Ausgabe 12

  • 28/07/2023

Vorwort #12

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Heidenei, mach mer‘s Dutzend voll!

Grüß Gott, Servus und Moin zur neuen Ausgabe (oder einfach: Herzlich Willkommen, Bienvenue, Welcome, 환영 in derselben), die sich nahtlos schließt an Lesereisen, Pinselstrich auf Autobahnen, Zuggeleisen zwischen deutschen Landen und öster Reichen. Die KL-Würzburg sticht über Stadtgrenzen hinweg, liest und reist und lässt das Kollektiv erfahrbar werden, erschafft Gesichter zu den Texten, die sonst nur auf diesen Blättern stehen und es ergeben sich:
Neue Handschrift
Neue Namen
Frischer Wind
so durch uns, die Vorwortschreibenden, die in kaltem Wasser, der Forderung gerecht zu werden suchend und mit politischer Professionalität, ahnungslos ihr Bestes geben, jungen Vögeln gleich, die die Mutter aus dem Neste schubst.

Wir präsentieren die neuste Sommer-Kollektion, die gefüllt ist von Birds&Words und Freiheit und allem, was auf Wegen eingesammelt wurde. Hier werden Flügel aufgespannt, die Gurte gezurrt und genau wie die gedruckten Texte immer weitere Strecken zurückgelegt – von Würzburg weg und aus weiter Ferne nach Würzburg hinein.

Diese Ausgabe soll Wellen und mit Flügeln und Herzen höher schlagen lassen, so der fromme Wunsch, den nur das Lesen des hiernach folgenden erfüllen kann. Franz Kafka meinte einst, ein gutes Buch solle die Axt für das gefrorene Meer in uns sein – möge diese Ausgabe dazu verleiten, Risse im Eis zu vertiefen, damit das Flüssige drunter befahr- und durchschwimmbar werde.

Versuchend, das Lesen zu eröffnen –
Jakob Hagen & Rick Lupert


intermediatin‘ indifférence

[…] climbing an astral path my eyes
are exhumed nothing seems to last i
will always hesitate a bit […]
– seed; yves tumor

sei parameter eines kanals fuer die stimmen
des andren as ur voice will always represent
other ones laesst du dich treiben verfuehren
via solitaere ideen beatmen that really were
just concepts deines fluiden dazwischenseins
indem die einzigen moeglichen revolutionen
sich in dir ereignen muessen & yes therefore
right outside ur persona evolves around dark
energies entreiszt du dem schweigen wueste
hypothesen deren bandbreite jedwedes wort
auffressen wuerde waere da nicht some kind
of momentum carrying u away but where to
fraegst du & merkst dass du schon sehr lange
absent bist & ploetzlich flackern bunte blitze
auf creating new patterns shaping story lines
merging with the patience u had lost frueher
als dir die welt noch wie ein ziemlich radikal
von dir getrenntes irgendwas erschien u saw
urself quite clearly namely a pretty awkward
abomination eine bizarre bis relativ perverse
mutation consuming thoughts inside ur mind


Heilige (W)orte

Die Kirchenbesuche mit ihrer Großmutter bereiteten ihr als Mädchen besondere Lust. Jeden Sonntag um neun, nachdem sie einen Malzkaffee getrunken und ein Briochekipferl gegessen hatte, durfte sie die mit Handschuhen und Hut feingemachte ältere Dame in die katholische Messe begleiten, neben ihr in der strengen Kälte auf der linken Seite des barocken Kirchenschiffes sitzen, wo die harten, dunklen Holzbänke für die weiblichen Gläubigen bereitstanden.
Sie fühlte sich dabei sehr ernst und erwachsen und kam sich so hübsch mit ihren aufgesteckten blonden Haaren vor, dass sie das Gefühl hatte, der geschnitzte Jesus am Kreuz zwinkere ihr flirtend zu. Den Pfarrer hielt sie ohnehin für einen ständig Verliebten, weil er seine Arme immer so ausgebreitet hielt und den Blick abwechselnd anmutig hob und verschämt zu Boden senkte. Außerdem trug er ein äußerst reizvoll wirkendes Kleid, unter dem hin und wieder weiße Spitzen hervorblitzten.
In der Luft hing der Geruch nach 4711 der Großmutter und zarter Weihrauchduft – etwas Aufregenderes konnte sie sich nicht vorstellen.
Die ganze Stimmung in dieser höhlenartigen, kerzenlichtgetränkten, gold- und dunkelrotdurchwirkten Kirche erlebte sie als zutiefst erotisch und ließ sich jedes Mal heimlich erregen davon. Immer wieder strich sie verstohlen mit der Hand über die samtrot bezogene Kniebank und über den goldbedruckten Einband des Gebetbuches. Bestimmt war der Heilige Geist in Form einer Taube schon in sie gefahren.
Die goldgerahmten Gemälde an den Wänden schienen geheimnisvoll aufregend durch ihren gleichzeitig ekstatischen wie schmerzverzerrten Ausdruck.
Sie ließ den Pfarrer nicht aus den Augen, der so viel von Blut redete und vom Fleisch, das „für euch hingegeben wird“. Besonders begeisterten sie jedes Mal die verschiedenen Formeln in altertümlicher Sprache, die nach einem bestimmten Ritus gesprochen wurden: „Ich bin nicht würdig, dass du eingehst unter mein Dach“ oder „Das ist würdig und recht“ – wie feierlich und wohlgesetzt die Worte wirkten und wie unverständlich zugleich – sie konnte sie immer wieder anders interpretieren. Manchmal dachte sie beim Dach an eine Hundehütte, das andere Mal an einen Obdachlosen, der bei ihr zu Hause sterben wollte, usw. Am meisten fasziniert war sie aber von dem Spruch „Und sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund“. Die ganze Messe hindurch wartete sie auf diesen Satz, der eine tiefe Sehnsucht in ihr weckte und sie zu Tränen rührte, die sie allerdings mit großer Mühe zurückhielt, um die angenehm leidvolle Stimmung noch zu erhöhen.


Der Wal

Beginnend mit dem Einfall der Sonne wurde der Steinbruch im Sommer strahlend vor Hitze und Helligkeit. Das Geröll brannte, wenn er es berührte, und die Stille sprach vom Tod. Alle Insekten verzogen sich, nichts summte mehr. Nur ein paar Echsen hielten es auf den Steinen aus.
Für ihn bedeutete das, einzupacken, alle Werkzeuge einzusammeln, in den schattigen Wald zu gehen, wo sein Auto stand und den Kofferraum mit seinen Funden zu beladen.
Vor einigen Millionen Jahren war hier ein Riff gewesen, Heimat von Korallen, Fischen, Mollusken und sogar von Zeit zu Zeit vorbeiziehenden Meeressäugern. Dann, mit einem Mal – Stille, die versteinerte. Ein Tsunami, der nicht nur an der Oberfläche sondern auch in den wenigen Metern Tiefe, in denen sich das Riff befand, mit aller Kraft Verwüstung angerichtet hatte. Diese Welle musste so energiegeladen gewesen sein, dass nicht einmal der Wal, dessen große Knochen die Arbeiter des Steinbruchs die Universität hatten rufen lassen, ihr etwas entgegensetzen konnte: Ihn hatte die Welle erfasst und gegen das Riff geschmettert, bevor sie die ganze Verwüstung mit Sand luftdicht überdeckt hatte.
Er fuhr schon seit Wochen hierher und drehte Steine um, bearbeitete größere Brocken mit einem Meißel, brach die hohe Wand des Berges immer weiter auf. Die Wissenschaft war hier fertig, die Arbeiter nie wieder gekommen, das Geröll lag brach: Nun war die Zeit der Sammler und Hobbypaläontologen gekommen, die sich erhofften, von der Wissenschaft Übersehenes, möglichst Spektakuläres zu finden. Bisher hatte er zumindest jedoch kein großes Glück gehabt. Nach einem Gewitter hatte er zwar immer mal wieder etwas gefunden, das ihm die Tage vorher nicht aufgefallen war – der Regen wusch die Meeresbewohner wieder aus ihrem Grab heraus – doch waren auch das immer nur Abdrücke von Muscheln oder schneckenförmige Steinkerne gewesen. Es schien tatsächlich, als hätten die Paläontologen der Universität alles Spannende mitgenommen.
Als er an jenem Tag nach Hause fuhr, war sein Kofferraum beinahe leer. Der schönste Fund war das Skelett einer Koralle, das er daheim ganz aus seinem steinernen Gefängnis befreien wollte. Sonst war der Morgen eher vergebens gewesen.
Er wünschte, er wäre dabei gewesen, als sie den Wal geborgen hatten. Die Überreste des Tieres waren heute im Nationalmuseum ausgestellt, und davor zu stehen gehörte zum Beeindruckendsten, was man hier tun konnte: Das Skelett war beinahe vollständig und von Maulspitze bis Schwanzspitze sechzehn Meter lang, wobei der Kopf allein doppelt so lang war wie ein größerer Mensch hoch. Der ausladenden Kiefer war zahnlos und sah aus wie ein Torbogen.
Auf dem Infotäfelchen zu dem Fossil stand, dass es sich bei dem ausgestellten um das einzig bekannte Exemplar seiner Art handelte und dass es vor zirka sieben Millionen Jahren gelebt hatte. Mehr wusste man nicht.
Wenn er träumte, füllten sich die Leerstellen in seinem Wissens über den Wal auf. Er schwamm durch seltsame Meere, die mal unendlich leer und weit und mal von anderen Wesen bevölkert und von Landschaften durchsetzt waren. Er schwamm, spürte seine kräftigen Flossen das Wasser formen und filterte es mit seinen Barten. Seltsamerweise musste er nie auftauchen, um zu atmen.
Immer liefen diese Träume jedoch Gefahr, zu Albträumen zu werden. Dieser Alb hatte keine Gestalt, sondern war ein Gefühl: Ein Gefühl des Kontrollverlustes über das Wasser, das ihm dann übermächtig erschien und ihn mit sich riss, bis sein Rückgrat an einem Riff zerbrach und er unter Schutt begraben wurde, wonach er zitternd aufwachte, nach Luft schnappend, und leise, um seine Frau nicht zu wecken, aus dem Bett stieg und in den Garten ging, wo ihn die kühle Luft und die Weite des Sternenhimmels zur Ruhe brachten.
Der Prozess des Versteinerns erfüllte ihn mit panischer Angst. Von einer feuchten, luftdichten Masse bedeckt und gepresst zu werden, über zehn-, hunderttausende, Millionen und Milliarden Jahre: Das erfüllte ihn mit einem Gefühl der Machtlosigkeit. Die Fossilisation verhinderte das korrekte tot Sein, weil sie verhinderte, dass nichts von einem blieb. Sie machte, dass für viel länger als vorgesehen Spuren einer Existenz auf dem Planeten blieben. Er wollte nicht, dass Spuren von ihm blieben. Er wollte sich einfach auflösen und verschwinden, sosehr, dass es höchstens eine Generation brauchen würde, bis er völlig vergessen war.
Sein Leben war keines, das Verewigung verdiente. Er, der gerade einmal dreißig Jahre alt war, hatte deshalb schon verfügt, dass er verbrannt und dann, ganz anonym, unter einem Baum bestattet werden sollte. So bliebe mit Sicherheit nichts, das man mit ihm in Verbindung bringen könnte.
Im Garten unter den ewigen Lichtern des Sternenhimmels stehend, dachte er an den Wal im Museum und ihm graute: So ausgestellt, so real, und das nach sieben Millionen Jahren Leblosigkeit.
Dann ging er wieder schlafen.

Irgendwann wollte sein Frau Kinder. Sie hatten schon früher darüber geredet, doch war dieses nun das erste Mal, dass Kinder keine Möglichkeit der fernen Zukunft waren, über die zu reden keine konkreten Aussagen erforderte, sondern zur Tat geschritten werden sollte. Sie sagte, sie wolle welche, und langsam sei es an der Zeit, damit anzufangen, es zu versuchen. Er versuchte, ausweichend zu reagieren, dem Thema seine Dringlichkeit zu nehmen, doch merkte er schnell, dass seit Neuestem für sie Dringlichkeit bestand, die sich nicht einfach so zerstreuen ließ. Er versuchte es mit Floskeln: „Das ist doch Zukunftsmusik!“, „Du willst in diese Welt …!?“, „Dann ist es mit unserer Ruhe vorbei!“. Sie ließ sich nicht davon abbringen, trotzdem sagte er ihr nicht den wahren Grund für seine Unlust Kinder zu zeugen. Er sagte, nachdem seine Floskeln wirkungslos geblieben waren, überhaupt nichts mehr.

In den darauffolgenden Tagen wich er ihr aus, indem er noch mehr Zeit als üblich im Steinbruch verbrachte. Die Körperlichkeit des Steine Auseinanderhauens in der Hitze des Tages und, mit Glück, einige Wesen aus der tödlichen Umarmung des Sediments zu befreien, beruhigte und erschöpfte ihn – erschöpfte ihn so sehr, dass er zuhause, sobald er im Bett lag, einschlief, nur um am nächsten Tag sofort nach dem Aufwachen wieder in den Steinbruch zu fahren.
Trotzdem wachte er manchmal nachts wegen des gestaltlosen Albs auf und ging in den Garten, wo er in den Himmel starrte, der die gleiche Farbe hatte wie der Ozean, durch den er im Schlaf schwamm, ihm aber weit weniger gefährlich erschien. Die Sterne sahen aus wie am Himmel hängen gebliebene Schneeflocken. Und obwohl sie nicht selbst herabkommen konnten, war es doch, als sandten sie hellweiße Kälte.
Er fragte sich, ob diese Unmenge kleiner Sonnen dem Wal bewusst gewesen war.

Eines Morgens fing sie ihn gleich nach dem Aufwachen, als er gerade aus dem Bett steigen wollte, ab. Sie hielt ihn fest, schmiegte sich an ihn, küsste seinen Oberkörper und fasste ihm zwischen die Beine. Erschrocken stieß er sie von sich. Sie sah ihn überrascht an und fragte, was los mit ihm sei. Er sagte, er habe keine Lust und zog sich hastig an, setzte sich ins Auto und fuhr zum Steinbruch, wo er schnell und brutal masturbierte, bis der weiße Schleim auf einen Felsen platschte. Er zog seine Hose wieder hoch und steckte sich eine Zigarette an, während er seinem Ejakulat beim Verdunsten zusah. Nach kurzer Zeit war nichts mehr von ihm übrig. Dann suchte er, bis abends, nach allem, womit sich der Wal seinen Lebensraum geteilt hatte; nach allem, was mit dem Wal untergegangen war. Bevor er wieder heimfuhr, masturbierte er nochmal, dieses Mal langsamer, doch genauso zielführend. Zuhause angekommen entschuldigte er sich bei seiner Frau für sein harsches Verhalten am Morgen und ging mit ihr ins Schlafzimmer. Dort entschuldigte er sich erneut, spielte ihr Scham vor. Sie nahm ihn in den Arm: „Das passiert den besten.“

Am nächsten Tag vereinbarte er einen Termin für eine Vasektomie.


Aus den Gefängnissen

„Ich bin Gefangener in unzähligen Gefängnissen.“, sagte Kant zu einer Ratte, die sich in seine Zelle verirrt hatte. Das Tier stellte sich auf und schaute ihn interessiert an. Oder war es Hunger, was er sah, in den funkelnden Augen? „Werde ich eingeliefert in das eine, und schließt sich gerade erst hinter mir die eisenbeschlagene Tür, fordern sie mich schon in jenem und verlangen laut meine sofortige Überführung. So geht es immerzu, manchmal so schnell, dass Nachricht von meiner neuerlichen Aus- und Einlieferung nicht alle Verantwortlichen erreicht und irgendein Wachmann, der eben noch ruhig vor sich hin summend durch die Gänge schlenderte, plötzlich hektisch den Alarm auslöst, weil er unerwartet eine leere Zelle vorfindet und annimmt, ich sei getürmt.“ Kant lächelte und lehnte sich zurück an eine Mauer. Die Ratte war verschwunden. Vielleicht war sie nie da gewesen.

Er erwachte aus unruhigen Träumen und richtete sich halb auf. Er musste eingeschlafen sein, auf der Pritsche, die ganz erbärmlich knarrte, weil sie alt war und das Holz unter der Feuchtigkeit hier unten gelitten hatte. Irgendwo weit weg war eine schwere Tür ins Schloss gefallen: ein lautes, eisernes Geräusch hallte durch die Gänge der Haftanstalt. Großer Hunger machte sich in ihm bemerkbar. In manchen Gefängnissen, dachte er, gab es verschwenderisch viel zu essen, in manchen anderen gab es zu wenig. Hier, so schien es, gab es gar nichts. Nicht einmal Wasser. Sollte er also das Wasser von den feuchten Wänden ablecken? Das nasse Moos von den Wänden abessen? Die Ratte war wieder da. Es amüsierte Kant, als er dachte, dass er diesmal vielleicht umgekehrt die Ratte hungrig ansah. Sein vierbeiniger Untermieter tänzelte unruhig umher, streckte die Vorderbeinchen hoch und angelte damit in der Luft herum. Kant antwortete der Ratte schließlich: „Nein, nein. Man schlägt mich nicht rundheraus, ist aber auch nicht eben freundlich zu mir, wohl wegen all der Unannehmlichkeiten, die ich notgedrungen verursache, wenn ich von Gefängnis zu Gefängnis weitergegeben werde. Zum Teil sehe ich den Grund dafür auch darin, dass ich ein schlechtes Namensgedächtnis habe und die Gesichter meiner Wächter ständig wechseln. Wie sollte ich eine Beziehung zu ihnen aufbauen? Wie sollte jemand nicht beleidigt sein, wenn er sich morgens beim ersten Kontrolldurchgang als Karl vorstellt und ich ihn abends dann mit August in die Nachtruhe verabschiede?“ Die Ratte schnupperte noch ein wenig die Zellenluft, dann verschwand sie wieder und lies Kant mit seinen Gedanken allein. Es war schon vorgekommen, dass man ihn mitten in der Nacht verfrachtete, während er schlief, und er daher vom neuerlichen Gefängniswechsel nichts mitbekam. Sein Einverständnis brauchte man also kaum. Jetzt lag er gekrümmt auf der Pritsche, hielt sich hungernd den Bauch und wünschte sich nichts sehnlicher als in eine besser unterhaltene Haftanstalt verlegt zu werden. Er träumte von vergangenen Gefängnissen, in denen ihm von freundlichen, penibel gekleideten Wächtern dampfende Teller mit Eintopf serviert wurden. Unter den Gefängnissen, in denen er eingesessen hatte, waren sehr vielfältige Anstalten gewesen.

Kant versuchte es wieder mit dem Nagetier: „Früher waren die Gefängnisse einfacher. Der Status eines Gefangenen war weniger kompliziert, denke ich. Aber was ich alles gesehen habe in meinem erfüllten Leben als Gefangener!“, rief er beinahe aus. „Ich habe die Welt gesehen, wie kein anderer. Nenn mir einen beliebigen Ort und ich erzähle Dir von seinen Gefängnissen. Die höchsten Berge des Himalaya habe ich einst erklommen und mir dabei beinahe die Nase abgefroren, um oben angekommen mehrere Monate in Decken eingehüllt auf dem Sattel eines der dort verbreiteten Yaks zu verbringen. Das Tier fand bald Gefallen an mir und trug mich tagein tagaus treu ergeben von einem Ende des Gipfels zum anderen. Die Pfade, auf denen man dort oben überhaupt gehen kann, noch dazu, wenn man ein Yak unter sich hat, sind sehr schmal. Links und rechts droht der Absturz in einen unabsehbaren Felsspalt. Wenn dann noch ein Mitgefangener oder ein Wächter auf einem Yak in entgegengesetzter Richtung unterwegs ist, sind Konflikte unausweichlich. Meistens aber machen die Yaks das unter sich aus. Ich musste in solchen Situationen nie meine Stimme erheben. Die Tiere gaben ein paar blökende Geräusche von sich und dann entschied sich meist eine der beiden Parteien umzukehren, um den Weg freizugeben. Um mich vor der Kälte zu schützen, war ich in mehrere Lagen der mit kunstvollen Mustern bestickten Decken eingeschlossen, die man aus dieser Region kennt und die gerne an Touristen verkauft werden. Nur konnte ich mich dadurch gar nicht mehr bewegen, nicht einmal meine Arme waren frei. Nur mein Gesicht. Dem Yak war ich ganz und gar ausgeliefert, zu den Mahlzeiten wurde ich von einem vorbeireitenden Wächter mit einem langstieligen Holzlöffel gefüttert, der Kessel mit dem dampfenden Essen schwankte am Sattel des Tieres.

Man muss dazu wissen, und ich hatte das erst nach einigen Wochen gelernt, dass der Sprache der dortigen Gipfeleinheimischen ein Konzept für das Gefängnis in einem europäisch-westlichen Sinn fremd ist. Es sind sehr friedliebende Menschen, die keinen Grund haben, ihre Mitmenschen wegzusperren. Am nächsten kommen sie in ihren Gepflogenheiten unserem Verständnis eines Gefängnisses, wenn sie – viel mehr aus Spaß als ernst gemeint – zum Beispiel einem Kind, das sich ungezogen verhalten hat, damit drohen, es in Decken eingehüllt auf dem Rücken eines Yaks auf den nächsten Gipfel zu schicken! Eine leere Drohung, gewiss, die noch dazu in der Sprache der Bergbewohner einen poetischen Klang besitzt, nicht so meine dem Sinn nach konstruierte Übersetzung. Jedenfalls, um dem dringenden Antrag eines europäischen Gefängnisses auf Überstellung des Gefangenen Kant gerecht werden zu können, und vor allem, um gegenüber den europäischen Kollegen nicht unhöflich zu erscheinen, erinnerte man sich, wie ich später erfuhr, der oben dargestellten kindlichen Schellte und setzte sie für mich, dem europäischen Gefangenen, in die Wirklichkeit um. Denn ein echtes Gefängnis gibt es dort einfach nicht. Wohin also mit mir? Man dachte wohl, wenn ich wirklich etwas verbrochen hätte, dann müsse man mich wie ein ungezogenes Kind behandeln. Also sperrte man mich auf dem Rücken eines Yaks in Decken ein und schickte mich auf den nächsten Gipfel. Die Aussicht dort oben war grenzenlos! Die Nächte gaben den Blick ins Universum frei, auf die Sterne über uns.“


Sprachschnatter (Auszüge)

Hausmeister S. pflegte bisweilen Mitteilungen mit dem Satz einzuleiten “Also eins muss ich fairerweise sagen …”, und zwar immer dann, wenn er etwas vergessen bzw. vermurkst hatte. Da ihm ein manisch-depressives Arbeitsethos eigen war, kam das nicht selten vor, die Zuhörer waren aber durch diese schöne Einleitung in gewisser Weise gefasst.

*

Der Elektriker hatte die Alarmanlage unseres Instituts verkehrt eingestellt, sie war hypersensibel und in der Folge kam es zu zahlreichen nicht angebrachten Räumungen des Gebäudes. Zur Rede gestellt, hatte er eine entwaffnende, stereotype Antwort parat: “Gut zu wissen!” Ich habe mir den Satz angeeignet und hoffe, dass mir meine Liebste nicht gelegentlich eine Ohrfeige verabreicht.


Was ein Körper vermag (Doxepin)

„Es gibt keine Emotionen im engeren Sinn dieser Tage“, wiederholte Miranda nachdrücklich. „Die Kinder“, und damit meinte sie alle Menschen unter 30, „ergehen sich in Schwarzmalerei und Psychopathologisierung ihrer kleineren und größeren körperlichen Aussetzer. Sie verspürten mal den Wunsch zu sterben? Über beide Ohren depressiv. Sie genossen den Schmerz beim einvernehmlichen BDSM-Sex mehr als ihr Liebster? Borderliner bis in die Haarspitzen. Sie verlieben sich in ein Arschloch, das sich nicht für sie interessiert? Sie diagnostizieren ihm eine narzisstische Persönlichkeitsstörung! Die jungen Leute haben kein Problem damit, Pillen zu schlucken, um sich zu erlösen. Sie wollen einen schnellen Ausweg noch aus der seichtesten Tiefphase, und sollte der hochverehrte, ’natürliche‘ Weg, also Retreat, Waldwege, Sport, Ernährung, der in seinen Voraussetzungen äußerst schwer mit dem Konzept Psychopharmaka zu vereinbaren ist, nicht anschlagen, nun, was bleibt dann übrig? Damit beweisen sie ihr tiefes, genetisch verstärktes Bedürfnis, ein fordistisches Menschenbild zu reproduzieren, dass einen jeden Tag arbeitsfähigen und arbeistwilligen, mäßig glücklichen, d.i. äußerst zufriedenen Menschen zur Norm erhebt. Sie sind sich alldessen nicht bewusst, im Gegenteil – …“ „Ganz im Gegenteil, viele von ihnen lehnen das Weltbild des Neoliberalismus völlig ab!“, pflichtete Santino bei. „Ich kenne eigentlich keinen in meinem Alter, der sagen würde ‚Nice, Neoliberalismus!'“, schlenderte er zum kaputten Rolladen. Der Eierpunsch schwappte beinahe über, als er durch den Schlitz zu luken versuchte. „Beruhige dich, Kind, der Ort ist sicher.“

Santino sah sie lange und nachdenklich an und nippte am Glas. Sie war eine robuste Person. Ihr stahlgraues Haar glänzte von Haarspray und blieb völlig unbewegt in seiner Form, wenn sie auch heftig gestikulierte und den Kopf schüttelte. „Es geht mir nur um Sex“, hatte Santino sie einmal zu einem nigerianischen Tänzer lächeln hören, dessen Ensemble im Keller des Clubs einige Nächte auftrat. Der Mann blickte neugierig auf die kleine Dame, beugte sich zu ihr, und sie hatte später leichtes Spiel mit ihm. „Ich werde das Gefühl nicht los, dass unsere Tage gezählt sind, meine Lieben.“, fuhr sie fort. „Die Plastikwelt, in der wir unseren Durst heute noch stillen, unsere intimen Rituale ausführen, deren Plastikmenschen wir zu Menschenopfern machen, uns selbst zur bluttrinkenden Erdgöttin, Tlaltecutlí, schmilzt unter glühenden Strahlen der Netzwerkverbindungen, schmilzt unter der unerbittlich glühenden Phantasterei verstümmelter Körper. Und macht Platz für einen Ort ohne Ausdehnung und Zeit, das blutleere Unbewusste einer Rasse von Tieren, formuliert in Umrissen und Farben. Unsere zähen Muskeln werden weich und klein, unsere Nasen taub und trocken. Die Augen aber werden unverhältnismäßig größer werden.“ Bei diesen Worten sah sie jeden von uns eindringlich an. Der Raum schien enger zu werden, die Distanz zwischen uns verringerte sich ins Unerträgliche. Ich schluckte schwer. Lehnte mich zurück, ja, unser Ende war nah.

„Habt ihr schonmal das Blut eines Jungen gekostet, der auf Medikamenten ist? Ich meine von jemandem, der so richtig durchtränkt ist, mit dem Zeug, der’s vielleicht schon seit Monaten verschrieben kriegt.“ Die Frage kam aus dem Halbdunkel neben dem Bettschränkchen, und wahnsinnig blitzte dort ein Paar Augen, den weißen Himmel zwischen den Rollospalten reflektierend. „Ich hab es nicht nur einmal getan. Ich hab es nicht nur ausversehen getan. Ich verspürte mit der Zeit eine Lust daran, nicht nur am süßlich-leichten Geschmack, sondern an der ganzen Art, wie diese Dinger sich geben. Natürlich hab ich am liebsten Mädels, aber so halbstarke Studenten haben auch ihren Reiz. Sie trauen sich nichtmal darüber zu phantasieren, was aus ihnen wird, wenn sie die Pillen nicht schlucken. Sie spüren von Nahem das Anderssein, die Angst, die Einsamkeit, sie spüren es nur auf der Haut, wie wenn man länger vor dem Kühlschrank steht und die feuchte Kälte das Gesicht berührt. Sie erklären mit Foucault die Grenze zwischen Normal und Wahnsinn zum sozialen Konstrukt, und spüren ganz genau wo diese Grenze in ihnen verläuft. Spüren ganz genau wie diese Grenze reproduziert gehört, und wollen ihren Teil vom Normalen aus dazu beitragen, nicht vom Wahnsinn aus! Es gab keinen anderen Weg, sagen sie, die Medikamente waren ihre einzige Chance. Wenn ich sie frage, was sonst mit ihnen passiert wäre, sehen sie mich mit großen Augen an. Ach, diese Augen, die an der Welt nur immer knapp vorbeigehen. Ich lache dann, und sage: Du wärst wie ich geworden, Süßer. Und sie lachen erleichtert, grinsen, schmunzeln, flirten, aber nicht – ihre Augen. Was ist das nur…sie sind nicht gerötet, nicht glasig, diese Augen, und doch so high, so dran vorbei, so unberührbar. Beim anderen Geschlecht finde ich’s eigentlich sexy. Macht mich wild, dieser offene Blick. Sie kichern und hören mit gutmütigem Lächeln mein Geschwafel an, das Geschwafel eines alten Verrückten. Früher hatten sie in solchen Situationen als verlässlichen Begleiter ihre Geheimnisse, ihre geheimen Missetaten gegen sich selbst: die Tatsache, dass sie sich noch vor 5 Minuten auf der Toilette dieses Cafés den Finger in den Hals gesteckt haben, die Tatsache, dass sie letzten Donnerstag drüber nachgedacht haben zu versuchen sich umzubringen, und auch wissen, wo sie die dazu nötigen Medikamente herkriegen würden. Oder die unerhörte Tatsache, dass sie sich am Wochenende von einem süßen Typen haben überreden lassen, ihm den Schwanz zu lutschen bis zum Würgereflex, eine Erinnerung fortan auch eingebrannt in jedem bulimischen Toilettengang. Diese Geheimnisse verliehen ihrem Lächeln immer eine gewisse Anstrengung, und ermöglichten den Flittchen stets eine Distanz zu mir, ein Bei-sich-selbst-sein. Eine Art Spannung an sich selbst, die sie für sich selbst spannend machte, einen Reichtum an sich selbst, ein Sich-selbst-ge“

„–Ist ja gut, wir haben’s verstanden!“, unterbrach der schwitzende Dicke, der sich neben der Tür auf ein Kanapee niedergelassen hatte. Er war in vielerlei Hinsicht ein wanderndes Klischee, aber die mir am auffälligsten scheinende Hinsicht war die Tatsache, dass sein dickes Gesicht immer schwitzte. Seine Unterbrechung gab mir Gelegenheit, mich aufmerksam im Raum umzusehen. Unsere Handys und Smartwatches hatten wir in die silberne Box gepackt, die auf der Kommode immer wieder unsere Blicke auf sich zog. Wir waren alle müde, dreckig und verstaubt. Jeder von uns strahlte eine ganz eigene Form von Unruhe aus. „Sei dir da mal nicht so sicher, Baldwin, dass ihr es verstanden habt. Ein äußerst komplexer Sachverhalt. Hör‘ zu, auch wenn diese Mädchen sicher nicht empfanden, dass sie sich selbst genug wären, spürte ich es doch ganz deutlich, dass sie sich selbst nah waren, und es kotzte mich an, es war mir unmöglich diese wahnsinnigen Flittchen völlig zu besitzen, nichtmal während ihr kleiner Körper in meinen Armen schlaff und kalt und leer wurde. Nichtmal wenn ich sie völlig ausgetrunken hätte. Ganz anders ist es nun mit den Anti-depressiven. Sie sind frei von solch demütigenden, schwachen Momenten. Sie lassen sich kaum zu finsteren Taten hinreißen, und sollte es doch einmal über sie kommen, sind sie deswegen weder beschämt, noch fühlen sie sich als schlechte Menschen. Während sie mir lächelnd zuhören, so wie du jetzt Santino, sind sie ganz und gar bei mir. Sie lächeln nur so breit, wie sie es gemessen an der Verrücktheit meiner Worte für richtig halten. Sie sind ein flaches Ganzes, ein Kreis, könnte man sagen. Sie–“

„Ich habe dir tatsächlich zugehört. Wie oft war ich gelangweilt von deinen Monologen, deinen pseudo-psychologischen Ausführungen. Aber dem Vortrag jetzt kann ich echt was abgewinnen. Ich weiß genau was du meinst, mit diesem Lächeln. Und weiß Gott, diese Augen machen mir Angst. Man muss nur einmal hineinsehen, um zu verstehen, dass diese Körper nicht zu Emotionen fähig sind, ich stimme dir ganz zu, Miranda. Trotzdem ist jede Form von Auseinandersetzung und Kommunikation geprägt von unersättlichem emotionalen Input, Reflektion von Gefühlen, offenen Aussprachen. Dieser Input betont die Wichtigkeit des taktvollen Umgangs mit eigenen und fremden Gefühlen, sprich, die emotionale Tragweite der emotionalen Tragweite von Emotionen, usw., aber all diese Auseinandersetzungen sind keineswegs emotional, denn dazu sind die daran beteiligten Subjekte überhaupt nicht fähig. Wie passt das alles zusammen? Ich sage euch das Lösungswort: sad fucking passions. Als ich vor damals weinend die Beatles mitsang, mit ausgestreckten Armen mich um mich selbst drehend, ‚I don’t know ho-o-ow, nobody told you …‘ war da eigentlich nichts als das. Sad passions, ihr wisst schon, so verdunkelnde, selbstmitleidige Phrasen, emomäßig, handlungslähmend. Spinoza gab ihnen den Namen, empfahl außerdem, sie zu bekämpfen. Die Spannung im Lächeln der Mädchen, die du beschreibst, ist ihr Schwelgen darin. Die sad passions artikulieren sich meistens in Schnulzen, die die materielle Wahrheit persönlicher Dispositionen verschleiern. Darin sind wir alle groß! Warte– nicht alle. Es gibt auch hier blutige Anfänger und Nichtskönner. Alles in allem aber eine menschlich-allzumenschliche Geste, sich sad passions hinzugeben und sie als Motive für die eigenen Entscheidungen zu begreifen. Ein selbstbewusster, starker, lebensfähiger Körper sucht nicht nach Schleiern und Filtern und Phrasen. Vielmehr durchschaut er die Gesetze, nach denen er organisiert ist, und versteht die Gründe für sein Handeln in verhältnismäßig simpel erklärbaren Affekten von Materie zu suchen.“

Seine letzten Worte gingen in einem rhythmischen Poltern unter, von weit fort. Die Welt ging unter in Poltern. Donnerschläge erschütterten in steigendem Takt die weiße Luft, den weißen Himmel roter Sonne über der öden Stadt. Die alten Schränke und Kommoden ruckelten, der Rolladen neben mir bebte und zugleich kam durch die Schlitze eisige, nasse Kälte hereingezogen, die sich vor meinen Augen in Froststernchen auf dem Fensterbrett niederließ. Ich rutsche Richtung Zimmermitte, die anderen begannen zu bibbern. Ein leises, ohrenbetäubendes Sirren breitete sich in der kalten Luft aus, drang tief in die Windungen meines Hirns wie ein Tinitus, die andern begannen den Kopf zu schütteln. „Das ist es …“, schwitzte Baldwin mit dampfendem Atem.

„Kinder, die letzten Jahre unserer gemeinsamen Feiern, Gebete und Mahlzeiten waren für mich ein einziges Fest!“, erhob Miranda ihre feste Stimme über die unruhige Welt. „Nie hätte ich ohne euch zu der Frau werden können, die ich an diesem heutigen Tage bin. Und die ich ganz sicher niemals war, auch niemals in mir trug! Ihr habt mir aus mir selbst herausgeholfen, habt mir gezeigt, was ich außer Dem sein kann! Und ich hoffe, ich konnte dasselbe auch für euch tun, oder für manche von euch.“ Dabei wandte sie sich in meine Richtung und ich sah Glitzern in ihren kecken Augen. „Gemeinsam haben wir diese Welt vor die gottverdammten Hunde gehen sehen! Haben Menschen in ihrer totalen Menschlichkeit kennengelernt, erbärmliche, langweilige Wesen! Unsere Rituale, unser Blutdurst waren letztlich nichts anderes als der Versuch ihnen näher zu kommen. Dasselbe Messer schneidet anders durch jede Haut. Und jedes Blut hat seinen eigenen Geschmack, wie ihr ganz recht festgestellt habt. Eine schaudrige Erinnerung an die auf den ersten Blick so zweifelhafte Existenz von Individualität. Wir haben der Menschen Innerstes betrachtet, gekostet, genossen, haben für sie gebetet, und doch waren sie uns immer fremd. Sie sprachen von Renfield oder Psychosen, während wir von Nähe, dem Horror existenzieller Freiheit und der unterschiedlichen Zusammensetzung von Körpern sprachen. Menschen behandelten uns immer nur wie Feinde. Als ob solche Wesen Feinde haben könnten! Haben Amöben Feinde? Haben Würmer Feinde? Wir aber haben allerdings einen Feind, und dieser hat uns nun endgültig besiegt.“

„Pah!“ Miranda drehte sich zu Baldwin. „Ja, mein Lieber?“ „Pah!“, wiederholte Baldwin, „es passt mit nicht, wie wir hier alle miteinander ins Schwärmen kommen, als wären wir eine Gemeinschaft, eine Bruderschaft!? Vergesst ihr es denn? Dass ein jeder von uns nur frei ist, insofern er ABSOLUT ist, nur er selbst ist, indem er allein ist! Die Entscheidung sich keinem mehr anzuvertrauen, niemandem zu gehören und niemals wieder Bündnisse einzugehen – wir haben sie unabhängig voneinander getroffen. Sie ist der Grund für unser Ende, sie ist, was wir Leben nennen. Und auch wenn wir hier sind um gemeinsam aufzuhören, würde ich doch jeden von euch umlegen ohne zu zögern, wenn ich damit meine eigene, fettige Haut retten könnte. Und auch wenn wir unzählige Male im Heiligen zusammenkamen, im Opferritus Zeuge der Kontinuität des Seins waren, die der Diskuontinuität unserer Lebensrealitäten sich widersetzt, … um es mit Bataille zu sagen …“ Vom Bettschränkchen Stöhnen. „… so weiß ich nicht einmal ob ihr es auf die gleiche Weise beschreiben würdet, was wir da erleben. Und so weiß ich sicher, dass diese Kontinuität allein, einzig und allein im Ritus erlebbar wird, das heißt nur in ihm überhaupt existiert! Deshalb führe ich die Riten ja aus, um einen Zusammenhang zu erleben, wo sonst keiner ist. Wir sind Einzelne! Ich bestehe darauf: Du bist allein! Du, und du, du auch, Ich, und … sogar du.“, deutete er zuletzt erregt auf mich. Sein Atem ging schwer. „Ich hatte nie großes Interesse an Frauen oder Burschen. Ihr wisst es, ich nehme mir meistens Kinder, kleine Kinder, so im Kindergartenalter. Irgendwas an ihnen reizt mich mehr und ich habe wirklich lange darüber nachgedacht, was das ist. Mir wurde nahegelegt, es könnte ihre Unschuld sein, die sie so verführerisch macht. Oder ihre Hilflosigkeit. Nun, das ist alles klischeehaftes Geschwätz! Ich erkannte, es sind gerade ihre Bösartigkeit, ihr ungestörter Narzissmus, ihr permanenter Streitsinn, die mich zu ihrem Verehrer machen! Sie würden sich niemals für jemanden Opfern, den sie lieben. Ihr Leben schon gar nicht, aber auch ihr Eigentum nicht. Ihre Raffgier ist die von Tieren, ihr Verständnis der Welt ist ein körperlich-gesetzmäßiges, ein noch nicht durch Metaebenen verwirrtes. Der Gesamtumfang ihrer Wahrnehmung passt noch bis sie 6 oder 7 sind in den Schädel eines Säugers hinein. Ihr Schädel ist nich überfüllt, zum Bersten vollgestopft mit Vergleichen, Gutem, Schuld. Solche Zutaten kommen erst im Grundschulalter rein, und zwingen die Schädeldecke, sich zu weiten, zu weit, weshalb in dieser Zeit eine Vielzahl feiner Risse den Kopf eines Menschen zu durchziehen beginnen. Zugegeben, bei manchen sind sie gar nicht mal so fein. Und sie heilen nie wieder zu.

Kinder, so sagt man, sind unsere Zukunft. Wieder so ein Geschwätz, zum Nachplappern, zum Mitdenken wie Mitlaufen. Deutlich heller sollte all diesen Matschbirnen einleuchten, dass Kinder unsere Vergangenheit sind! SO war ich auch! Und doch wird keines von ihnen werden wie ich! „Die Jugend ist die Zeit der Reife: vor dieser Zeit ist man alt, das Alter ist das der Vorurteile, aus denen man lebt. Ein Kind lebt die Vorurteile und damit das Alter seiner Eltern.“, so schreibt Althusser. Und es tut sich gütlich an den von ihnen erkämpften Reichtümern, bis das Kleine in die Pubertät kommt, und alles, was Eltern ist, für nichts erklärt, alles zertrümmert, sich von den Vorurteilen befreit und die alten Güter als Sünden empfindet. Zwischen Zukunft und Vergangenheit existiert keine Notwendigkeit. Zwischen ihnen ist nur der eine Moment ‚Jetzt‘, und dieser existiert nicht, genauso wenig wie der Pfeil ruht, erinnert euch! Sie sind nicht verbunden, der Pfeil fliegt blitzschnell und trifft dich genau zwischen die Augen.“ Er zeigte mit seinem dicken Finger auf mich und tippte sich dann an die Stirn zwischen seinen Brauen. „Das hat Zenon nicht erwähnt. Und alles, was passiert, hätte anders passieren können, niemals, niemals gibt es nur den einen Weg.

Wie lang stehe ich schon vor dem offenen Kühlschrank? Mein Herz pocht, nicht unbedingt schnell aber laut, schallend in meiner Kehle, Blut rauscht durch meine Ohren. Dazu das leise Sirren der Kühlschranklampe. Die Packung liegt hinten rechts im oberen Fach, seit drei Tagen. Ich starre sie an, seit drei Minuten. Irgendjemand sagte mal, es gibt nie nur einen Weg. Und, wenn jemand sagt, es gäbe nur einen, ist was faul an diesem jemand. Wer war das, wer war das … – Stop, wieso denk‘ ich über sowas nach. Ich greife mit dem ganzen Arm nach der Packung. Ein Überschwung, und ich mache sowas oft, und oft denk‘ ich ‚Wieso?‘. Lasse sie auf den Küchentisch gleiten, fülle ein schmutziges Glas mit Leitungswasser.

„Die Welt endet nicht mit einem Knall. Die Welt endet nie früh genug, und bin ich zu alt geworden, in ihr. Und so bleiben Wege, die manche von uns eingeschlagen haben, hinter ihnen nicht offen. Wir können nicht sterben, ohne Luft oder Liebe können wir nicht sprechen, uns nicht berühren. Baldwin hat recht, wir waren nie Eins. Bloß konnten wir uns gegenseitig hören, uns unterscheiden, uns unterbrechen.“

Ich öffne die Augen. Um mich Stille. Vor mir, auf dem Küchentisch, die kleine weißgelbe Pille. Ich nehme sie zwischen Daumen und Zeigefinger, die glatte Oberfläche schimmert nicht im Licht der Funzel. Es ist nicht der einzige Weg. Und doch der einzige, der mir gewiesen wird. Also soll ich wirklich? ‚Ja, du sollst!‘ Während ich das Glas zum Mund hebe, rast mein Herz zur Decke, meine Hände in Schweiß getaucht. Das Ding wird mir gegen den Rachen gespült.

Wir standen alle und betrachteten uns, ohne Wehmut. Eine Sturmböe brach durch den Rolladen, unendlich feine Tropfen berührten meine Haut. Jetzt schloss Santino die Augen, mit seinem „Ciao Belli!“ platzten die Wände unter dem Gewicht der Sintflut, Wassermassen erfassten einen jeden von uns und schleuderten uns weit, weit fort von dem kleinen Zimmer, in die Ruinen dieser Stadt, Atlantis, und drückten und zogen unsere Körper und umfingen sie, und erstickten ihre Geräusche, ihre Gesten. Treibgut in unendlicher Ruhe dröhnen Walherz Schläge gegen die Frequenzen ihrer unerhörten Lieder. Man kann sich sehen, man kann sich treiben lassen.


du hast zwei kreisrunde monde auf den wangen
ich habe sie dort hin gemalt
mit tusche
        rot    rot

es schäumte am pinsel
deine poren farbfärbt
farb
   rot   am pinsel habe ich dort hin

wie ein saitenspiel
wie prägung
        meins   meins


Saturnringe

Ich habe den Dachboden meines Elternhauses ­– den stellenweise fast ruinenhaften Überresten eines ehemaligen Kleinbauernhofes in Norddeutschland – von Kindesbeinen an so häufig und eindringlich durchsucht und erforscht, dass mir die Dachbodengänge quasi schon zu eine Art von seltsamem Hobby, einer exzentrischen Marotte geworden waren.
In meinen endlosen Erkundungen dieses Dachbodens offenbarte sich ein Gestus, der sich vielleicht so erklären lässt, dass ich immer glaubte, irgendwo hier, irgendwo in einem Winkel verborgen, in einer alten Holztruhe vielleicht, die Antwort auf eine Frage zu finden, eine Frage, die ich bis dahin nicht gekannt, sondern nur erahnt hatte, von der ich eigentlich nichts wusste, dennoch aber davon überzeugt war, dass es sie geben musste und dass sie – und eben ihre Beantwortung – von höchster Wichtigkeit waren. Ich wollte in dieses Geheimnis, das vielleicht keine lebendigen Träger mehr hatte und also nur in ältesten Gegenständen stumm aufbewahrt lag, unbedingt eingeweiht werden.

Ein solches eingeschworenes Objekt fand ich schließlich auf diesem Dachboden in einem alten, schwarzen Tagebuch, das in kürzesten Bleistifteinträgen die Jahre 1933 bis 1935 protokollierte. Das Tagebuch, das ich seitdem mehr per Ausschlussverfahren als durch tatsächliche Namensvermerke mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit meiner Ur-Urgroßmutter zuordnen konnte, enthält mit auffallender Regelmäßigkeit abgefasste, tägliche Einträge, deren Inhalt sich beinahe ausnahmslos auf das Wetter, das Aus- und Eingehen der Personen sowie auf allerhand bäuerliche Tätigkeiten wie den Einkauf mehrerer „Fuder“ genannter Wagenladungen Dünger oder das Bündeln von Heu zu Heugarben beschränkt. Soweit ich das Tagebuch, das in Kurrentschrift abgefasst ist, entziffern konnte, weicht es an nur drei Stellen von dieser Regelmäßigkeit ab. Der erste dieser Einträge stammt vom 30. Januar 1933 und ist zunächst in ähnlicher Gleichförmigkeit abgefasst wie sämtliche anderen Einträge. Er verzeichnet als Ereignis des Tages einzig einen Ausflug: „Kinder und ich nach Martha“. Über dem Eintrag jedoch, getrennt durch die über jeden einzelnen Eintrag geschriebene Jahresziffer, 1933, die beiden Worte: Hitler Reichskanzel. Der zweite Eintrag folgt auf den Tag genau vier Wochen später und lautet: „Montag Februar 27. Gefroren. Sturm. Reichstagsgebäude gebrannt von Kommunisten angesteckt“. Am 29. September 1935, gegen Ende des Tagebuchs also, schreibt meine Ururgroßmutter über die Geburt meiner Großmutter, ihrer Enkelin, wie über ihr eigenes Kind „Kleine Tochter geboren Marga“, und vergisst an diesem Tag, einem Sonntag, alle Bemerkungen über das Wetter.

Letzteren Eintrag ihr zu zeigen, ging ich mit dem Tagebuch etwas später zu meiner Oma, die vor etwa zwanzig Jahren aus dem Haupthaus in eine Anliegerwohnung des Hauses gezogen war; auch, weil ich mir erhoffte, diese kärglichen und einzigen Bemerkungen über meine familiäre Vergangenheit während der Nazizeit um einige Eindrücke ergänzen zu können, die meine Oma als Kind geprägt hatten. Wir saßen auf ihrem Sofa und tranken Tee aus Tassen, die wir auf ihrem Wohnzimmertisch abstellten, dessen Glasplatte durch eine Binnenschicht künstlich so modifiziert war, dass sie aussah, als wäre sie in unzählige Scherben zersplittert. Von den vielen Einzelheiten, die sie mir erzählte, erinnere ich am eindringlichsten eine Randbemerkung über meinen Urgroßvater, einen Milchfuhrmann, der während der Kriegsjahre auf seiner Kutsche eine dunkle Plane mitzunehmen pflegte.
Wenn der Fliegeralarm ertönte, verließ er seine Kutsche und bedeckte sie in ihrer Gesamtheit mit dieser Plane, um von den Fliegern nicht entdeckt zu werden. Diese Erzählung brachte meine Oma zu der Beschreibung ihres sogenannten „Bunkers“, eigentlich einzig ein Erdloch, das man damals auf einer Grünfläche im Sichtschutz einiger Alteichen ausgehoben hatte; die Grasnarben hatte man aufbewahrt, um sie auf Holzbohlen befestigen zu können, die man, wenn sich die gesamte Familie einmal in diesem Loch verkrochen hatte, wie eine Decke darüberlegte, um den Piloten den Eindruck einer seelenleer daliegenden Rasenfläche zu verschaffen.

Viel Wert legte meine Großmutter ferner auf einen breit ausgelegten Bericht über das sogenannte „Schwarzschlachten“. Sie begann ihre Erzählung mit dem Hinweis darauf, dass die Anzahl an Schweinen, die ein Bauernhof damals halten durfte, auf zehn begrenzt war. Acht Tiere sollten an den Staat gehen, zwei durften für den eigenen Bedarf geschlachtet werden. Mit dem Schwarzschlachten hatte es nun folgende Bewandtnis: Mehr Regel als Ausnahme war es, dass man trotz gelegentlicher Kontrollen ein elftes Schwein hielt; im Dunkeln wurde dieses dann, bei Bedarf, zu den Nachbarn „Abrahams“ gebracht, die auch in dem alten Tagebuch zahlreich namentlich erwähnt werden, und die in der Nacht heimlich Schlachtungen durchführten, um so den eigenen Nahrungsvorrat aufzustocken. „Wir hatten immer zu essen“, sagte sie. „Wir konnten schummeln.“

Wie es meine Angewohnheit war, wenn ein Gespräch im Sande verlief, begann ich, als meine Oma ihre Erzählungen beendigt hatte, mich mit den diversen Gegenständen zu beschäftigen, die sich auf ihrem Wohnzimmertisch befanden. Da sie immer mehr den Überblick über die vergangenen und anstehenden Ereignisse verlor, hatte meine Großmutter zunächst begonnen, Tagebuch zu schreiben. Nicht nur hinsichtlich des lakonischen Protokollstils, sondern auch hinsichtlich der Themen ähnelten ihre Einträge bis zur Ununterscheidbarkeit denen aus dem Tagebuch, das ich auf dem Dachboden gefunden hatte. Fast die einzige Abweichung bestand darin, dass in den Notizen meiner Großmutter in einigen Wörtern einzelne Satzzeichen, insbesondere Vokale, fehlten.
Da sie dieses Tagebuch jedoch irgendwann verlegte, verteilten sich ihre Versuche, den Überblick zu behalten, auf eine immer größere Anzahl an Notizbüchern und Kalendern, über die selbst sie irgendwann den Überblick verlor. Wenigstens zwei Kalender lagen auf ihrem Wohnzimmertisch, darunter einer, den man jedenfalls mit gewisser Schlüssigkeit als den „Hauptkalender“ bezeichnen konnte, da er – für gewöhnlich jedenfalls – in ihrer Küche hing und meine Mutter und meine Tante in ihm die wichtigsten anstehenden Termine verzeichneten. In jenem, einem Wandkalender der Katzenfuttermarke „Whiskas“ auf das Jahr 2022, verdeckte eine mit Tesafilm fixierte, von meiner Mutter abgefasste Erinnerungsnotiz an die Hochzeit meines Onkels etwa das untere Drittel des Monats März. Hebt man dieses Notizblatt, so wird man gewahr, dass im Spätmärz nur ein einziger Termin für meine Oma anstand, der mir jedoch entfallen ist. Ebenfalls offenbart sich so ein der Handschrift nach eindeutig meiner Großmutter zuzuordnender und – im Kontext der anderen Eintragungen in ihrem Aufgebot an Erinnerungsdokumenten – höchst außergewöhnlicher Vermerk am unteren Rand des Kalenderblattes:
(Ukraine)Krieg)


Ich schlage Wurzeln

ich schlage Wurzeln im zwölften Stock
über den Gemüseläden
bei deiner Mutter

deine Mutter
macht mir jeden Morgen Frühstück
kalte Ostereier von letzter Woche noch
die rote Farbe blättert schon ab
und Jesus‘ Blut trocknet auf meinem Tellerrand
einmal bringe ich ihr Blumen
klopfe nachts an die Schlafzimmertür
hinterlasse Blüten auf dem Boden
und in ihrem Haar

deine Mutter
sagt ich soll diese Handtasche nicht kaufen
dafür kauft sie mir ein weißes Kleid
wir lassen uns in der Stadt die Haare schneiden
verpacken sie in Plastiktüten
zusammen mit Milch, Kuchen und Brot

ich schlage Wurzeln im zwölften Stock
an zerrissenen Wänden
winde ich mich durch staubige Furchen
bei deinem Vater

dein Vater
ist nie zu Hause
wie alle Väter
vielleicht
kommt er am Abend zurück
und singt mit lauter Stimme Lieder

am Küchentisch
essen wir Ziegenkäse der tropft
dein Vater
ich wünschte
ich hätte ihn besser gekannt

ich schlage Wurzeln im zwölften Stock
an der Regenrinne entlang
bei deiner Schwester

deine Schwester
ist unglücklich verliebt
aber nicht in mich
sie hat sich in ihrem Zimmer eingeschlossen
und schaut den ganzen Tag aus dem Fenster
einmal bringe ich ihr Blumen
klopfe nachts an die Schlafzimmertür
wische die Tränen auf dem Boden
mit einem Handtuch auf

ich schlage Wurzeln im dritten Stock
über Schuhgeschäften
bei deinem Bruder

dein Bruder
hat eine dicke Wand
an der meine Ranken zerbrechen
doch er lässt mich an seiner Zigarette ziehen
am Küchentisch
ich huste
und spucke den Ziegenkäse aus

dein Bruder
ich beobachte ihn von der Straße aus
wie er aus dem Fenster gelehnt
auf die Straße spuckt
und sich langsam eine Pfütze bildet

deinen Bruder
beobachte ich nachts aus dem Schlüsselloch
wie er an die Schlafzimmertür klopft
von deiner Mutter
von deiner Schwester
und dann wieder geht
mit Kratzern auf den Unterarmen

dein Bruder
seine Schritte hallen in meinen Träumen nach
ich lauere ihm auf
aus der dicken Wand heraus
dort warte ich auf ihn
ich habe Teewasser aufgesetzt

dein Bruder
spricht nicht mit mir
dein Bruder
hat eine hässliche Wohnung
dein Bruder
verhält sich seltsam
dein Bruder
sieht aus wie du
und deshalb mag ich ihn

dein Bruder
sein Lippenstift hinterlässt Spuren auf meinem Hals
meine Haut umschließt die rote Farbe
und lässt sie nicht mehr los
heiliges Blut
auf dem Gehweg
kleben Hunde wie Kaugummi
sie alle sehen es
deine Mutter
dein Vater
deine Schwester
du

im zwölften Stock
über den Gemüseläden
liegen Scherben in der Küche
ich wische sie auf
mit dem Handtuch voller Tränen


Schattenboxen

A.
Wenn ich nichts mehr in der Zukunft finde, dann drehe ich mich um und schaue zurück. Ich erinnere mich genau an unser erstes Treffen. Du saßt in der Küche und hast dich zur Fensterbank gebeugt, auf der das grüne Plastiknetz mit den Mandarinen lag. Du hast so lange an den faserigen Fäden gezogen, bis ein Loch entstand, das groß genug war, um eine der orangenen Kugeln durchzuquetschen. Ich sah dir dabei zu und deine Bewegungen waren grob, so als ob du dich selbst gerne durch das Loch drücken würdest, als würden sich deine Fingernägel in etwas anderes als die Schale der Mandarine bohren. Während du die Schale abgerissen hast, hast du dich enger in deine Strickjacke in Übergröße gewickelt und schon da wusste ich, dass du mir gefallen hast. Dass du mir als nächstes Applaudieren könntest, wenn ich über ein Geländer balanciere. Dass du dein Gesicht bestimmt nicht verziehen würdest, wenn du dir einen Shot in den Hals kippst. Willst du auch ein Stück, hast du gefragt, nachdem du die weißen Fasern in versuchter Sorgfältigkeit auf dem dreckigen Tisch zusammengeschoben hast. Ich habe den Kopf geschüttelt, mich auf den unbequemsten Stuhl dir gegenüber gesetzt und dir dabei zugesehen, wie du dir die Stücke konzentriert in den Mund geschoben hast, drei mal gekaut und lange geschluckt.
Nach der Hälfte hast du aufgehört und gesagt: eigentlich schmecken die noch gar nicht.

B.
Du bist ein Mensch, der den Raum einnimmt, wenn du ihn betrittst. Wenn wir gemeinsam Kaffee trinken gegangen sind, dann hast du deine Jacke auf einen Stuhl gegenüber geworfen und die Schuhe von den Füßen und gekickt und immer ein wenig lauter geredet, als du müsstest. Und dann gab es die Tage, da nahm der Raum dich ein, drückte sich auf deine Schultern, zerrte dich nach unten und thronte sich über deinem Kopf auf. Ich habe immer an dir bewundert, dass du dein Selbstbewusstsein wie einen Mantel getragen hast, so lange, bis ich erkannt habe, wie oft er dir von den Schultern rutscht, weil er dir eigentlich zu groß ist.
Ich habe nie jemanden so selbstbewusst weinen und sich die Nase am Ärmel abwischen sehen und so laut schweigen hören wie dich.

A.
Unsere Kennenlern-Geschichte ist so langweilig, dass ich mir manchmal wünsche, genau dabei wären wir stehen geblieben. Wir wären eines dieser Paare, was abends in die gemütlichsten Jogginghose schlüpft und auf der Couch vor dem Fernseher zu Abend isst, nur waren wir nie ein Paar. Ich weiß nicht, ob ich je in dich verliebt war, oder ob ich dich einfach nur gebraucht habe. Ich wünschte, wir wären eines dieser Paare gewesen, bei denen die eine schon um zehn einschläft und die andere sie weckt, wenn die Folge fertig ist und sie sich noch einen kurzen Kuss geben, bevor sie unter ihre eigene Decke schlüpfen. Ich wünschte wir wären geworden, wie ich früher nie sein wollte. Jetzt bin ich die schlimmere Version, eine, die mir früher nicht ausgemalt habe und die auch nicht mehr durch Augenringe attraktiv wird.

B.
Meine Augenringer sind bunter als meine Klamotten. Ich habe mehr Fragen als Antworten, ich habe mehr Abstand als Nähe, ich habe mehr Staub als Lappen, ich habe mehr einzelne Socken als Paare, ich habe mehr Ex-Bekanntschaften als Freunde, ich habe mehr Einsamkeit als Nähe, ich habe mehr lose Fäden als einen roten, ich habe mehr Spliss als gerade Kanten.
Wir haben uns nicht mehr. Wir haben alles anschreiben lassen, aber die Rechnungen nie bezahlt. Ist schon okay. Ich lege es aus. Du musst mir nichts zurückgeben.

A.
Ich erzähle dir erst jetzt davon, weil ich meine Worte in losen Buchstaben verloren habe. Sie lagen neben den Tabakkrümmeln unten in den Handtaschen, klebten an den Schuhsolen und standen in Einmachgläser abgefüllt ganz hinten im Regal. Ich erzähle dir jetzt davon, weil du noch weißt, wie ich gewesen bin, bevor ich immer traurig war. Ich erzähle dir jetzt davon, weil ich mich auch jetzt noch von dir umarmen lassen will und nicht will, dass du danach Staub von deinen Händen wischst.

B.
Deine Traurigkeit war wie Tinte, die sich in Wasser ausbreitet. Du hast meine Hand genommen und mich mitgezogen, du hast mich nicht vorgewarnt, dass ich jetzt die Luft anhalten muss. Wir waren unsere eigenes Land-unter, wir waren eine Schmerzgemeinschaft, wir waren immer exklusiv, immer reserviert für die Taubheit, die wir uns gegenseitig eingefüllt haben und wenn sie da war, dann haben wir die Worte sein lassen. Du musst es mir nicht mehr erklären.

A.
Früher habe ich dir alles erzählt, weißt du noch? Ich habe dich gefragt, ob mein T-Shirt zu meinem Rock passt, ob ich nochmal deinen Lippenstift ausleihen darf und ob du auch findest, ich sollte auf das Date gehen. Ich habe dir erzählt, wenn ich auf dem Heimweg geweint habe, ich habe dir erzählt, wie oft ich meine Unterwäsche verloren habe und ich habe dir erzählt, dass ich mich immer noch frage, wofür ich das alles mache, das Studium, die Nachtschichten, das Aufschichten von Stress, bis es zu einer Mauer wird, hinter der ich mich auf den Boden setze. Aber danach habe ich dir weniger erzählt, ich wurde weniger und mein Stress wurde mehr, ich habe alle Kerzen ausgepustet und die Chats archiviert. Ich habe dir nicht mehr geantwortet, wann ich das nächste Mal zu Besuch komme, ich habe dir nicht mehr dazu geraten, zu kündigen und ich habe die Postkarten an dich in meiner Kommode vergessen.

B.
Wir waren nicht immer giftig füreinander, aber wir hätten die kleine Aufkleber mit Gefahrensymbolen gebraucht, Schutzbrillen und Handschuhe. Wir haben die Lücke im Regen gefunden, das sanfte Licht, das die Falten glättet, den Wind, der die Haare aus dem Gesicht bläst. Wir haben die Regenschirme verschenkt und Windjacken verschenkt und danach uns: Nimm du mich und ich dich und dann müssen wir wenigstens nicht mehr uns selbst tragen, dann können wir aufhören Verträge mit uns selbst abzuschließen und die Berechtigung für unseren schweren Atem bekommt eine neue Handschrift.
Ich will wissen, was da noch in mir ist, was geschieht, wenn ich alles auskoste, alles rauskrame, auch das, was verstaubt ist und sich nicht mehr vertraut in meinem Körper anfühlt. Ich will wissen, was unter den Stapeln liegt und wer ich noch alles sein könnte, aber du hältst mich fest, du beschriftest mich mit alten Worten, du legst deine Arme um meinen Hals und es fühlt sich mehr an, als würdest du mich erwürgen, statt umarmen. Ich will Neugier auf mich, aber deine Gier auf meine leise Stimme ist lauter als ich es bin.
Ich mache jetzt Schattenboxen mit mir selbst und schlage auf nichts, als meine Gedanken ein.

A.
Weißt du noch, wie wir uns Tattoos stechen lassen wollten, traurige Smileys?

B.
Du hast schon zu oft versucht, das Patent für Traurigkeit anzumelden und wenn ich nicht mehr mit dir spreche, dann schreist du immer lauter. Meine Stille ist dein Tinnitus. Ich will nicht mit dir alt werden und du willst gar nicht alt werden. Bald sortiere ich die Erinnerungen aus, nur ein paar behalte ich, klebe sie wie Fotos in einem Album und stelle es im Regal ab. Nur an Feiertagen werde ich es ansehen, zum Beispiel wenn ich das erste Mal ohne Strumpfhose und Jacke nach draußen gehe und nicht friere, zum Beispiel wenn ich den ersten warmen Kakao des Jahres mache und alleine trinke, zum Beispiel an dem Tag, an dem ich die Neujahrsvorsätze endgültig über Bord werfe, nur einen nicht, den Abstand zwischen uns.

A.
Zwischen uns ist alles verklebt, mit Fotos auf denen wir Grimassen schneiden, Trostpflastern, vertrockneten Blumen, halbfertigen Liebesbriefen.

A.
Wir werden die Briefe für immer unbeendet lassen.

A.
Du antwortest nicht mehr.


Gebrochene Spiegel

Sie zieht mich durch enge Gassen in einen Schacht, durch einen Brunnen, der Saum ihres Gewandes, ein Schenkel glänzt im Schweiss, es durchbohrt meinen Kopf, die Schläfen trocken

ich wache auf und die letzten Traumtentakel ziehen sich tintespritzend zurück. Kurz noch unter der Oberfläche schweben, dann prustend hoch : schrecken : – Scheibe vor mir, pissgelb : ein Albtraum, schonwieder …

Hoffentlich haben sich keine Füchse an der Satteltasche zu schaffen gemacht : alles noch da. Aus dem Rucksack ein paar Farmerriegel : esse langsam. Brösmeli mit der Fingerkuppe aufpicken : kauen : schlucken : kauen, den Bissen immer zwanzig Sekunden im Mund behalten. Heute Rum oder einen Energydrink zum aufputschen? Oder Mische? Darf nicht gierig werden : – das alte Beef Jerky aus dem Selecta bewahr ich mir für später auf : beware of the jerks

Die Moto Guzzi hat ein wenig Öl verloren über Nacht, ein schwarzer Spiegel mit Regenbogenschleiern am Boden : wie Coca-Cola … mag nur der Vergaser nicht versagen! Die Schrauben für das Standgas etwas runterschrauben : so.
Hab ich alles? : aufsteigen, Choke rein, zünden : – ! : – !, nichts. Nochmals zünden, links geht was, rechter Zylinder stottert sich durch die Kälte ins Leben : schnurren lassen. Choke raus und ab.

Wiesen sind keine mehr, da wachsen Sträucher und das Gras ist hoch. Ein Reh rennt weit vor mir über die Strasse. Ich habe Glück : die Landstrasse ist an den meisten Stellen gut befahrbar. Nur einmal muss ich absteigen und ein verrostetes Autochassis einige Meter weit in einen Graben schieben. Knochen liegen herum : Hunde, da wohl ein Bär (so weit westlich schon?) und … homo sapiens.
Eine böse Sonne beisst sich durch die Buchengipfel.

Durch Basel und auf die Autobahn 3 : – auch das ist schön: keine zeitsparenden Abkürzungen mehr! –, andere Übriggebliebene (gibt es sie (noch)?) müssen die alten Militärbarrikaden schon freigeräumt haben. Meine Beretta sollte ich wieder einmal testen : ein paar Zielübungen … auf alte Plakatsäulen mit abgeblätterten Aufrufen zum Kampf lässt sich immer gut schiessen, und – vielleicht würde ich doch noch zu einem anständigen Schützen werden? Frisches Reh oder Wildschwein … nicht immer dieser Doseneinheitsbrei.

Unter dem Fressbalken bei Würenlos durch; wurde damals dem Erdboden gleichgemacht : Wut kocht hoch – wofür das alles? Dass ich jetzt allein durch diese Welt taumeln und straucheln darf? Wenigstens hatten sich alle die Kriegstreibenden und Zelotinnen und Generale gegenseitig nach Walhalla gebombt : auf dass diesseits der Milchstrasse nichts mehr gedeihen soll. Auf den Mars hatten wir es – Narziss sei Dank – auch nicht geschafft, trotz ödipal-geforderter Milliardäre. Hoffentlich würde es noch ein paar tausend Jahre gehen, bis hier wieder so etwas wie Zivilisation möglich würde. Wenn es denn andere gab, ausser mir armen Mannsgoggel. Und, look on the bright side : Waldkatzen! Wölfe! Bären!! Und Bäume. Sträucher. Früchte. Wobei man die ja nicht essen kann, danke Kernspaltung. Wann hatte ich zuletzt das Dynamoradio probiert?

Zürich kommt in Sicht.
Weit komme ich nicht hinein : lasse den Töff unter einem Vordach stehen. Merke mir den Ort und trage ihn zur Sicherheit auf der Karte ein. Also : Helm, Handschuhe und Lederhose lass ich bei der Guzzi, Rucksack und Satteltasche nehm ich mit. Der Primetower liegt weitverstreut über hunderte Meter. Glas und Stahl : auch das schmilzt. Die Hardbrücke hat schon bessere Zeiten gesehen. Wo war hier nochmal der Schiffbau? Da gibt es vielleicht Benzingeneratoren, oder zumindest Getränke in Flaschen : und wenn ich ganz grosses Kismet haben sollte, Konserven.

Natürlich alles schon geplündert.
War sowieso eine dumme Idee … sollte mich an die kleinen Orte halten. Muss wohl die Nostalgie gewesen sein, die mich hierhin getrieben hat.

Das Zentrum umgehen, um nach Wiedikon zu gelangen. Oben auf dem Uetliberg steht verrostet das schaurige Mahnmal. Von da hatten sie ihre Mörser und anderes Pandorisches geschossen. Jetzt tanzt dort feixend ein grünspanes Skelett : Freund Hain strahlt mir zu … später hoch wandern? Oben würde das Radio vielleicht etwas empfangen …

Dort, wo die S-Bahn fuhr, ist immer noch eine Blockade. Ich muss auf Panzer, unter Stacheldraht und durch ausgebrannte FLAKs klettern, um über den Bahndamm auf die Friesenbergstrasse zu kommen. Skelette mit Helmen und SIG Sauers im Anschlag halten vaterländisch die Stellung. Wie oft hatten wir hier auf den Bus gewartet … – bin doch wieder in die alt-aggressiven Akronyme abgerutscht!

Das Haus ist noch da : ganz überwachsen : Efeu, der Apfelbaum im Garten in voller Blüte.
Wer hätte gedacht … einen mitnehmen, als Erinnerung?

Die Tür geht erst auf, als ich mit dem Brecheisen nachhelfe : der beste Schlüssel der Welt …
In der Küche die Nespressomaschine : das waren noch Zeiten. Muss an George Clooney denken : was die Promis wohl gemacht haben, als es so weit war? am Comersee eingeschlossen und sich mit Kokain betäubt? gebetet? versucht auf die SpaceX Rakete zu kommen, die auf halbem Weg zum Mars mit all ihren very important Insassen explodierte? – aber Bialetti auf offenem Feuer schmeckt auch.

Im Wohnzimmer: das Sofa zerfetzt, eine Fensterscheibe ist raus. Die Explosionen oder ein Tier? Im Regal noch die Fotoalben. Soll ich? …

Zuerst eine Runde drehen. Im Esszimmer steht nicht mehr viel. Im Keller riecht es verdorben, schimmlig und feucht : aufpassen wegen Ratten! Ein paar Tierknochen (hoffentlich) liegen herum. Die Waschmaschine : was würde ich geben für frisch riechende Kleider! Seen und Flüsse sind auch nicht mehr, was sie einmal waren … danke Pharmaindustrie. Hinten im Heizraum zwischen ausgelaufenem Öl tatsächlich Gummistiefel : und noch gut! Sofort mitnehmen. Abstecher ins Seeliger Moor gefällig? Ob da noch was lebt?

Alex fällt mir ein. Ein Kater mit Chuzpe : – welche Katze hat die nicht? Die Stelle im Garten, wo er begraben liegt, würde ihm jetzt sicher gefallen mit dem hohen Gras. Ich hoffe, die Wurzeln des Apfelbaums haben ihn erreicht.

Im ersten Stock die Bettgestelle : wie offene Brustkästen. Vielleicht hatten hier noch ein paar Verstrahlte geschlafen, kurz bevor sie das Zeitliche segneten. Von innen verbrennen … ich trete langsam ein. Das meiste hatten ihre Eltern wohl mitgenommen, als sie die Stadt verlassen haben … – ich hoffe, sie haben die Stadt verlassen – … meine Rievkah …, dass auch du – ich nehme ein Bild von uns zusammen im Bruno Weber Park mit. Im Regal noch Bücher, die Eltern hatten bestimmt keinen Platz dafür auf der Flucht. Alles französisch … Molière, Balzac, Proust : soll ich? Hab selbst keinen Platz. Aber das hier? Eine kleine Montaigne-Ausgabe, das muss mit! Ich lege das Foto von uns zu den Kannibalen ins Buch und gehe nach unten. Sehe kurz in ein Fotoalbum; als die Tränen kommen, schnapp ich es zu. Darf nicht verzweifeln.

Warum sollte ich nicht? Eine Flasche Rum hab ich noch im Rucksack, in irgendeiner Apotheke finden sich bestimmt ein paar Schlafmittel : vielleicht sogar Temesta oder Valium. Ein letztes Mal auf all das anstossen! Doch würde ich mich sicher im Schlaf erbrechen und wieder aufwachen : nein verdammt! Die paar Jahre gönn ich mir noch : es gibt noch so viel zu sehen, was sich nicht zu sehen lohnt! Immerhin gibt es Bücher. Und Landschaften. Und Lieder aus dem Gedächtnis singen.

Ich könnte zum Sammelpunkt-Laden runter und mich dort ein paar Tage bei Science-Fiction und Comics verschanzen … oder hier übernachten? Nein, zu emotional : muss weiter. Zurück ans Dreiländereck? Was habe ich mir nur gedacht – eine Nacht? Ich gehe wieder nach oben, in das alte Zimmer, rolle den Schlafsack aus, zünde ein paar Kerzenstummel an : Fotoalben durchsehen. wir in Dubrovnik : Cavtat : Bibbona : Florenz : Alex … verdammt, verdammt, verdammt das alles.

Mache vorsorglich für den Montaigne Platz in der Satteltasche, stelle dafür schweren Herzens den zerlesenen Anton Reiser ins Regal neben Candide; danke für die guten wütenden Stunden : rest in resentment, friend.

Das neue Buch in klammen Pfoten, lese quer aus der grossen Bäderreise : die peniblen Angaben über den täglichen Urin und Stuhl, das war noch Verantwortung für die Nachwelt. Gespräche mit Rievkah fallen mir ein : wie sie mir den Pyrrhonismus erklärt, die Etymologie von cura und curiositas, ihr bübisches Haar, die feinen Mulden am unteren Rücken : die feinen Haare an den Armen : die Bücher in unserer Bibliothek …

Je ne voyage sans livres ni en paix ni en guerre.
C’est la meilleure munition que j’aie trouvé à cet humain voyage.

Die letzten Schlucke Rum aus der Petflasche und unruhiger Schlaf. Dunkelgraue, eingefallene Gesichter, pfeifende Kugeln, brennende Zigaretten unter Helmen, um ein gutes Ziel für die Scharfschützen abzugeben. Lieber Kopfschuss als verbrennen. Lichter über Basel und die Johanniterbrücke stürzt ein : Rievkah …

hoch : es webt der Nebel am Mond herum, Schiffchen links rum, dann Steilkurve rechts runter, und es wogt der klamme Gipfel hin und her vorm Fenster. Augen wieder zu : ein Glück, klingen keine Kirchenglocken mehr : zumindest davon bleib ich verschont.

Angelaufenes Metall. Kondensstreifen tanzen am Sechseck herunter. Riecht nussig : alter Kaffee, dafür heiss. Die Ravioli dürften jetzt lauwarm sein. Nehme die Konserve mit dem nassen Tuch vom Rost und ziehe den Deckel ab. Erinnerungen an Sommer in der Jugend, das Kraftwerkinseli, erste Küsse : Joints rauchen, Dosenfood, Biere saufen : Musik aus billigen Lautsprechern : betrunken mit dem Velo nachhause fahren. Hätten wir damals gewusst : schnell essen und packen.

Was soll ich hier noch? Suche nach Tabak und finde ein paar Krümel in der Tasche meines fadenscheinigen Militärmantels. Drehe die Fäden in ein Stück Schutzpapier aus einem Fotoalbum und rauche die paar Sekunden, die es hergibt. Stelle die leere Konserve auf eine Astgabel und gehe zehn Meter zurück. Die Beretta 93R entsichern, Schulterstütze raus und in die Achsel, rechte Hand an den Griff, linke an die kleine Halterung : zielen über Kimme und Korn : langsam den Abzug andrücken : abdrücken : – : –, nichts passiert, scheisse. Soll ich alles auseinanderbauen und reinigen? Italienische Technik … die scheiss Beretta hatte ich eh nur genommen, weil sie ein grosses Magazin und Stützen hatte und Salven schiessen konnte; ein Vorteil, wenn man ein so schlechter Schütze ist wie ich. Ich werfe das dumme Ding in ein Gebüsch, ein guter Jäger werd ich nimmermehr. Weg mit all dem Ballerballast.

Den Montaigne in einem Plastiksack zu den andern Büchern in die Satteltasche : gehe den ganzen Weg zurück, ohne mich umzusehen.

Die Guzzi steht noch da, wieder ist was ausgelaufen, zum Glück hab ich noch den Zwanzig-Liter-Tank hintendrauf : wenn der leer ist … : alles aufladen und als Geisterfahrer auf die Autobahn.

Etwas stimmt nicht : als ich gestern ankam, war die Strasse noch frei. Jetzt stehen da drei Militärtransporter verkeilt und : !“ ducken! Der Schuss hallt vor mir nach : drücke mich an den Tank der Guzzi, der rechte Zylinder hat etwas abbekommen ? – fährt noch : ruckelt kurz : fange mich : wer zum Teufel … !“ ein zweiter Schuss : hab keine Wahl – Vollbremse und Lenker rumreissen : schlittern, komme wieder hoch, und fahre Richtung Stadt zurück. Höre Gebrüll : von Menschen? Im Rückspiegel knieende Figuren, Gewehrläufe zeigen auf mich : absteigen und rennen? Nein, weiter in die Stadt rein, sie zwischen Häuserblocks abhängen. Warum musste meine scheiss Beretta gerade … : ein Wagen fährt an, wie hatten die … ? !“ Knatternder Husten aus dem Töffmotor, der Zylinder raucht, etwas klirrt, der Rückspiegel : Scherben … verliere die Kontrolle : knalle gegen die überwucherte Brüstung der Autobahn.

Linke Schulter : Schmerz rast : Rhododendron : Stiche : Fuss kalt : Eibe : Blätter : sehe durch gebrochenes : Gebrochenes im Mund : gebrochenes Visier : Splitter im Mund : sehe mein zerschnittenes Gesicht im zerbrochenen Rückspiegel


Neben der Bundesstraße

Stolze Ackermänner
Ähren zerplatzen in Händen
Die Glocken schlagen noch ihr Lied
Der Geruch der Sonne

Heute nur mit Abgas vermischt
Die Nuancen von Vieh verschwunden
Gibt keins mehr im Ort
Mal donnert ein Tiertransporter vorbei
Gestank nach Dreck, Angst, Würdelosigkeit

Die Bundesstraße, ein Segen
Bahnt sich den Weg durch tote Wälder
Vorbei an Dörfern wie Kulissen
Könnten Pappaufsteller sein

Erloschene Menschen in den Häusern
Die Lungen hängen an den Deckenlampen
Reichen bis ans Fenster
Kommt ein Fremder vorbei

Die Atmung rasselt
Etwas Rente blieb
Die Kinder sind gegangen

Wie Tumore wachsen Gewerbegebiete
Am Horizont
Die Fabrik hat gestreut

Ein Mann am Dorfrand
Fernfahrer oder
Vertriebler vielleicht
Wirft eine Pappschachtel
In den Parkplatzmülleimer

Rindfleisch fault auf Weizen
Zigarettenasche darauf
Neben der Bundesstraße


Nachwort #12

Sie haben ihr Reiseziel erreicht. Es befindet sich weiter unten auf der linken Seite. Scheinbar unvermeidlich, neigt sich euer literarischer Ausflug aus dem Alltag einem Ende zu.

Und nun, wie geht’s weiter?

Ob sich Zugvögel auch diese Frage stellen, sobald sie aus ihrem Winterquartier zurückgekehrt sind? Äh ne, die denken sicher nicht, sondern machen einfach! Am Bekanntesten sind wohl die Störche, dabei sind die meisten Storcharten gar keine Zugvögel. Laut Wikipedia sind schätzungsweise 50 Milliarden Zugvögel jedes Jahr zwischen Europa und Afrika unterwegs. Im Vergleich wirken die Touristenschwärme auf der Alten Mainbrücke lächerlich.

Während ich diese Zeilen schreibe beginnt in Deutschland der Sommer und viele Menschen atmen auf. Es ist soweit, der Sommer ist da und wird vorerst auch bleiben! Endlich Sonne, Wärme, Festivals, Urlaub, Laue Sommernächte, Unterhaltungen bis in die Morgenstunden und ein mit Vogelgezwitscher untermalter Nachhauseweg. Die pure Vorfreude stellt sich ein.

Womit nur anfangen? Alle Wochenenden verplanen oder noch Zeit für Spontanes lassen?

Festlegen fällt schwer, man weiß ja nie, was man sonst verpassen könnte. Dennoch werden Pläne geschmiedet, Zimmer reserviert, Flüge gebucht. Egal wo man später landet, besonders an warmen Tagen scheint alle Welt nur damit beschäftigt, möglichst wassernah ein schniekes Kaltgetränk zu konsumieren während um die Wette geschnattert wird. Menschen ohne fleischgewordenen Gesprächspartner bleibt scheinbar nur das Zücken des Smartphones um mit-zu-zwitschern.

„Digger, viel zu heiß heute!“; „Boah krasses Gewitter gestern.“; oder „Hast den Status von Chloé gesehen, die ist gerade auf Bali unterwegs.“

Meinerseits bleibt es vorerst bei der Balinesischen Hängematte, die die heißen Sommernächte etwas erträglicher macht. Für mehr reicht das Geld nicht und ich erspar mir ein schlechtes Gewissen dem Klima gegenüber. Verreisen geht schließlich auch im Geiste, rede ich mir ein und besteige meinen Privatjet. Der Pilot fragt: „Chef, wo soll die Reise hingehen? Bali, Malle oder doch zurück nach Westerland?“

Es gibt sicher auch Menschen die den Sommer nicht mögen. So wie es Vögel gibt, die nicht fliegen können. Sozusagen die Pinguine unter den Menschen. Der Landgang watschelnder Touristengruppen am Ludwigskai kommt in den Sinn.

Hier eine andere Frage und in meinen Augen viel wichtiger als das eigentliche Reiseziel: Wie gestaltet sich der Weg dorthin? Bewegt man sich geschmeidig durch eine malerische Kulisse oder nimmt, vor lauter Turbulenzen, das Reihern kein Ende.

In diesem Sinne hofft die Redaktion, dass bei all dem Trubel des Sommers das Lesen niemals zu kurz kommt und hier und da das physikalische Reisen ergänzt. Lesen und Reisen passen vorzüglich zusammen, es sei denn man findet sich auf dem Weg in einem holpernden Fahrzeug wieder. Außerdem braucht es keinen Ornithologen um zu wissen, die meisten Vögel findet man auf deutschen Autobahnen. Abschließend bleibt nur die Frage: Ist man erstmal angekommen, wann ist der richtige Zeitpunkt wieder aufzubrechen?

Keine Sorge, die nächste KLW kommt bestimmt.