals besser ging als heute. Das dachte ich zwar Gestern schon, aber heute denke ich das wieder. Aufstehen hat genauso gut funktioniert wie M. eine guten Morgen Nachricht zu senden. In letzter Zeit habe ich weniger Angst sie aufgrund meiner Verhaltensmuster zu verscheuchen, und dass ich ihre Eigenheiten besser tolerieren und aushalten kann. Die paar Nächte auswärts sind ein Segen, wir können beide etwas abschalten und ich mich ganz dem Schreiben widmen. Ich habe mein Romanprojekt bei mir und freue mich damit zu arbeiten. Und gleichzeitig freue ich mich auf die Kollegen in der Literatur Akademie, denn wann kann man sich schon mit Gleichgesinnten austauschen und etwas konkretes dazulernen, was das Handwerk betrifft. Ich habe einen Zwang zum Schreiben entwickelt. Ein Schreibkollege meint, es macht ihm Spaß zu schreiben, er liebt es Sätze zu bauen und an ihnen herumzuschrauben. Das kann ich zwar gut nachvollziehen, dennoch empfinde ich die Existenz der Möglichkeit mich dem Schreiben als Akt hinzuwenden, als Qual, in dem der Reiz für mich liegt. Von diesem elendigen Gefühl der Wertlosigkeit aus, kann ich einsteigen, den Wiederstand gegen mich selbst brechen, mich sogar von diesem Kampf unterhalten lassen. Es ist vielleicht so wie mein Freund W.F. gesagt hat. »Ich glaube dass dich Lesen, Schreiben, die Literatur im allgemein gerettet hat. Aufgrund der Dinge die du aus deiner Vergangenheit erzählst, glaube ich, dass du an einem Platz in deinem Leben warst, in dem du tatsächlich kein angenehmer Mensch warst. Ist es nicht arg, dass man sich selber so finden kann? Offen sein kann, seinen Geist, seine Seele benützen kann? Sich mit was anfüllen und dann über etwas Reden das einen berührt, wie ein Film zum Beispiel den wir gesehen haben. Schöngeistig trifft es nicht, es geht wohl mehr darum, wo es einen hingeführt hat. Ich weiß nicht, aber ich finde das interessant. Ich hänge gerade Wäsche auf und rede nur so vor mich ins Handy hinein, und denke an Gestern. Der Film war gut.« Dann erzählt er über eine Szene die ihn beschäftigt hat und ich höre ihm gerne dabei zu.

M. weint oft und sagt ehrlich, dass ihr das ganze Leben zu viel ist. Ihre Mutter konnte ihr nicht die Liebe geben die sie braucht, von der sie als Erwachsene zehren kann, zehren kann wenn es ihr schlecht geht. M. muss sich bei allem so anstrengen. Auch was uns betrifft. Sie meint, ich müsse sie verstehen, das ganze Gerede über Nachwuchs mache ihr Angst. Schließlich musste ihre Schwester vor kurzem ihr zweites Kind gleich nach der Geburt abgeben, da sie sich nicht darum kümmern kann. Ich sage dann, du weiß wie sehr ich das möchte, Vater sein, immerhin … dann stoppt sie mich und sagt, ich weiß, aber das macht es nicht leichter. Bereits einige Leute haben zu mir gesagt, ich wäre bestimmt ein super Vater. Ich glaube selbst, dass ich das könnte. Es macht mich glücklich, dass wir als Paar so weit sind und zumindest über Nachwuchs sprechen können, ohne uns gegenseitig zu zerfleischen. Wenn ich in M`s Augen sehe, sehe ich meine Zukunft und einen Spiegel der mich selbst zeigt. Neben ihr taucht in meiner Vorstellung ein kleines Mädchen auf. Immerhin, möchte ich sagen, immerhin fühle ich mich weniger einsam.

Selbst wenn alles war ist was ich gerade geschrieben habe und denke. Als ich das Bild von dem Jungen gesehen habe, der nach einer Hirntumor Erkrankung gestorben ist, knackst es in mir und ich muss alleine sein. Ganz dringend alleine sein. Es ist so schwer einfach nur um jemanden zu weinen den man nicht kennt, dessen Tod die ganze Welt zu beheimaten scheint. Ein sterbendes Kind ist mehr als man ertragen kann. Keine 8 Jahre, dazu noch die Krankheit, die die letzten Jahre bestimmten. Seine Schwester hat ein Bild von ihm gepostet, sie beide zusammen und darunter ein schwarzes Herz. Wir haben 2016 gemeinsam die Ausbildung zur Diplom-Gesunden- und Krankenpflegeperson geschafft. Mein Bruder, du, hast fast doppelt so viele Jahre gehabt wie er. Alle Jungs in dem Alter habe eine Ähnlichkeit. Es bricht mir das Herz entzwei. Die Familie, sie, sie leiden gerade an schlimmen Schmerzen. Ich überlege tatsächlich ob ich zum Begräbnis fahren soll. Doch kannte ich ihn nicht und mit ihr gibt es kaum Kontakt. Ich habs mir im Kalender vorgemerkt, damit ich ihr Schreiben kann, oder doch noch hinfahre. Der Abschied ist am 5.11. Zwei Wochen vor deinem Todestag.

Du warst etwas mehr als 15 und er etwas weniger als 8. Insgesamt habt ihr 23 Jahre gelebt. Ich frage mich, wer ich damals war, noch mehr wer wir beide waren, als du hier warst, als wir 8 waren. Ob du damals krank wurdest oder später. Ich möchte unsere Schwester nicht Fragen, unseren Vater schon gar nicht. Mutter ist bei dir, für euch spielt das keine Rolle mehr. Wie wäre es, dich jetzt in Fleisch und Blut vor mir sitzen zu haben. Mit dir über Jenny und Fußball zu reden. Ich glaube es wäre schön, gemeinsam in die Allee der Erinnerungen entlang zu flanieren. Weißt du, ich schreibe einfach weiter, mal sehen wohin es uns führt. Ich denke an den kleinen Jungen und seine Schwester. Ich werde ihr schreiben, dass ich gerade an sie denke. Vielleicht mache ich ein schwarzes Herz dazu, mehr nicht.


stattbetrieb

Vollgesprayte Lärmschutzwände, sehen bei der Vorüberfahrt aus wie der Jupiter. Geräuschlos: Der Kaffee auf dem Herd. Im Espressokocher. Bialetti um genau zu sein. Auch wenn es per Definition kein Espresso ist. Erst bei so und so viel Bar Druck. Die zuschaltbare Kochzone bleibt aus. Ich schaue zu, wie der dickflüssig anmutende, braune Saft sich seinen Weg langsam vom Heißwasser im Kessel in die Kanne bahnt, runterrinnt wie Magma. Draußen: Die verwahrloste Musik der vorbeifahrenden Autos, zwischen zweimal leise und einmal laut: Urbaner Dopplereffekt. Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, völlig unnütze, großgeschwafelte, nicht greifbare Worte, leicht erklärt und damit dem allgemeinen Sprachgebrauch preisgegeben. Wie Erwartungen, emotionale, undefinierte Zielsetzungen, ein safe space in Fremdkörpern, die Unbeständigkeit in Theorie, nichts wurde durchlebt. Die nächste Seite ist weiß und ich muss diesen Satz schreiben, damit sie es nicht mehr ist. Die Bedeutung von etwas war noch nie Spitze des Pfeils, welche immer zuerst trifft. Das Große als Illusion: ein romantischer Flickenteppich, der Fanta Korn unter den Illusionen, zusammengepanscht, wie diese 169 Wörter – vorläufig. Fetzen. Fetzen. Fetzen.

Es ist noch was zu tun, bevor ich das Außen betreten kann. Schwitzend betrachte ich nackte Haut, geöffnete Fenster durch aufgeheizte Gardinen wieder verschlossen. „California Suns“ rotzen Hitze ins Gesicht, die Luft fühlt sich an, als hätte sie Knochen: Splitter, angeschwollene Knöchel, geöffnete Mäuler, um besser atmen zu können und die Jugend, die gegen Stromkästen boxt. Ich nehme an, junges Alter muss so wütend sein, so physisch sein. Überall Körper, Körper, hier sind überall Körper, die Blicke fressen/nicht haptischer Fraß – Blicke wie Marktschreier, die dir verführerische Angebote, von Dingen du nicht brauchst, ins Gesicht bellen. Dass du unbedingt schön sein willst, dass du ficken willst. Fick dich, Schönheit: Die Stromkästen geben nicht nach und es ist sehr wichtig, dass sie es nicht tun.

Faltige Haut wie zerknülltes Papier, Tätowierungen wie angetrocknete Stempel. Eine Straße weiter, ein Gespräch: Grafikdesigner, angehender Drehbuchautor, Büro Mülheimer Hafen, porenfreie, rosigbraun ausgeleuchtete Haut, nahezu perfekt rasierte Glatze, poliert, leicht strubbeliger aber gleichzeitig peinlich gepflegter Vollbart, Ace&Tate Brille, das graue T-Shirt mit one line Art Aufdruck über der linken Brust, in die marineblaue kurze Sporthose gesteckt, Birkenstocks: Ein hechelndes Konstrukt, wie eine süffisant grinsende Leerstelle. „Die Schreiberei läuft langsam an.“ Referenzen, Referenzen („Everything ist 3D blasphemy“ »Slipknot«). Der Geschmack von Metall macht sich breit, Druck zwischen den Kiefern, wie beim Zerbeißen von Aluminium, Kupfer, Zink, Zinn, doch es gibt nicht nach, genau wie die Wut (Stromkästen): Sie ist da, immer wieder, eruptiert unter Fingernägeln, in Zahnwurzeln, verhärtetes Gewebe wie Schwielen, Wurzeln, die sich durch den Asphalt pressen: Tropische Strände. Reisebüros. „Chasing moments, hoping they invoke hits; hope is all you‘ve got.“ »Drug Church«.

7 Nächte, All in, Coco de Mer Hotel, Black Parrot Suites: 1441€. Einrichtung: Steinzeugfliesen in Marmoroptik, weiße Raufaser, Poster wie Simulationen von Blicken aus dem Fenster, Freischwinger, Kullis in Gitterbechern, Pappaufsteller, die von den Mitarbeiter:innen kaum zu unterscheiden sind. Das Poster macht die Nacktheit nicht angezogener und die Kargheit ist Minimalismus mit negativer Konnotation. Ich weiß nicht, wann es zuletzt still gewesen ist auf den Straßen, in den Ruinen: Abgehangene Decken im Altbau für 1600€/70qm, vollgepisste Kaufland-Prospekte vor der Tür inklusive, zwei von acht Briefkästen aufgebrochen, aufgehebelt, wer weiß das schon. Mir kommt die Frage, warum Schuh- und Schlüsseldienst immer zusammen auftreten? Die Prospekte sind schuld an diesem Gedanken, bemühen sich aber keiner Antwort. 23Uhr14: immer noch 28°. Die Viertel auf dem Stadtplan sehen aus wie japanische Schriftzeichen: Ein willkürlich aneinandergeklatschter Haufen Straßen und verrotteter Alleen. Ein kulturell domestizierter Abfüllbetrieb. Bordsteine als die einzigen Siegertreppchen.
Unterdessen: Aufhebung des Verweilverbots am Brüsseler Platz, Mittelscheitel, Autry, Weinschorle in 0.33 Flaschen, Anstehen am Kiosk für 2.20€ Bier, als Revoluzzer Performance, billiger Dirty Techno, Parisienne, altdeutsche Vornamen: Kurt, Hubert, Ernst, Franz, Walter. Auch die Südstadt ist voll von Cafés mit solchen Namen. Es gibt für alles ein Konzept, es lässt sich alles zu einen Konzept zerquetschen, du musst es nur ganz besonders nicht-wollen. Die Bienen zur Blüte – Die Fliegen zur Scheiße.

„Why do people have to live outside? When there are buildings around us, with heat on and no one inside?“ »Chat Pile«. Ich bereue es fast schon, mich in die 15 Richtung Chlodwigplatz gesetzt zu haben. Der gestrige Sommer und seine Hitze hängen wie paralysiert in den Bauteilen der Bahn. Wie ins Glas einmassiert, ist die Scheibe aufgeheizt, der Plastik, das Knarzen des ewigen Zuspätkommens, die Wespe, die einen nicht in Ruhe lässt, die immer gleichen Häuserfassaden vor dem Gesicht, die immer gleichen Fressen, Altbau wechselt sich mit verbauter Nachkriegsarchitektur ab. Baulückenschließungen im Flickwerk in betongewordenen Provisorien für die Ewigkeit und Ewigkeiten, bedeuten selten etwas Gutes. Versifft gekachelte Wandverkleidungen rahmen leblose Brackwasser Schwimmbecken ein, neben abgekratzten Fassadenstuck: weg mit dem Alten, her mit dem Einfachen. Der Weg ohne Widerstand. Dinge nehmen und sie nicht ersetzen. Die Südstadt ist ein einziges strahlendes, selbstzufriedenes Lächeln hinter Sonnenbrillen.

(Nacht, Stadt) – deine Augenringe: Der Beweis dafür, dass du hier warst. Teure Klamotten aus billigem Stoff an vor sich hin vegetierenden Körpern: Camus und das Absurde.
Einsichten sind Handtuchhalter: „Die Stadt ist teuer, mein Lieber.“ Teure Seifen „Bergamotto di Calabria“ für die Psychohygiene. Ich habe sie selber in meiner Wohnung, sie war ein Geschenk und ich müsste lügen, wenn ich sage, sie würde nicht gut riechen. Jedoch können wir uns gegenseitig nur enttäuschen und das ist positiv, genau wie die alltäglichen, allgegenwärtigen Dinge, von denen ich keine scheiß Ahnung habe, wie sie überhaupt funktionieren. Das iPhone, Literatur, Autos, Oberleitungen, Dinge durchziehen. Tanz fehlerfrei, in Sicherheit. Gekritzelte Notizen, guter Rat ist Nostalgie und deine Erinnerung: dein Versagen, ein erneutes Sich-selbst-vor-Augen-führen.

Großstadt versetzt mich immer in eine Melancholie von Distanzen zwischen Menschen, horrenden Mieten, Puls in den Augen, geballten Fäusten, joggenden Bankern. Es weht kein Wind von links nach rechts, rechts nach links. Nur weiße Hitze drückt von oben nach unten. Mir ist aufgefallen, dass Augen seltener blinzeln, wenn sie auf Bildschirme gerichtet sind und dann das angetrocknete, gepresste, druckvolle Schließen um die wieder zu befeuchten. (: „Misstrauen“: in großen Lettern, auf einem Bildschirm. Es flackert noch nach, wie visuelle Sirenen, der Rettungswagen der sich gerade wieder entfernt.) Dort unten im U-Bahn Schacht, am Gleis, ist es still und wesentlich kühler als auf den Straßen Kölns. (wieder Linie 15 Ubierring): U-Bahn Haltestelle Rudolfplatz, die aussieht, wie ein brachliegendes Schwimmbadbecken. Orangene Hartschalensitze, Komplementärkontrast: Warum verstehen die Leute einfach nicht, dass die Fenster geschlossen bleiben müssen, damit die scheiß Klimaanlage in den Bahnen funktioniert (Komplementärkontrast!). Es sind Fragen wie diese, die sich in meinem Kopf verkrampfen wie Tackernadeln. Es gibt Dinge, die ändern sich nie. Die Pflastersteine machen ihren Job, die Hausnummern machen ihren Job, Brailleschrift auf Geländern macht ihren Job, Kioske machen ihren Job, Güterwagen machen ihren Job, Bürgersteige machen ihren Job, Ampeln machen ihren Job, meistens jedenfalls, Parkhäuser machen ihren Job, Haltestellen machen ihren Job, Masken machen ihren Job, jedenfalls für die Psyche, der Alkohol macht seinen Job und das sehr gut, Brücken machen ihren Job, der Sperrmüll macht seinen Job, Litfaßsäulen machen ihren Job, Straßen machen ihren Job, Reklametafeln machen ihren Job, der Gestank nach Ammoniak macht seinen Job und alle wissen, wie man existiert. Sie brauchen keine Gedanken, keine mentalen Mechanismen, um Erlebtes fernzuhalten. Sie sind so wundervoll reduziert, dass der Gedanke an sich überhaupt nicht nötig ist. Das Ding bzw. der Gegenstand und der Gedanke sind zwei Parallelen, die nicht zusammenlaufen dürfen, wie Zugschienen.

(:Parkuhren machen ihren Job, auch wenn man sie dazu zwingen muss, doch diese Worte machen ihren nicht.)

Und wieder Zeitverzug, Zeitverschwendung, Zeitverzögerungen: Irgendein verpräfixter Verlust in sich. Wärme, Glas, bitter old Queens in Rachenhöhlen, langsame Bewegung, wie ein Tanz in Butter, der Film Suspiria fällt mir ein, ein guter Film (:erinnere ich mich). Wiederholung: „Wiederholungen sind Finger in der Wunde“. Farben sind aus Erinnerung rekonstruiert und Menschen sind, glaube ich, da. Wie Kommata im Text. Ich kann meinen Kopf nicht heben. Nur ein Blau sehen, die Jauche ist billig, der Wille ist teuer. Wo einer ist, sind Viele: Monopoly. Nur dass die Wut keinen Plural hat, auch der Zorn nicht. Es ist immer am wärmsten in der Kühlschranktür. Bist du in der Kühlschranktür? Wie BBQ Sauce? Wie grobschlächtig ausgequetschte Tomatenmarktuben?

Ich hoffe immer, dass kein Wort kopiert ist; Solange ich Schlaf will, schlafe ich, denn solange ich Träume will, träume ich. Richtig gut drauf. Darauf, das die Welt anders ist. Haha. Als ob die Welt als Wort greifbarer wäre. Das Loch weiter weg und Dreck schmackhafter. Zeig mir das Lagerfeuer, gib mir doch etwas, dass ich betanzen kann.
Verschlagene Blicke im Seitenspiegel sind wie Theorie, nicht durchlebt, nur durchsiebt: Das, was übrig bleibt, ist der Moment, in dem einem alles egal ist. Mir ist nichts egal, dieses Wort ist eine artfremde Erfindung, wie Stillstand: ruhendes Gewässer, klares Wasser.

Halbhoch (:Gemessen an den Gebäuden, die die Hauptverkehrsader bewuchern) fliegen Tauben im begrenzten Raum auf Fluchtpunkte zu. Ohne die Hektik des Asphalts. Keine Suche nach Brot- oder Chipskrümeln zwischen Kippenfiltern und Kotze am Friesenplatz. Vorbei an Altbauten mit halb verwahrlosten Erkern und Balkonen, mit Säulen, wie klassizistische Mittelfinger. Ich muss mir immer vorstellen, wie ein Aristokrat oder Kleriker von diesen statischen, von Abgasen angefressenen Balkonen und völlig gesellschaftlich akzeptiert, irgendwelche Klagetiraden auf den Pöbel rhapsodiert.
Halte die Luft an beim Vorbeiziehen der anderen Passanten auf den gut 4-5 Meter breiten Bürgersteigen: halb Pflasterstein halb Gehwegplatten. Atme aus, wenn sich nach wenigen Metern, die Gerüche in der Luft verflüchtigt haben. Es sind nur wenige Schritte, irgendwann kommt das Gefühl dafür. Es ist eine Witterung: Kopfnote Erwartungen, Herznote Defensivmechanismus und der Basisnote gelbe Zähne. Durch die sich die freilaufenden Schaufensterpuppen selber belügen. Marschieren an mir vorbei, wie ein
geliebter Alptraum. Wie Fallobst: Ich falle gelassen, werde fallen gelassen.
Die abschüssigen Straßen der „Ringe“ hinunter. Ein Teufelskreis: jeden Tag aufs Neue. All diese Gerüche, verklumpen sich, mit Mehl angedickt in meiner Nase und ich bin jeden Abend damit beschäftigt diese räudigen Klumpen, wie eine Erkältung aus meiner Nase zu prokeln. Investiere Zeit vor dem Spiegel in diesem kleinen gefliesten Badezimmer meiner Ein-Raum- Wohnung. Wer bist du überhaupt? Geboren als handschriftliche Notiz, wie will man Individualität rechtfertigen, wenn man sich alle Mühe gibt, eines dieser Mannequins zu sein? Entliebt, hartschalig und abgeklemmt, berechenbar wie die Schufa.
Mir bleibt nur, die Gedanken aufzuschreiben, welche ich noch nicht gedacht habe, um irgendeine Form von Besonderheit vor mir selbst zu rechtfertigen. Unterhalten werden, statt zu unterhalten, weil man denkt, man hätte es verdient. Abgenutzte Erwartungen: Es wurde soviel investiert in die Reaktion anderer Leute, in Fischgrätparkett, in Meetings (diese widerliche Attitüde nicht abwarten zu können, um endlich zu erwähnen, dass man noch ein Meeting hat), in Uniformen, ins Ficken. Alles nur noch für Reaktion. Zirkus.
Dabei liegt alles brach: in Formen gepresste Plastiksplitter. Bücher werden nicht mehr gelesen, sondern drapiert, Musik nicht mehr gehört sondern verkümmert als Deko in Räumen, als das knittrige Winseln des Luftstoßes aus den Lautsprechern, nur noch ein Programm auf Computern das im Hintergrund läuft – wieder alles nur für die Reaktion.

(:zu sagen, dass wir alle individuell sind, macht uns nicht dazu. Das ist nichts, auf das man sich verlassen kann. Affirmationen sind nur die Feststellung, dass du von dir denkst, dass du eigentlich ein Stück Scheiße bist.)

Wir wählen aus einem Schaufensterscheißhaufen an kaufbaren Identitäten. Das vermeintlich Anti-kapitalistische kaufbar gemacht. Genial. Überdosen im Kölner Winter. Drei Grad und Regen/ schneidender Wind/ Seiltanz auf Fahrbahnmarkierungen.

Reisen per Zug: Es sind immer wieder die gleichen Sinneswahrnehmungen/ flachlandiges Phantomerlebnis. Die gleichen fassbaren Empfindungen, die gleichen Verklebungen, egal, was man anfasst, die gleichen Krümel in den Ritzen, die gleiche 90° Ergonomie der Sitze, die gleichen Fragen der Kontrolleure, der offensiv gelangweilten Reise- und Bordmagazine, die nur einer kurzen Bewegung als Antwort bedürfen – Automatismen erfordern keine Sprache – Züge dürfen nur so attraktiv sein, dass du froh bist, sie wieder verlassen zu können. Das Unterbewusstsein grätscht in die Sicht: erzählt mir, ich solle Landschaften schön finden (:diese Verlassenheit?), dass Bäume sich wegen der Hitze schon Mitte August für den Herbst entscheiden? Gespräche darüber, wie erstrebenswert es ist, sich über Geld, Beschäftigung, Musicalbesuche und hohe Ansprüche zu definieren: jedes Wort sollte Angst haben vor der Lebensweisheit, dem Klischee: Aus der Scheiße kommst du nicht mehr raus: Lebenslänglich verwesende Körper.

Ich frage nicht, wage es nicht, zu wissen, ausdruckslos wie Originale: error. Abgebrochene weiße Haare auf rotbrauner Haut, abseits des Kulturbetriebs: Urlaub wie Vegetation auf verbrannter Asche, 7000 Betten auf dem Weg nach Oslo und Wünsche, die selbiges Ziel haben in stotternden Äußerungen: „All I wanna do is dance!“ »Gorillaz«. Ich will sehen. Die Lichtleisten oberhalb der Sitze, welche ein kupferorangenes, warm ummantelndes Gefühl simulieren sollen, damit die Fahrgäste ebenso simuliert schlafen können. Wenn nur das sterile, zusammengerottete Weißlicht direkt daneben nicht wäre. Das Einatmen dauert länger. Piktogramme, Pfeile, daneben kurzer Text. Warnungen sind serifenlos: Die sichtbaren Farben würden braun ergeben. Ich habe gegoogelt, welche es sind. Es ist irrelevant. Stofffetzen: Gurte von Rucksäcken, Ärmel von Zippern, Hoodies hängen von der Ablage oberhalb der Köpfe, wie Arme eines Gefängnisinsassen, die durch die Gitterstäbe gesteckt sind und entsagend an ihnen herunterbaumeln: Dead Man Walking, [indistinguishable chattering]. Migräne wie Kopfsprünge in zu flaches Wasser.

Das Atmen geht weiter: zur Zeit ist jedes Wort heimatlos, ein beschissenes Hotelzimmer. Doch meine Müdigkeit macht mir meine Wut abspenstig. Ungerade Zahlen sitzen am Fenster. Ein Gefühl, wie leerstehende Lagerhallen. Die Scheibe zwischen mir und dem Außen bewirkt, dass ich es anstarren muss wie Tiere im Zoo. Was wäre, wenn ich mich selbst in den umnachtetem Landschaften plötzlich sehen würde? Auf den stillgelegten, jedoch beleuchteten Gleisen? Der Affe auf seinem Felsen. Betrachter und Betrachtetes. Hätte ich die gleichen Klamotten an? Keine Ahnung. Für das Thema Kopie bin ich definitiv zu müde. Richtung festgelegt. Es geht dort, hier, woanders lang. Der Zeigefinger deutet in Himmelsrichtungen, durch Kunststoff, durch Stahl, durch Körper. Wind: ablandig. Ankunft Köln Hbf.

Microfoam, flat white: Menschengewirr auf Fließbändern, ein weißer Wagen mit abgebrochenem Scheibenwischer an der Heckscheibe nimmt die Vorfahrt auf dem gefliesten Bürgersteig, siedende Wahrnehmung, Augen, die auf Augen treffen, dann Wegschauen, Geländewagen auf Pflasterstein, klingt wie Eier in kochendem Wasser, grell gehemmte Berührungsangst bei stammelndem Versuch die Liebe zu erklären: der Geruch das Gefühl, das Gefühl die Sicht, die Sicht auf zehrende, verblichene Bäume im Indian Summer. Super 2.12€, Verwahrlosung hat einen hohen Preis, Schatten. Knirschen. Gullideckel, Straßenlaternen bei 33°, Häuser als Trennwände, Einfahrten, vertrocknete Müllfetzen passen sich dem Laub an, 03. September 2022:

(:Karneval das nennen sie Kultur.)

Überall auf den Oberflächen, der pervertierte Versuch etwas zu hinterlassen: Sticker, Graffiti, Klebereste von Tesafilm, Spuckis, alle wollen sich dazwischen quetschen, um dabei zu sein, um gleichzeitig unterzugehen: 5 min Zollstock, falsche Bahn, Straßenecken, Ladezonen, Großstadt Köln, knappe Million, nachts 01:00-05:00 kein ÖPNV: Postmomentaner Feinschnitt, Bauschuttcontainer.

Trockene Haut; dieses sich immer wieder in gewisse Situationen bringen, um bestimmte Gefühle nochmal zu erleben. Lächeln wie Gitterzäune und wieder das Echo: immerwährende Kopien der Kopie – Vergessenheit. Sonntagmorgen: der Geruch von Teer. Rudolfplatz, Baustellenfahrzeug, gelesen: „Gegen soziale Kälte“, versiegende Gesichter, Tauben auf einem Obdachlosen. Sie sitzen auf seinen Knien, Bilder: Federn streichelnde Gottlosigkeit, verschweißte Stille.
Wir wachsen mit diesem Zauber auf. Restentleert, rabattiert, Taubenabwehr Spikes statt Zähne in der Fresse. Gedanken an Samsara: ich bin Linkshänder und Linkshänder packen sich mit links in den Schritt. „Kauf mich!“ Wenn du fragst, nenn‘ ich meinen Preis.

Die beobachtende Funktion – aus der Ferne: Sehe zu, wie die Bahn vorbeifährt/ Weiden West. Sie lässt mich keine Dreidimensionalität erkennen. Restaurants, Dönerläden, Büdchen, Kettenbäckereien, mich würde es nicht wundern, wenn sie diese Requisiten einfach beiseite tragen würden, und Puppen, die den Puppenspieler anstarren. Jede verfickte Nacht: jede*r hat in dieser Stadt scheinbar konstant etwas zu sagen, wie der Gestank nach Pisse, der im Hauptbahnhof konsequent in der gleichen Intensität aufrecht gehalten wird, wieder und wieder und wieder Automatismen, die keiner Sprache bedürfen; den Ring runter/Ehrenspalier. Fünf Fächerpalmen, winterhart, auf der Verkehrsinsel. Wirken in dieser Umgebung, an diesem Kreisel, auf der Bonner Hauptstraße schon fast wie Straßenschilder in Camouflage, billig drapiert, wie erzwungener Smalltalk. Leute bestellen ihren scheiß Kaffee in Stichpunkten und Befehlsform. Wofür wollt ihr Zeit sparen? WOFÜR wollt ihr alle Zeit sparen?

Sperrmüll dicht an die Wand gedrängt wie bei Regen.

Erinnere mich: Gehe durch Abwesenheiten, konstruiert, wie Nichtssagendes und die Angst auch nichtssagend zu sein: Plattitüden. Ich sehe die Abwesenheit an den Häuserwänden: Alles hat einen Namen? Rohschnitt: Aneinanderreihung von Bildern, Rohputz an den Wänden der Gedanken, das vorherbestimmte Nicht-Verstehen – Southsea Island, Fiji – oder das Drecksloch Kölner Hbf, 45° Winkel sind fucking kurz davor auszurasten. Die Wirkung ist eine Zwangshandlung, die Wut ihre Bestätigung. Siehe Samsara: Die Verblendung ist das Schwein. Welche Entscheidungen willst du nicht treffen? Frag dich das mal. Werbung für Dosenkaffee. „Das ist eine Insel. Die finden uns immer.“

Der Wahnsinn des Widerhalls. Das Echo ist in all seinen Varianten ein toxisch akustisches Phänomen. Die Gegenwart hat in der Zukunft nichts zu suchen, unser aller Existenz ist oder war jemandes Hölle: eng umschlungen, ineinander, doch beide starren ins Leere. Im selben Bett. Die Arroganz nicht hinzuschauen gepaart mit der Unsicherheit von nach innen zeigenden Füßen. Es wird geredet/Ressourcenverschwendung, als hätte jemand auf Aufnahme gedrückt: Lebendigkeit weicht einem vergärten Zustand. Situativer Brechreiz nach dem kontrastlosen Gerede, in sich nur auseinanderfließende Monologe und der Geruch nach versengten Haaren. Undurchsichtig wie ein Abtropfsieb, Überraschungseier sind Vollmilchschokoladenhohlkörper: Das Servicepersonal des Cafés entschuldigt sich für mittelmäßigen Hochbetrieb, leere Bewegungen, Blicke, durchlöchertes Laminat, als würde sich etwas anderes darunter verbergen, als Beton und Grundbesitz anderer, die grundsätzliche Entscheidungen fürs Gegenteil. Ansichtsexemplare von spiritueller Pappkartonliteratur, anmutig positioniert wie Kantinen in Möbelhäusern: Philosophische Bedeutung des „woanders“ und schlecht gealterte Diagnosen auf zwei verreckten Beinen. Alles beginnt mit Verneinung: da stimme ich überein.

Ich wache auf: leergesaugte Kippenstummel, Säbelzahntiger in Ruinen, rechteckige Geräusche ebben ab und fluten, wie die Gezeiten und ist das, was ich hier Schlaf nennen muss: stummes Hundebellen, in Sachbüchern. Stampfender, maschineller Schichtwechsel, Altglaspragmatik: die Straßen im Stadtbetrieb voll ungewollter Dinge, dampfendes Körpergewicht wälzt sich in Nasen, verkohlte Wiesen wehren sich gegen die Formlosigkeit, Stadtranderholung innerhalb der gebleichten Grasnarben.
AC AB, Aachener KFZ-Kennzeichen/Neumarkt: Kippen stopfen vorm „five guys“/ Pall Mall Gigabox 245g für’n schmalen Taler. Alles wird in die gleichen komatöse Routine gerissen. Ich wundere mich, dass die Tauben in den Unterführungen mich noch nie angeschissen haben. „Elektrizität!“ Keine Ahnung, was das überhaupt ist. „Outsider Pop ist Übersetzung.“, Monty Python Abspann, Menschentrauben auf Gehwegen, gleich kommt der Bus, um sie abzuholen.

Hier ist alles so nah aneinander, dass es sinnlos erscheint, jedem einzelnen Teil einen Namen zu geben. Eine verklebte Masse/ Routine erinnert sich an nichts. Die Fahrbahn des Karolingerring erinnert mich an nichts, der verlassene Müll erinnert mich an nichts, die Namen auf dem Klingelschildern erinnern mich an nichts, Reinigungsfahrzeuge der AWB Köln erinnern mich an nichts, das Hahnentor erinnert mich an nichts, verpasse knapp die Linie 12, welche ich auf halber Strecke eh hätte wieder verlassen müssen: Eifelstraße.
Schriftliche Notiz: tote Pflanzen/ es gab einmal mal jemanden, der sich kümmern musste, wie Venen in Schwarzlichttoiletten.
Neonschrift in bodenlosen Pfützen/ reich genug für Geduld: „Ice cream solves everything.“ Es ist nicht verifizierbar, ob das hier schon einmal geschrieben wurde, und warum sollte ich den Postboten mit Prinzipien langweilen, wenn ich sie trinkgeldartig abwerfe. Abfallbehälter entleert, Kartonagen zerkleinert, die Existenz von Flüssigkeiten leugne ich nicht. Existenz in Flüssigkeit/„Fanta Korn!“: ausgesetzte Depression, Installation von Gedanken vom Anfang, in sich nicht fortbewegenden Wolken (NOPE), ejakulierende Bildschirme, vom Himmel verschwendetes Grau, grobkörnig gemahlen, 42g auf den 3/4 Liter Wasser, gefleckte Erinnerungen sind wieder da. Der Dreck liegt brach im Schatten, neben engmaschigen Licht: Mit der Stabilität von Pressspanplatten/ Witterung an geöffneten Gitterstäben/„ist natürlich kein Problem!“/doch gerade die Natürlichkeit birgt das Problem (und wieder: Wiederholungen sind der Finger in der Wunde). Schwaden von Müllgestank/Brennnessel zwischen Panzerketten/Lo-Fi. Verbrühte Haut und chemischer Juckreiz.
Ich fühle mich wie Ikea Korkuntersetzer.

Miniaturen: schwankende, schwitzende Größenverhältnisse, sechs- bis achtstellig, versilbertes Fieber: der medizinische Begriff für Stacheldraht./ Es wird sich gewundert: Dinge, die angeblich anders waren, doch niemand fragt nach – denn die Antwort welkt unterbewusst in den Köpfen vor sich hin. Traum/wach Metamorphosen: Der Verwandlung stehe ich indes kritisch gegenüber. Nachtaufnahme/Reden im Schlaf: Nachts ist die Stadt orange. Abstrakte Farbgebungen verweigern sich ihrer Beispiele, in geometrischen Formen aus Licht – sichtbarer Ordnung. Datumslose Erinnerung/„old data in a dead machine“ »vein.fm«:
Taktloser, verregneter Wintermorgen: drei bis vier Grad, maximal.
Einer dieser Morgen an dem ich zu früh wach werde. Monoton routinierter Regen, entjungfert das anthrazit orangefarbene Licht, wie ein scheiß Mittelfinger. Der noch schlecht verdrahtete Blick aus dem Fenster lässt keine Schätzung der Uhrzeit zu. Wie das Testbild mit dem verdammten Tinnitus Dauerton – Volume acht – als wäre ich vor dem Fernseher eingeschlafen.
Ich sehe nichts, nichts was mich zum Nachdenken anregt und doch alles. Es sind die Gedanken, wie gedämpfte Verkehrsgeräusche, sie verschwinden im Hintergrund, weil sich etwas vermeintlich Wichtigeres aufdrängt, als Lebendiges getarnt. Gestauchte Notizen, wie das Ende der letzten Zeile, auf der Suche nach Auswegen, Fortführungen oder eine Gabelung die mir die Illusion von einer Wahl lässt. Ich weiß genau, was mich erwartet, wenn ich aufstehe und heute wird ein Scheiß anders sein. Keine Wendung im ersten Akt.
Ein schmaler, gerader Schimmer, unter der Tür, wie ein Strich mit einem Pinsel, dem die Farbe ausgeht, erhellt schwach das verdunkelte Zimmer. Jeden Morgen ist es das Gleiche zu dieser Jahreszeit. Diese Verdüsterung durch die Straßenlaternen und die konsistente Kälte sobald ich aufstehe. Nachts ist die Stadt orange.

Gegenwart, 06:04: Reinigungsfahrzeuge, Wegwerfkulissen/ akustische Blinkersetzung/ Poller und Absperrpfosten, rauf und runter, wie zahnende Straßen/ abgewetzte, gewöhnliche Zwecke, wie Amateurpornos, Pfand neben Mülltonnen: ausgewogener Alltagsaltruismus „(G)litter!“/ vom Hunger zu Fütterung. Der Wachzustand kommt mir vor wie abgefangen, erwischt, zuvor entglitten, was die Bedeutung einst war: Ein vergangener Zustand von dem das Wort, in der Gegenwart nichts mehr wissen will. Kunst, Kunst ist Petersilie/ in Setzkästen auf verklausulierten Balkonen/ scheiß gruselige Schaufensterpuppen/ „please don‘t write upward“: Damit lass ich mich hier stehen. Zertretene Glasscherben verkeilen sich im Schuhprofil/ ein staubiger angetrockneter Haufen Scheiße, unter den Fenstern der Engelbertstraße 55/ abgeblätterte Straßenmarkierungen, wie kalbende Gletscher. Prioritäten der Farben sind wie verschoben, kümmern sich mehr um die Dingwelt, Sachbezug. Alles was öffentlich zur Verfügung gestellt wird, für das Gemeinwohl, wird ramponiert, zerstört in den Rhein geschmissen, vollgekotzt. Die Wut.

Um diese Uhrzeit erzwingen die Schaufenster Blicke: entkoffeinierte, urbane Persönlichkeiten./ Endlich mal Leute, die die Schnauze halten, während sie sich unterhalten. Es wird kälter: Der Wind bricht Schneisen in die elastischen Lufträume/ verwachsene, fabrikartige, gedachte Mehrzweckhallen sind auch nur Ausreden/ unterbrochen, kein Ausreden: Hinter der Haut sind Totenköpfe gefolgt von besitzloser Stille, als Ergebnis. Gespräche verenden in oberflächlichem Vokaltourismus. Ich senke meinen Kopf, meinen Körper, wie der versiffte Spüllappen über dem Grünspan Wasserhahn. Die Luftaufnahme: zerkaut knirschend die Umgebung. Ist diese besitzlose Stille immer das Ergebnis von Sprache?


The Broken Artist

Struggling with depression
´n´ loneliness all the time
Drinking too many bottles
of the good old red wine

it reminds you of blood
when it drips on the lines
you currently wrote
with much more on the mind

you felt too deep
you felt too much
the heart is in ache
you felt that touch

of words – spoken to
your soul
you´ve never felt normal
you´ve never felt whole

you keep writing and writing
and nobody cares
and you keep going
´till somebody shares

this deep connection
with the words
the world, the people
and the birds

The Broken Artist


wie ich dir

Mama
deine
Inseln
schwinden.

Und deine
Wälder ziehn
sich stumm
unter ihr Blätterdach zurück.
Kein Licht,
kein Wind
entweicht dem Schweigen.

Mama, Mama
deine Böden
rosten.

Und deine Flügel
singen nimmermehr.
Kein Nest,
kein Heim
beschützt ihr Gleiten.

Mama,
Mama! Mir
wird nass,
mir wird kalt
in deinem Kleid.

Ich hab mein
Kind verlorn
in deiner Welt.

Ich hab mein
Herz in deiner
Liebe
kaltgestellt.


Nachwort #11 – Moorbrand

Der Konsum zehn kleiner Hochmoorgeister an einem Abend ist auch für langjährige Redaktionsmitglieder unmöglich. Sowieso wird seit geraumer Zeit der Konsum von Alkohol während der Redaktionssitzungen nicht mehr empfohlen. Dies dient nicht in erster Linie dem Schutz vor dem berüchtigten Brand, sondern viel mehr der Wahrung des ordnungsgemäßen Ablaufs oder anders gesagt, dem Arbeitsklima. Dem KLW e.V. liegen plakative politische Aussagen fern oder wiederum so nahe, dass sie prinzipiell hinterfragt werden sollten. In diesem Fall gibt es allerdings keine zweite Meinung, nur lokale Ideologien und globale Realitäten. Es fällt uns also leicht von Hochmoorgeistern, Bränden und Arbeitsklima die Brücke zu (Hoch-)Mooren, Trockenheit und dem Klimawandel zu schlagen. Es war uns ein Anliegen euch Teil dieser Brücke werden zu lassen.

„Es ist sehr wichtig, degradierte Moorflächen zu renaturieren, um weitere klimawirksame Ausgasungen (CO2, Methan und Lachgas) aus dem mineralisierten Torfkörper zu verhindern und die Funktionen als Lebensraum, Wasser- und Kohlenstoffspeicher wieder herzustellen. Das Mittel dazu ist die Wiedervernässung, bei der die Abflussgräben wieder dauerhaft verschlossen werden. Wasser wird schnell wieder angestaut, und Torfmoose siedeln sich an. Die eigentliche Renaturierung, das erneute Anwachsen des Torfkörpers, dauert aber Jahrhunderte.“ (Bergwaldprojekt 2023)

Wie jede andere Transformation beginnt auch die sozial-ökologische in unseren Köpfen. Wollen wir also Moore renaturieren, so beginnen wir doch mit der Renaturierung unseres Denkens und unserer Sprache und verfallen dabei nicht in romantisierende Muster. Dabei dient die Vielfalt der in dieser Ausgabe enthaltenen Texte wohl möglich als erster Schritt.

Beschluss der elften Ausgabe der Kollektiven Literaturzeitschrift Würzburg und die Einladung zur stetigen kritischen Begleitung unseres Projekts Würzburg, Fränkische Literaturmetropole. Wir danken für Geduld, innere Reibung während der Zerreißproben und schlicht für Aufmerksamkeit und Gelesensein. Wir danken den Autor:innen. Auf eine Ausgabe #12, empfehlt uns. Wir sind nicht Untergrund. KLW in Glanz und Glorie.

Florian Bötsch