Ausgabe 02

  • 21/01/2021

Vorwort #2

Ertappt! – Oh nein, ich gebe alles zu! Wir machen keine Werbung. Keine Werbung für Dinge. Keine Werbung für Menschen. Die Texte spiegeln nicht unsere Meinungen wider, denn unsere Meinungen sind unergründlich. Nicht ein Wort entspricht unserer Position. So und nur so bleiben wir für euch unantastbar. Ich bitte um Toleranz, Verständnis und Duldung der Tatsache, dass wir keine reine Belletristik-Zeitschrift sind. Es tut mir leid, euch damit enttäuschen zu müssen, ich denke ihr seid mindestens so desillusioniert darüber, wie ich es bin. Doch wer bin ich denn? Verfasser des Vorworts, klar. Aber auch Redakteur, ganz richtig. Die Abstimmungen über die Aufnahme der Texte wurden von mir in höchstem Maße beeinflusst! So wurden selbstredend auch meine eigenen Texte in die Zeitschrift platziert, wie denn auch nicht? In der Tat sind auch die anonymen Werke von mir, jetzt ist es raus. Und alle anderen auch. Die Namen der Autor*innen sind alle erfunden. Pseudonyme. Gründlich elaboriert und vielleicht, eventuell, womöglich ein bisschen von realen Individuen inspiriert. Den Personenkult Marco Bötsch gibt es nicht, denn auch Marco Bötsch bin in Wahrheit ich: Peter Sipos. Ach ja, und das Nachwort ist natürlich auch mein Werk. Hiermit heiße ich euch also alle peterlich willkommen in der zweiten Ausgabe der Peter Sipos Literatur Zeitschrift. Denn wie Peter Sipos einst sagte: „Jede Zeitschrift stammt von mir. Jedes Buch stammt von mir. Alles stammt von mir.“


Abgrund

I. Abgrund

Bilder aus der Stille strahlen
schleppend schön
hinauf zu uns, die wir noch kommen
werden
und zeigen die, die längst vergangen sind
in ihren schönsten Tagen.

Ein Fluss im Abendlicht
– er streicht dahin, ganz sacht und weit
und voller
dunklem
Glühen.


Nach dem Unterricht sitze ich allein an einem Tisch im Innenhof und trinke ein unverschämt gutes Glas dunkles Distelhäuser.

Zu Beginn passiert nicht viel – auf der anderen Seite fallen ein paar Kerle auf, die lautstark auflachen; da ist eine junge Bedienung an ihrem Tisch die verwirrt dreinschaut. Sie schreibt etwas in ihren Block und ist sichtlich zufrieden wieder gehen zu dürfen. Ein Sonnensegel überspannt den Innenhof, in dem sich zwei Bars ihre Kunden teilen. Die Menschen an den Tischen sehen recht verschieden aus. Jung, alt, angesagt, weniger angesagt, gelangweilt, langweilig wie eine Gruppe Männer im mittleren Alter die Wein schlürfen.

Die etwas korpulentere Bedienung kommt an meinen Tisch, doch ich sage ihr, dass ich bereits etwas bestellt habe. Das war vor dem Bier. Mein Bier wurde serviert von der Dünneren, sie trägt dunkelpinke Turnschuhe (ob das beim Kellnern wirklich so praktisch ist?) und Hotpants. Der Anblick als sie geht gefällt mir – sie hat auch ein schönes, gleichmäßiges Gesicht – jedoch wünsche ich mir, ich dürfte ausmalen statt zwei schönen Beinen hinterherzustarren.

Ich glaube, seitdem ich hier bin, hat sich die Anzahl von allein sitzenden Typen, die Bier schlürfen verdreifacht. Am Nebentisch sitzt ein arabisch Anmutender mittleren Alters und schräg gegenüber eine deutsche Kartoffel Ende vierzig. Wir beobachten das Geschehen. Eigentlich sitze ich hier, weil ich dachte, ich kann jemanden überraschen die ich letztens erst kennengelernt habe, aber ich leg’s auch nicht hundertprozentig drauf an und bisher ist von ihr auch keine Spur. Da sitzt ein Typ mit einem Mädel an einer Wand weiter weg. Zwei identische Cocktails stehen auf dem Tisch. Sie erzählt etwas, während er sich mit den Händen die Backen hält. Sein Erstaunen hängt zwischen einem baldigen Gähnen und einem unbestrebten, herausgerutschten Heiratsantrag.

Währenddessen dämmert mir, dass die Zeit der Gedichte vielleicht an einem Ende steht und es ein Ding der Unmöglichkeit ist, jedweden Sachverhalt in Verse zu pressen. Vielleicht schon, vielleicht reizt mich das aber auch gerade einfach nicht mehr. Außerdem ist da nichts Falsches dabei, in diesem Innenhof zu sitzen, die Szenerie zu beobachten, die Oberfläche von Leuten zu betrachten und so zu tun, als wäre man Tapasbarkritiker oder Kolumnenschreiber. Auch wenn es nur für 30 Minuten ist. Wie wäre es, wenn ich eine Sammlung zusammentrage, zu jedem Café, jeder Bar, jeder Kneipe, jedem Club ein Text – „Würzburg an Stühlen, Tischen, Tanzflächen“, ausgewählte Kolumnen von Würzburgs neuem It-Boy, mit sengender Kritik und giftigen Kommentaren aus dem Rachen hochgezogen und ausgespuckt; die Würzburger Zeitungen würden sich um mich reißen, würden sich für mich zerreißen, damit ich meine Essays bei ihnen platziere.

Zwischengeschaltete Autoreninformation: Marco Bötsch, angehender It-Boy, wartet auf Anstellung als Hausmann, wird dafür meistens verlacht. Verlacht am liebsten die KLW und ihre Tagesordnung. Bittet die KLW-Führung zukünftig davon Abstand zu halten, seinen Namen in Interviews zu missbrauchen, aus Angst vor einem Personenkult.

Trinkt Frostschutz.

SCURR!


Gibt es Zauber auf der Erde? So in etwa, wie ein wenig Feenstaub der mit dem Wind seine Kreise zieht und uns dann umfängt, umwirbelt, umschließt und dann mit sich reißt? Da gibt es Menschen, die glauben nicht an Peter Pan oder Tinker Bell, an Harry Potter oder Albus Dumbledore, aber das heisst doch noch lange nicht, dass es so etwas Magisches nicht gibt. Denn es gibt Wesen, die tragen den Feenstaub in sich, mit ganz viel Glitzer und Bling Bling. Und obwohl er doch so funkelt und so strahlt, sind wir doch alle viel zu blind um ihn zu sehen. Denn Feenstaub besteht aus Liebe und aus Herzlichkeit, aus Großzügigkeit und Güte, aus Hoffnung und Vertrauen. Aber auch Feenstaub ist endlich. Und irgendwann, da ist er aufgebraucht, so ganz einfach verflogen. Im Wind.

Weil ich, ich hatte mal eine Fee. So wie jeder Mensch, auch wenn sie es nicht wahrhaben wollen. Weil wahr ist ja schließlich nur all das, was am Sonntag in der Zeitung mit der roten Überschrift steht.

Meine liebe gute Fee, sie hat mir all ihren Feenstaub geschenkt, manchmal auch mit Müh und Not, und manchmal auch gegen meinen Willen. Aber auch ich war einmal blind. Und da habe ich ihn einfach achtlos weggeworfen.

Und nach langer langer Zeit, nachdem ich begriff, dass man Feenstaub nicht einfach so wegwirft, sondern fest an sich drückt und irgendwann weitergibt, da war er weg.

Und mit ihm, auch die Fee.

Meine liebe, gute Fee. Sie war mein Glitzerüberbringer und ihr Name war Celesthe.


Das kleine Schwarze

Es ist wie im Nachthemd barfuß Eiskunstlaufen. Es ist kalt und finster, Eissplitter schneiden in die Fußsohlen und der Mondschein fällt auf den zugefrorenen See. Es spielt in der Ferne ein Klavier Franz Liszt und es liegt etwas in der Luft. Der Wind trägt die Musik ganz nah an mein Ohr. Abgehackt, trotz der Härte harmonisch. Wer da wohl spielt? Ganz egal. Hier geht es um den Schmerz des Eiskunstläufers. Die Musik ist nur Kulisse. Er dreht eine Pirouette. Blanken Fußes. Seine Gesichtszüge sind gespannt, gedehnt vor Schmerzen. Leicht belustigt stehe ich am Rand und sehe ihm zu. Masochist, spukt es in meinem Hirn. Was soll denn das? Er könnte doch etwas dagegen tun, denke ich. Schlittschuhe anziehen zum Beispiel und mit Freude über das Eis gleiten. Doch das tut er nicht. Er gleitet barfuß über das Eis, beißt die Zähne zusammen und schweigt. Will nicht darüber reden. Über den Schmerz des Eiskunstlaufens. Warum auch, es könnte ihm ja jemand helfen, die Schlittschuhe anzuziehen und mit ihm über das Eis laufen. Er wehrt sich gegen sein eigenes Glück. Warum? Weil er Sorge hat, dass ihn jemand umstößt und auf dem Eis hinter sich herzieht. Denn das tut dann weh. Das weiß er. Er weiß, wie es ist, über das Eis gezogen zu werden, ins Schwarze zu fallen, vertraut zu haben und enttäuscht worden zu sein. Vor lauter Schmerz spürt er den Schmerz schon gar nicht mehr. In seinen Gesichtszügen macht sich Entspannung breit, er scheint es zu genießen, den bittersüßen Schmerz. Da hat er etwas für sich gefunden, das nicht jeder hat, nicht jeder lebt. Warum also teilen, geschweige denn etwas davon abgeben? Sollen die anderen doch draußen stehen, hilflos wie gegen ein Schaufenster klopfen und bei der mutwilligen Selbstzerstörung zusehen. Drinnen erscheinen sie ihm wie die Zombies bei der Apokalypse, die nur noch Schlimmeres bringen. Warum ihnen also die Ladentür öffnen und ihnen einen Tee anbieten. Soll Joseph Heinrich Beuys doch raten, jemand gefährlichen zum Tee einzuladen und bei Mondschein zu baden. Der Eiskunstläufer kann sich nicht fallen lassen, er hat Angst vor Schlangen, pflanzt nicht gern etwas im Garten. Er ist ganz und gar kein Freund von Freiheit und Unsicherheit. Vor seinen Träumen flieht er. Er meint, verantwortlich zu sein und tut die Dinge nicht aus Liebe. Er schläft kaum, er knausert, er glaubt nicht an Magie und Zauberei und zeichnet vor lauter brav sein nicht auf Wände. Er liest nicht und er ist ganz bestimmt nicht verzaubert.

In jedem von uns steckt wohl ein kleiner Eiskunstläufer. Vielleicht sollten wir uns mit ihm auf eine grüne Bank, die rot angestrichen war, setzen, dem totgeschoss’nen Hasen auf der Sandbank beim Schlittschuh laufen zusehen und ihm sanft das Blut von den Fußsohlen abwischen, sie bandagieren und ihm Schlittschuhe anziehen. Schweigend uns mit ihm ins Gespräch vertiefen und ihm sagen, dass wir für ihn da sind, auf ihn aufpassen, ihn nicht über das Eis ziehen werden, sondern Hand in Hand mit ihm Pirouetten und Sprünge vollführen wollen. Blitzeschnelle, langsam um die Ecke fahren wir. Wir machen ihm klar, dass wir ihm die Angst vor dem blondgelockten Jüngling mit dem kohlrabenschwarzen Haar und der alten Schrulle, die kaum sechzehn war, nehmen wollen. Was immer sie ihm angetan oder gesagt haben, die Zeit heilt alle Wunden und Wunder. Von uns bekommt er endlich die Butterstulle, die mit Schmalz bestrichen war. Im Dunkeln halten wir ihn, bestaunen mit ihm den hell scheinenden Mond und zeigen ihm, dass es im Leben noch so Vieles zu sehen geben wird. Was er da doch alles verpasst, wenn er barfuß über das Eis gleitet. Ich führe ihn von der schneebedeckten grünen Flur, fahre mit ihm in einem Bus, in dem stehend Leute sitzen und sehe ihn mir ganz genau an. Wo kommt er her? Warum mag er Liszt so gern? In seiner Geschichte liegt es begründet, sicherlich.

Und dann lasse ich ihn wieder einen Teil von mir sein, den Eiskunstläufer. Denn so lebt er gut. Er lebt nur nicht allein.


Der Druck

Frauen im Internet
Männer davor

Hotelzimmer im Rahmen einer Videokamera
Nippel groß wie Zitzen
Blasen kurz nach der Entbindung
leckt sie wie wild ein Arschloch
und sieht gut aus dabei

Frau im Internet
Arschloch davor

rabiate Analpenetration
sie wirft einen stöhnenden Blick nach hinten
auf dem Weg in seine Augen wird die Lust sich finden
allen gefällt’s
Szene im Kasten

die Illusion im Internet
die Lüge davor

allen gefällt’s nicht gut genug
eine Frau schließt ihren Busen an eine Reifenpumpe
Tumulte auf der Autowaschstraße
Premiumpaket mit Klappstuhl neben dem Regisseur
alles sauber

Frau auf der Waschstraße
Schwein im Klappstuhl davor
Menschen dahinter

Einsamkeit eines alleinstehenden Mannes betäubt
Verlangen für einen Moment gestillt
Würde weiter vergiftet

Busen explodiert
Druck der Öffentlichkeit zu groß
im Barometer
stirbt eine Frau

damit meine Macht lebt.


Drei Miniaturen

I. Seil im Ohr

Mir wächst ein Seil aus dem Ohr, ich leide. Ja, sagt mein Arzt, das ist ein Tumor, das Röntgenbild lässt keine Zweifel zu: das Seil wächst direkt aus dem Gehirn, ein Glück, dass es einen Weg aus Ihrem Ohr gefunden hat! Kann man es nicht einfach abschneiden? Nein, meint der Doktor, das wäre fatal. Wie fatal, frage ich. Tödlich fatal, sagt er. Dass ich jetzt auf der einen Seite nicht mehr höre, ist das kleinste Übel. Schon bald hängt das Seil bis zu meinen Schultern hinab und alle starren mich an. Als dann das Seil abfällt, wie eine reife Frucht, hebe ich es auf, hänge es an die Wand und wenn meine neuen Freunde fragen, was das sei, dann sage ich: ein Seil.

II. Der Wächter

Einmal betritt der Wächter meine Zelle mit einem Messer in der Hand. Ich liege noch im Bett, es ist früh am Morgen. Mörder, rufe ich und verstecke mich unter der Decke. Als ich nach einer Weile vorsichtig nach dem Wächter schaue, steht er immer noch da und streckt mir das Messer entgegen. Was soll ich damit, frage ich und nehme das Messer in die Hand. Man will, sagt der Wächter, dass Sie ehrlich werden! Ich frage ihn noch, was er damit meint, aber er schüttelt bloß den Kopf zum Zeichen des Beileids. In der Tür dreht er sich noch einmal kurz um, schüttelt aber wieder nur den Kopf und verlässt die Zelle.

III. Eine Gasse

Ein feiner Herr biegt in eine bepisste Gasse ab. Aus einer Mülltonne schlüpfen zwei Penner. Sie verwuscheln seine Haare, brennen Löcher in seinen Anzug, schmieren Asche in sein Gesicht und reißen ihm zwei Zähne aus. Als sie ihm eine Spritze in den Arm rammen wollen, renne ich auf sie zu, um einzugreifen, doch bei näherem Hinsehen merke ich, dass sie an der Verwandlung alle Spaß zu haben scheinen. Zwar bin ich nicht edel genug, aber dennoch hoffe ich mit jedem Schritt mehr, dass sie mich ebenfalls empfangen werden. Ich rufe: Nehmt mich an, samt Körper und Blut, ich gehöre euch!


Du auch

Ich war ein Kind.

Meine Oma fuhr im Hühnerstall Motorrad, mein kleiner grüner Kaktus stand draußen am Balkon, die Katze jagte ich um die Ecke, den Hund packte ich am Schwanz. Nur erinnern kann ich mich nicht. Vergessen habe ich das alles. Kennt ihr das auch? Den Klassenkamerad beförderte ich in die Matschpfütze, den Vater nannte ich Arschloch, Fußball meine Leidenschaft, ein Buch las ich nie. Erinnern kann ich mich. Vergessen habe ich das nicht. Nur erkenne ich mich nicht. Erkennt ihr mich? Der Stiefvater ein Fremdkörper, die Oma eine Hexe, vom Bruder bezog ich Trachtprügel, das Schwimmbad ließ mich beinahe Ertrinken. Nur wiedergefunden. Verdrängt habe ich das alles. Macht ihr das auch?

Wenn Gift zu lange in dir bleibt, dann stirbst du irgendwann.
Wenn das Kind in mir geblieben wäre, wäre ich dann auch gestorben? Du auch.


Ein Mensch stirbt,
1. Szene

Ein Krankenzimmer mit Fenster zum Park. Mittig ein Krankenbett darin: Eduard Hoffer. Blumen auf dem Nachttisch. Der Evaluant in grauem Anzug mit Aktentasche betritt den Raum.

Evaluant

     Ich will Sie hiermit grüßen!

Hoffer

     Danke, das ist Ihnen gelungen.

Evaluant

     Ausgezeichnet! Um nun auch noch die schriftlichen Formalia hinter uns zu lassen, würde ich Ihnen gerne fünf Haken, einen Schriftzug und ein Kreuz abtrotzen, um sicherzugehen, dass Sie der sind, für den ich Sie halte.

Hoffer

     Verzeihen Sie, sind Sie hier vom Haus?

Evaluant

     In gewissen Weisen, ja! Nun, ich will offen bleiben: In solchen Fällen gibt es eine routinierte Ansprache, zugeschnitten auf alle Menschen in Ihrer Lage. Aber ich möchte ehrlich mit Ihnen sein: Es ist nicht mehr viel zu holen und es nützt wenig zu zappeln bei Ihrem Zustand. Wenn Sie mir nicht glauben: Hätten Sie vor zehn Jahren einen fremden Mann ohne wenigstens nach seinem Namen zu fragen an Ihr Bett gelassen? Na, da sehen Sie es doch! Da kann nicht mehr alles stimmen. Aber keine gesonderte Sorge, mein Name ist sehr gut und ich bin ja für Sie da. Sie müssen verstehen: Der Peak ist erreicht. Aber ist das Alter zwar ein hundsgemeiner Krämer, so nimmt es uns wenigstens den Egoismus und macht uns sensibel für das Allgemeine. Es sei denn, Sie widersprächen?

Nun, zunächst ein kleiner Exkurs: Stellen Sie sich vor, Sie besitzen eine Firma. In dieser Firma gibt es unzählige Türen. Hinter jeder Tür, nein! Vor jeder Tür befindet sich eine Fußmatte. Eine Fußmatte, die vielleicht an einer Stelle einen frechen Fleck hat. Hinter der Tür sind Sie! Aber der Fleck muss doch gemeldet werden! Und genau dafür bin ich da. Also: Haben Sie an Ihrer Fußmatte, irgendetwas auszusetzen?

Hoffer

     Ich … Ich bin ganz bei Ihnen, doch –

Evaluant

     Ihre Fußmatte! Mensch! Ich sehe schon, Sie wollen Referenzen. Die Aufklärung, Hitlers Tod und die Pinkelgebühr an Raststätten sind nur drei unserer mannigfaltigen Verdienste. Ja glauben Sie denn, das wäre dem Menschen einfach so vor die Füße gefallen? Lassen Sie sich doch nicht für dumm verkaufen! Sie wirkten eben noch gescheit. Das alles sind Ergebnisse von Massenevaluationen. Durchgeführt von Meinesgleichen, um Ihr Leben zu verbessern!

Wir können doch Fehler nur beheben, wenn es eine Rückmeldung der Betroffenen gibt! Also seien Sie doch nicht so selbstsüchtig. Das ist Ihre Chance die Welt, in der Ihre Nachfahren leben werden aktiv zu gestalten. Sie füllen diesen Bogen aus, meine Kollegen vergleichen Ihre Angaben mit denen anderer Sterbender, die dringlichsten Forderungen gehen in die Chefetage und die kümmern sich dann darum. Natürlich insofern es Budget und Mittel erlauben, wir sind nicht die Heilsarmee.

Hoffer

     Wer ist denn Ihre Chefetage?

Evaluant

     Sachte, guter Mann! Für kritische Fragen gibt es am Ende des Bogens einen freien Bereich. Aber ich sehe, Sie beginnen zu verstehen. Nun tun Sie uns den Gefallen und lassen Sie uns evaluieren, solange Sie noch Kreuze machen können. (Kramt einen Fragebogen aus der Tasche.) Hier sind nun mehrere Aussagen aufgelistet, Sie dürfen zwischen fünf Ankreuzkästchen wählen, wobei das Kästchen ganz links „stimme gar nicht zu“ und das ganz recht „stimme voll zu“ bedeutet. Sie sehen, reine Qualitätssicherung.

Erste Frage: „Den Stoff meines Lebens habe ich verstanden.“
„Ich habe viel in diesem Leben gelernt.“
„Die Lernziele dieses Lebens waren klar erkennbar.“
„Meine Eltern stellten eine gute Betreuung sicher.“
„Meine Eltern wirkten gut vorbereitet.“
„Meine Eltern redeten verstehbar und laut genug.“
„Es wurde ausreichend Lehrmaterial zur Verfügung gestellt.“
„Die Menschen werden ermutigt, Fragen zu stellen, und Sie erhalten sinnvolle Antworten.“ „Religion hatte einen positiven Einfluss auf mein Leben.“
„Die Menschen wurden fair und respektvoll behandelt. Der Sinn des Lebens wurde durch verständliche Beispiele veranschaulicht.“
„Das Leben stellte den Bezug zur Praxis angemessen her.“
„Die Organisation des Lebens war gut.“
„Der Schwierigkeitsgrad des Lebens war angemessen.“
„Schätzen Sie den durchschnittlichen Arbeitsaufwand Ihres Lebens pro Woche: 0–2 Stunden. 2–4 Stunden. 4–6 Stunden. 6–8 Stunden. Mehr als 8 Stunden.“
„Ich habe dieses Leben gerne besucht.“

Evaluant

     Ich weiß, was Ihnen durch den Kopf geht. Grämen Sie sich nicht, Sie haben das ganze Theater der letzten Jahrzehnte ganz gut über die Bühne gebracht. Hab schon schlimmere angetroffen. Kommen Sie, ich habe ein kleines Präsent als Dankeschön dabei. (Überreicht eine Schachtel Merci-Schokolade.) Aber nicht alles auf einmal naschen! Sehen Sie, ich kann Ihnen wenig versprechen, aber vielleicht wird es ja später besser. Wir sehen uns! (Ab.)


Etüde über eine
Streichholzschachtel

Karton, blau, der zu einer viereckigen Hülle gefaltet ist, umschlingt eine nach oben offene Schachtel. Das Äußere gibt das Verborgene erst frei, wenn man gegen das Innere drückt. Die Schachtel, die sich grau zuvor im blauen Karton versteckt hat, gibt nun ihren Inhalt preis. Überaus lange, zerbrechliche kleine Holzstäbe tummeln sich in ihr. Als Kopfschmuck tragen die beigen Stäbchen Rot, das sich nur an einem Ende schüchtern um das Holz schlingt. Die so herausgeputzten Stängchen lassen sich problemlos aus der Schachtel entnehmen. Wenn sich der rote Hut an den rauen bräunlichen Außenseiten des blauen Kartons reibt, entsteht ein angenehm weihnachtlicher Duft; im nächsten Moment flackert das Hölzchen freudig auf. Die Flamme verzehrt allmählich das Holz, bis nur noch ein kläglich gebogenes, schwarzverkokeltes Etwas überbleibt. Ist man behänd genug, erhält man die außergewöhnliche Möglichkeit, die Flamme zu nutzen, um anderen Dingen, wie zum Beispiel Kerzen, Licht zu schenken.


Frauen in Würzburg

Ihre Stimme trägt
Hinten stößt Geplapper auf
gleich einem Bierrülpser
säuriger Kohledampf aus Mund und Nase
trägt ihre üppigen Wölbungen nicht
aus dem Abendkleid
zurechtgemacht
lädt sie ins Bett
doch es ist nicht einfach zu haben
trotz exponierter Lage
Mädel es ist Zeit zu gehen
sing erst dein Lied
wein mir einen Fluss
der mich zur Ruhe bringt
nicht wie die andere vor mir
deren Augen den meinen sind
mütterlich vertraut
sonderbar der abgebrochene Eiffelturm
am Reißverschluss der Handtasche
einer jungen Frau
Würzburg fängt dich nicht
wenn Paris in Trümmern liegt
vertaner Mantel große Knöpfe schwarz
vertan Brille und roter Lippenstift
in guter Gesellschaft
unendlich teuer
eine Aufpasserin
die einen den Regenschirm nicht vergessen lässt
Zucker auf die Tage streuen
Weihnachtszeit in der Straba
sie alle sitzen in der Straba früher oder später
auf Hartplastik, posieren
sind der Blicke Herrinnen
sind der Blicke Herrinnen
sind der Herren Herrinnen


Gedichte (C. Dreßel)

Arbitrarität

Berauscht von unseren selbstsüchtigen Wünschen
finden wir uns entrückt
von den Nöten und Bedürfnissen unserer Zeit.

Wir sagen Beziehung und leben Narzissmus.
Signifikant und Signifikat im Kollektivrausch neu
etabliert,
der Zeit neue Konventionen einschreibend.

Uns selbst konsumierend – Ekstase – Leiden.

 

Kausalität

Kennst du ihn – diesen Moment,
den Worte nicht einzufangen vermögen,
der sich dem Denken aufbegehrt
und
dich die eigene Unzulänglichkeit vergessen lässt.

Du merkst, dass es stimmt mit dir und der Welt.
Bedürftig in ihm zu verweilen,
erweist sich seine Vollkommenheit
in der Anwesenheit seiner Flüchtigkeit.

Er lässt dich zurück.
Sehnsuchtsvoll hängt deine Seele ihm nach
in der Gewissheit,
dass alles seinen Gang gehen wird.

 

Verwahrtes Geworfensein

Gedanken und Gefühle
gebettet in Briefen,
ein Stück ihrer Flüchtigkeit enthoben.

Ein Name als Signatur für geopferte Zeit.

Die Briefmarke als Hoffnungsträger in die Ferne.

Das Briefpapier
vielleicht
ein gefaltetes Lachen, vermessene Einsamkeit
oder
kalligraphierter Schmerz?


Gedichte
(C. Hattendorf)

Expedition

Mit dem Fahrrad starten und Hinab
Den Asphalt zu Schotter fahren
Die kleinen Steinchen spritzen
Rechts und links

Baum und Blume fliegen
Wie Vorfahrtsschilder, im Augenwinkel
Die Straße windet sich um sich selbst
Ich werde mit mir eins
Zehn Höhenmeter tiefer

Das Pausenbrot bei Schafgeblök
An den Schenkeln kitzelt das Gras
Das Fahrrad lehnt außer Sichtweite
Der Körper wird zur Wiese
Ein Schaf mümmelt am großen Zeh

Den weiß-grünen Zeichen
– Wie indigene Symbole an Bäume gemalt –
Immer hinterher
Die Autos auf der Schnellstraße hupen
Ich tue nichts als Fallen und Fliegen:
Diese Berge hinab

 

Am Fluss

Dienstag im April an der Innersten (Hildesheim-Itzum)

Belacht hab ich dich und deine Auen
Vergib’s, ich war von Stein geblendet
Schienenstahl und Geröllweite vor einem Kran aus zwölf Pflöcken
War alles, was ich sah

Geschaufelte Erde und mit Zement gestopfte Bodenlöcher
Das war für mich natürlich
Der Blick auf Eisenbahn, Stahlkunst und weiße Fahrstreifen
Die Ruhe von der Stadtaufwälzung

Und nun, ach du sagst, du seist gemacht
Dein Bett habest nicht du dir gerichtet
Und an dem Moorast rieben sich sonntags die gierigen Nasen

Sag, fließt du nicht in Frieden, trotz dem?
Wasser und Innerstes, belebter Spiegel
Alles und mehr bist du

 

Gesang auf durchtrennte Neuronenbahnen

Wer weiß schon, was soll er bedeuten
Der wie ein Gespenst aus dem Leib gejagte Vogel,
Der zwischen die Lippen langsam eine Spalte gräbt
Und sich halb um sich drehend, hervorarbeitet
Jede Lippe wie mit Federfingern passiert
Im Vorübergehen

Wer weiß schon, was soll
Der steife Körper
Werden und sein
Wenn fleckige Tode ihn bis zur Unkenntlichkeit
besprießen
Alle Farbe der Lebenspalette mit kaltem Wasser
auswaschen
Und die Synapsen, die Reflexe sprachen, auflösen
Wie Perlen eines durchtrennten Rosenkranzes

Wer weiß einen Deut mehr als:
„Danke! Er ruhet. Die Zeiten …
Bei seinem Leibe.“ Sprechen von Vergangenheiten
Gibt es Größ’res nicht zu tun als zu nähren sich?
Können wir nicht weiter gehen als nur diese Straße hinab?
Ein Aufgerissenes zuschaufeln, anstatt
Krümelchen Erde auf seinem Boden tanzen zu lassen?

Halten wir keine Totenwache?

Wer weiß die Welt,
Und ihr wahres Abbild?

Jener Vogel, Mittler an der Grenze zu einer anderen Welt
Ob er wohl mehr wüsste


Gedichte
(S. Schmidt)

Wir Nüsen

es ist eine morgendliche nüse die fliegt
ein freshes querulum an kautarsien raschelt
warum auch nicht. sonnige natur im halben
werde wach mit deinem gelöse

ein freundlicher dröbel zwitschert am kabel
noch braune kolarien. an der spitze schon weiß
esse küssen sich unlästig
wir alle halten uns bereit für
eine neue generation von
sowas von

es ist ein wochentag wie jeder andere
der sein licht anschmeißt
entgegen den gewaltsam aufgebrochenen tagen
vergangener episoden und +explosion

möchte mir nicht vorstellen was es heißt
ohne dröbel zu leben märz bis september
es wär flaschig

die vorwürfe. das lächerlichmachen
schlechter informiert sind immer die älteren
auf der demokratiebalustrade
und emotionaldemokraten

nachher frische Friarsien entstempeln

ohne titel

Und zu der Zeit im Juli
als die Tulpen schon abgedüstert waren
der Bienenchor entbläht abends &
die Luft dicker als sonst
seit Wochen dicker als vorher sonst
schwoll uns der Saft im Auge

Es war eine Nacht und damit die Zeit der Katzen
als eine Mail im Futur II aufplatzte

Ein
Eigenbedarf hat die Eigenschaften
kroatischer Seeigelfelder
Nun auch & seit dem
an deutschen Badeseen zu betreten
die an denen wir waren
die niemand besaß
die uns einen Ausgang aus den irren Temperaturen bedeuteten
und dies für immer sollten

Jede Luft hatte das Gewicht von
rund 165 Groß- und Kleinmöbelstücken
was die Lavendel
im Garten ins Dunkelrötliche drückte
eine Art ekliges Bordeaux

Jeder Morgen ein März
zunächst, dann,
brachte der Abend das zeitlich begrenzte Gefühl eines Clusters jeden Abend
auch innerhalb der einzig zu atmenden Atmosphäre
einer Stadt, meiner Stadt.
Dort außerhalb die Felder wie
der kurze Bart eines Alten
ein roter hässlicher Wind
in den sich schon viele von uns hineingemietet hatten.
Hallo.

 

Späte Fantasie

Er erhält die Gunst
der Hummerin
als Hummer
mit bester Miktion

Beim Scherenschlag
am Kochtopfrand
ist das
seine letzte Fiktion


				

Lächerlich

Um wen weine ich wenn
mich, leise schleichend wie
der Panther
schwarze Dunkelheit
besiegt

Um wen weine ich wenn
mich, im fahlen Licht
der Straßenlaternen
Schatten bedrohlich
bezwingen

Um wen weine ich wenn
mich, laut kreischend wie
der Zug
die Angst
überrollt

Um wen weine ich?
Ich weine um mich wie lächerlich


II. Leere

Gelöst in der Leere,
von Tragik und Schwere,
durchziehende Wärme,
treibt an, treibt auf,
spiegelt wieder dieses Leben,
oder zumindest dessen Lauf.

Gelöst in der Leere,
von Ist und Wäre,
wird sichtbar im Stillen,
ein tragender Applaus,
durchzieht alles Streben,
begleitet sichtbar hinaus.

Lösende Leere,
geleert und gelöst,
leerende Lösung,
gelassen und getrost,
leerende Lehre,
gelehrt oder gelost.


Bis kurz nach halb fünf ist alles wie immer gewesen.
Zwanzig vor vier hat der junge F. das Haus verlassen, er steht jetzt, am 27. April 1988, um 15:41 Uhr vor der Doppelgarage, er zögert, er streichelt das geriffelte Metall, er lauscht hinauf. Er steht, als ob er Abschied nehmen müsste. Perlendes Klavierspiel aus dem ersten Stock. Leise, aber dicht an dicht herunterperlend, feinperlig wie Graupelschauer.

Er steht immer noch, als wolle er gar nicht gehen, zögerlich, lauschend, suchend, mit fast begriffsstutzigem, leicht schräg gelegtem Schädel. Als wüsste er nicht. So abwesend und gedankenverloren steht er da, als würde er jeden Moment wieder umdrehen, und zurück ins Haus. Vielleicht denkt er auch, das Garagentor streichelnd, an die baldige Vollendung seines fünfzehnten Lebensjahres, an motorisierte Leichtkrafträder, die große Freiheit. Hinaus in den Sommer und allem davon. Knatternde Blechmusik! Zweitakter!

Jetzt aber nur perlendes Klavierspiel mütterlichen Ursprungs. Vielleicht denkt F. auch garnichts, blickt aber auf seine Armbanduhr. Es ist immer noch neunzehn Minuten vor vier.

Unter seiner Achsel trägt der junge F. eine Mappe aus Rindsleder, mittelbraun und grob genarbt, untenherum ockerfarbene, fast zu kurze Cordhosen, dazu weniger elegante, praktische und bequeme Velourschuhe mit abgesenktem Fersenbereich. Insgesamt deuten die Wohnsituation und seine weiche Gesamterscheinung auf ein gutes und bildungsnahes Elternhaus hin. Er entfernt sich jetzt aus der Einfahrt, immer noch zögerlich, und folgt einen leicht abschüssigen Fußweg zwischen großzügigen, naturnah angelegten Gärten. Frühlingshaftes Vogelgezwitscher. Keine Menschen.

Um 15:49 hat F. die Talsohle erreicht, der Weg zieht sich flach dahin und die an den Hang geschmiegten Einfamilienhäuser sind verschwunden; sind großen Häuserblocks gewichen, siebenstöckigen Schlachtkreuzern des sozialen Wohnungsbaus, allerdings mit irgendwie bunt gemeinter Außengestaltung. Aus deren Schatten lösen sich kleine Gruppen. Jugendliche in gemischtgeschlechtlicher Zusammensetzung, mit ganz anderen Schuhen, unter grellen und entschlossen ausrasierten Haaren. Teilweise ausgiebiges Sackkratzen, sofern Kratzbares vorhanden.

Was er hier wolle? Genauer: Ob er etwas wolle?

F. schweigt, das Rindsleder vor die Brust gedrückt. Die Gemischtgeschlechtlichen sehen die braune Mappe, abschätzend betrachten sie seine lächerlichen, dürren Unterarme, auch die Finger.

Los komm ma’ her da, Lutscher! Kannst’e ma’ da durch’n Fensterschlitz fummeln? In ’ne Karre rein. Weg’n Zündschlüssel. Scheißzündschlüssel, der wo noch mitten auf’n Sitz liegt. Scheißsitz.

F. fummelt in die Karre hinein, die Storchenarme bis zum Bizeps zwischen Scheibe und Rahmen verklemmt, Gelächter.

Voll Scheiße, dem sein Schlitzfummeln. Echt.

F. stark gerötet, vergeblich weiterfummelnd, immer noch eine Fingerbreit vom Schlüssel entfernt. Dann anschwellendes Gebrüll, Kreischen. Gelächter. Die Beifahrertür! Ja Scheiße aber! Ist doch gar nicht abgeschlossen gewesen, alles paletti also.

Frohes, jetzt doch ziemlich allgemeines Genitalbereichskneten. Und der Lutscher solle jetzt mal machen, dass er weiterkäme. Die arme Sau. Sie ziehen sich ins Halbdunkel der Eingänge zurück, grinsend: Dass ihr Herumlungern, ihre kleinen Gewalttätigkeiten, ihr grobes Abfingern nichts wäre gegen das, was ihm bevorstünde.

F. setzt seinen Weg fort. Er muss nun die Traghand wechseln. Weitertraben. Wirft ab und zu den Kopf nach rechts oder links, wie ein Schindersgaul. Ludwig den XVI. hinter sich auf dem Karren, das Fallbeil in Sicht. Der letzte Gang. Schwerer Schritt, lahmer Schritt.

Dann vor sich die Silhouetten der Wohntürme, graukantige Klötze, zufällig ins Grün gerammt. 23 Stockwerke. 92 Wohneinheiten. Um 15:59 steht F. vor dem blitzenden Tastenfeld der 92 Klingelschildchen. 6. Stock, 2. Wohneinheit rechts. F. gibt vor, das Klingelschild suchen zu müssen. Seit letztem Sommer aber kennt er diesen Namen, drückt er diesen Klingelknopf. Jeden Mittwoch steht er hier, genau um vier, vor diesem Namen: Tuttelbarth. E.+H. Tuttelbarth. Der Mann mit dem Atem. Die Frau mit dem Stöckchen.

Er hat es sich angewöhnt, zuerst hier unten zu klingeln. Damit sie Zeit haben, damit sie …

Was eigentlich? Damit sie dort oben …? Hinein. Im Aufzug die Bedientasten glänzend vor Körperfett. An den Türkanten ist der graubraune Innenlack bis aufs blanke Metall abgescheuert. Der Fahrstuhl ächzt in den Seilen. F. klemmt sich die Mappe zwischen die Knie, steht x-beinig im Aufzug, um die Handflächen an den Schenkeln trocken zu reiben. Dann der 6. Stock. Die Fußmatte ohne Willkommen, ohne Tiermotive, hinter der Wohnungstüre verdunkelt sich die Beobachtungslinse. Aufknarzen. In der Türe steht Tuttelbarth. Der Tuttelbarth. Mit schwerem, asthmatischem Atmen. Aus dem Hintergrund aber auch: Klavier. Und ihr Rufen: Ob es das Jingla wäre? Dann herein, nur herein! Der Tuttelbarth gibt die Türe frei, mit nachgiebig zittriger Geste. Nu, ruft er ins Innere, und: Je nu, er wäre da! F. setzt den Fuß über die Schwelle, kein Zurück jetzt mehr, immer noch im schleppenden Armesünder-Schritt. Er wittert: Kaffee, Fleischbrät, die Körperpflegeprodukte alter Menschen. Als Hintergrund: Kartoffelschnaps.

Vor den Tasten die Tuttelbarth selbst.

Nu, da biste ja, schönschön!

Sie hat sich ein wenig vom Piano zurückgestoßen, den Stock auf den Schenkeln.

Und heute? Was haste vorbereitet? Sie sagt heite, und voorberaität, irgendein singender ostischer melodischer Dialekt, fast undeutsch. Oder Kaumdeutsch. Hat sie ihm irgendwann einmal zu verstehen gegeben, was da gewesen wäre, früher, aber das Meiste hat er wieder vergessen, oder nie verstanden. Aus dem Osten geflohen, aus Schlesien oder Wolhynien oder Kasachstan, deportiert unter Stalin oder vertrieben, wegen dem Hitler. Wägen dem Krieje. Oder: Ostpreißen? Geflohen jedenfalls nur mit dem blanken Hemd auf dem Leibe. Läjbe.

Inzwischen ist Frau Tuttelbarths Leib schöner und vielschichtiger bedeckt, bunt und nachgiebig, die Strickjacke aber windschief verknöpft und die Haare immer noch wirr wie gerade erst frisch geflohen, auch die Brüste getürmt, hoch hinauf, höher als die höchste Tatra.

Was also? Was heite?

Heute und jetzt: Einsatz der mittelbraunen Rindsledertasche. Aufklappen, Herausfingern.

Chopin, sagt F., Chopin. Muzarka. Die da. Muzarka in d-moll.

Lieberherrjessus, singsangt die Tuttelbarth, Mazurka! Lieberherrjessus! Heißt sich: Mazurka! und rückt ihr Stöckchen gerade. Es ist bleistiftdünn, gut armlang, ein elastischer halber Meter. Könnte ihr Vater schon benutzt haben, vom Pferde aus, die Knechte dirigieren, oder ein Hauptmann der Schutztruppe. In Deutsch- Ostafrika.

F. wagt die ersten Töne, zögernd hinein ins Reich der Musik. Es ist dreizehn nach vier. Noch siebenundvierzig Minuten. Zweiundzwanzig Sekunden später die erste Fingerkollision, Abbruch, abrupte Stille; aus der Wohnküche das gleichmäßig asthmatische Keuchen des Tuttelbarths selbst. Ein metronomisches Schnaufen.

Noch einmal! Anfange beim achten Takt, dem achten!

Erneutes konzentriertes Hineinklimpern. Dann kommt der Stock. Wie eine Lanze von der linken Seite, fährt zwischen Daumen und Zeigefinger, die Tuttelbarth muss deutlicher werden:

Springän! Missen springen, die Fingär, springän wie Bällchen.

F.s Finger springen nicht. Schwer und träge, ganz verängstigt arbeiten sie sich durch die Tasten, Einsiedlerkrebse beim panischen Wechsel des Gehäuses, wie weich und schutzlos unter der stochernden Stöckchenspitze, die schubst und treibt und hebelt.

Springen!, ruft die Tuttelbarth und schwingt den Stock im Takt. Springen, springen, springen!

F. hockt. F. stockt. Nichts ist da gewesen mit Springen, nichts. Sind nicht hinaus gekommen über etwas träges, zähklebrig Dahinkriechendes, die Fingerchen.

Mazurka! Frau Tuttelbarth lässt ihre Brüste hüpfen. Was das denn heißen würde: Mazurka?

Mazurka? Es ist vier Minuten vor halb fünf. Kein Gedanke. Er zuckt die Schultern. Muzarka? Könnte irgendetwas mit Murks zu tun haben, mit Makulatur, oder mit Vergurken. Ein Nationalgericht vielleicht? Etwas Griechisch-Krustiges? Käsig-Zerlaufendes?

Tanz!, ruft die Tuttelbarth jetzt, und sie ruft es sehr laut. Ist Tanz! Müssen tanzen und springen wie die Bällchän, die Fingär!

In der Wohnküche stockt dem Tuttelbarth der halblaut geächzerte Atem, wohl vor Erschrecken, sein Rhythmus ist dahin.

Was denn wäre? keucht er herüber, Ebba, was denn wäre? und F. betrachtet seine Hände. Zwei ungehorsame, zaghafte Knochenfleischlappen, an die Klavierkante geklatscht, käsig zerlaufend.

Tanz also. Er nickt, und seine Hände beginnen noch einmal. Die tapferen kleinen ungelenken Finger. Vorwärts. Los! Ins hohe d hinaufschleudern, umgreifen. Fingersatz beachten. Gleich der Triller. Kleiner Ausrutscher, aber ordentlich durch die Läufe im vierzehnten Takt gekommen. Rechte Hand. Triolen. Über das punktierte b hinübergetanzt. Vorzeichen vergessen. Ins fis gestolpert. Den Akkord mit der Linken falsch angesprungen, zu kurz. Schlechtes Bällchen. Wieder, und wieder. Ausgetanzt, ausgesprungen. Die Luft ist raus aus den Bällchen. Die Tuttelbarth ist zurückgesunken, ihr schwerer, gebirgiger Oberkörper pendelt vor gequetschter Musikalität, vor Verwundung, vor Verzweiflung. Sie sammelt sich, und nun passiert das Unerwartete, das Ungeheuerliche.

Weg!, stößt sie nämlich hervor, Weg da, Jingla, so muss das klingän, so! Rutscht behände auf den Klavierstuhl, und dann springen ihre kurzen, wurstigen, fleischigen Stumpenfinger wie rasend, wie springende Bällchen. Sie tanzen und tanzen und springen, bis sie die zauberischsten Töne aus den Tasten herausgesprungen haben. Und getanzt. F. steht stumm, er weint nicht, aber die Tränen schwappen bis ans Unterlid. Um elf vor fünf haben Frau Tuttelbarths Finger ausgetanzt.

So! So müsse das klingen!

F. gibt einen verlegenen, unmelodischen Kehllaut. Er weiß jetzt auch, wie das klingen müsse, und er weiß, wie sein eigenes Spiel geklungen hat. Und er weiß, wie es niemals klingen wird.

Nie.
Nie.
Niemals.
Jetzt schweigen beide und lauschen dem metronomischen Atem ihres Mannes, der in der Küche sitzt.

Spielste noch einmal, Edda?

F. nickt. Er ist nicht gekränkt, und sie spielt noch einmal.

Der junge F. lauscht. Viel hat er nicht verstanden. Nur ein paar Saiten seiner mindermusikalischen Seelenharfe könnten ganz leicht ins Schwingen geraten sein, ins Schwingen und Singen. Singen von früher, von ihrer Jugend, vom Herrenhaus, von weiten Feldern, das Musikzimmer voller Gäste, flüsternd: So eine Begabung! Solch ein Talent! Die kräftigen jungen Finger über die Tasten tanzen lassen, ein Jubel, eine Lust. Eine schwingende Ahnung vom Mädchengymnasium in Gleiwitz, dem Vorspiel im Konservatorium, rauschend der Applaus, Glückwünsche: Hochbegabt! Fast ein Wunderkind! Ein Traum von Konzertreisen, Sälen voll Zauberklang.

Und dann davon müssen, aus dem Haus, über Nacht, nur davon, schnell davon, die Flucht, mit zerschundenen Fingern an den Wagen klammern, taub und tot vom Frost, vom Rübenklauben. Nichts mehr von Musik. Dann endlich ankommen, arbeiten, Hand anlegen, andere Dinge tun. Viel später erst wieder ein Klavier finden, spielen können, üben, üben, üben. Jetzt aber waren andere dagewesen, Jüngere, Bessere, mit schlankeren Fingern, auch Gepflegtere, mit gut gepflegten Beziehungen. So waren aus den großen Träumen kleine Klavierstunden geworden, mit guten und schlechten Schülern. Auch hoffnungslosen. Vollkommenen Stümpern. Musikalischen Analphabeten. Hackklötzen. Mit mir, mit müden Mordpfoten mittwochs Chopin massakrierend.

So!, sagt die Tuttelbarth, als der letzte Ton verklungen ist. Es ist eine Minute vor fünf, am 27. 4. 1988. So müsse das klingen!

Kurzes Nachspiel

Wir haben durchgehalten, Edda Tuttelbarth und ich, bis zum Ende des Schuljahres. Jeden Mittwoch habe ich mich unter meinem rindsledernen Panzer zu ihr hinüberbewegt, wie Ludwig XVI. auf dem Schinderskarren, den Eltern zuliebe. Aber seit diesem Tag Ende April ist mir klar gewesen, dass ihr Schmerz viel größer gewesen muss als meiner. Dass ihre Stockspitze zwischen meinen Fingern nichts war im Vergleich zum Tanz der Schmerzen in ihren Gehörgängen.

Dann endete der Tanz. Der stockende, stolpernde, verbockte, versaute, die wöchentliche Ohrenpein – die immer und ewig vermurkste Muzarka.

 


Nachwort #2

Nachwort und Dankeschön.

Nach einer schweißtreibenden Redaktionssitzung und Zerrüttung über die verschiedensten Einsendungen haben wir es tatsächlich geschafft. Die Ausgabe #2 steht! Und in ihr all die kreativen Spinnereien, ja das Herzblut der AutorInnen. Da fehlt, schätze ich, nur noch eins: ein Nachwort!

Aber, wie schreibt man das eigentlich? – und wer liest das überhaupt? Von der überschaubaren Menge an Leuten, welche diese Zeitschrift auf dem ein oder anderen Weg in die Hand bekommen haben, würde ich sagen … vielleicht die Hälfte. Wenn überhaupt. Falls du aber zu diesem tapferen Kreis gehörst, welcher unsere Formelsammlung hübsch aneinander gereihter Wörter durchgekaut, hinuntergeschluckt und mehr oder weniger verdaut hat:

Danke! – im Namen des ganzen KLW-Teams.

Ohne euch Leser wäre die KLW nur ein sinnloses, seelenloses Konstrukt; eine Website, die nicht Suchmaschinen optimiert ist, verrottend, auf der zweiten Seite der Google Ergebnisse. Noch ein weiteres, dickes Dankeschön an die AutorInnen! Ihr macht die Zeitschrift.

Und zum Schluss: Wie hat’s dir getaugt? Lass uns wissen, ob und was dir gefallen hat, und bei was du dir einfach nur dachtest: „Geh scheißen!“

Wenn’s was für dich war, erzähl deinen Freunden davon! Wenn’s nichts für dich war, geb’ die KLW vielleicht an deine Schwiegermutter weiter – oder mach’s nach Manier des Altkanzlers Schmidt:

„Am liebsten entzünde ich meine Zigarette mit einer zerrissenen Seite der KLW. Tschaka!“

In diesem Sinne, Macht’s gut und hoch die Tassen,
David, in Vertretung der KLW


Projekt Zeitschein

Vorausschickung: Kilian Mangers Projekt Zeitschein besitzt starke Anleihen bei sogenannten „alternativen Medien“ (Ken FM, Querdenken 711 etc.); wir bitten dies bei der Lektüre zu jederzeit zu berücksichtigen.
gez. Die Redaktion, Würzburg, den 20. Februar ’21

Geld beeinflusst unseren Alltag und prägt unsere Gesellschaft. Was wäre, wenn Geld transparent wäre? Wenn Kontostände und Transaktionen der Weltöffentlichkeit sichtbar wären? Gäbe es dann noch Korruption? Oder ist das Geld unserer Träume vielleicht doch lieber geheim, sodass unsere Privatsphäre geschützt ist?

Was wäre, wenn es auf Kredite keine Zinsen gäbe? Würde es verschuldeten Menschen dann leichter fallen, sich aus ihrer Zwangslage zu befreien?

Was wäre, wenn Geld wie Gras aus dem Boden wüchse? Für jeden verfügbar – in kleinen Mengen – wie ein Grundeinkommen, das an keine Bedingungen geknüpft ist? Wenn die für jeden stets verfügbare Menge für einen genügsamen einfachen Lebensstil ausreichte? Gäbe es dann noch Armut? Wenn jeder ausreichend Geld hätte, gäbe es dann noch finanzielle Abhängigkeit? Würden Menschen dann noch widerwillig machen, was ihnen ein anderer vorschreibt? Gäbe es dann noch Machtgefälle? Wenn jeder ausreichend Geld hätte, würden wir dann noch arbeiten? Würden wir länger schlafen? Hätten wir dann mehr Zeit für Kunst, Kultur und Bildung oder für Familie und Freunde? Wenn niemand auf Erwerbsarbeit angewiesen wäre, gäbe es dann noch Wirtschaftswachstum? Wären dann die Müllberge kleiner und die Regenwaldabholzung geringer? Die Smartphones älter? Die Kleiderschränke leerer? Gäbe es dann noch Angst vor Arbeitslosigkeit? Wenn Geld nicht mehr knappes und stark begehrtes Gut wäre, wäre dann der Kunde immer noch König? Würden wir dann manchmal den Satz zu Ohren bekommen: „Ich brauche dein Geld nicht, ich habe genug davon.“ Gäbe es dann noch Profitgier? Würden dann Freundschaft und Freundlichkeit in der Arbeitswelt eine größere Rolle spielen?

Was wäre, wenn Geld schrumpfen würde? So wie Kartoffeln im Keller, die mit der Zeit verfaulen, bevor wir sie alle alleine aufessen können. Wenn sich Beträge auf Girokonten von Zeit zu Zeit durch einen mathematischen Algorithmus vollautomatisch um einen prozentualen Anteil verringern würden? Würde uns dann auch beim Geld das Teilen leichter fallen? Gäbe es dann mehr Großzügigkeit? Könnten wir dann öfter „Fünfe gerade sein lassen“?

Was wäre, wenn eine bestimmte Sorte Geld nur in unserer unmittelbaren Umgebung bekannt und anerkannt wäre? Gäbe es für dieses Geld dann noch Gemüse aus Neuseeland? Würde dieses Geld Automatismen hervorrufen, die dazu führen, dass wir verstärkt Produkte aus der Region kaufen? Würde das die regionale Landwirtschaft unterstützen?

Was wäre, wenn Geld weniger wertvoll wäre? Was wäre, wenn wir uns beschenkten, statt Geld zu verlangen? Gäbe es dann noch Unterschiede zwischen Arm und Reich? Was wäre, wenn wir die Vorgänge des Schenkens transparent gestalteten und in einer öffentlich einsehbaren Datenbank abspeicherten? Würde uns dieses Vorgehen ermöglichen, diejenigen Menschen zu finden und zu belohnen, die sich mit ihren Zeitgeschenken für ein besseres Miteinander einsetzen?

Was wäre, wenn verschiedene Sorten Geld nebeneinander existierten? Was wäre, wenn wir jeweils die Sorte Geld nutzten, die uns situationsspezifisch am besten gefällt? Was wäre, wenn wir als Weltenbürger selbst unser eigenes Geld entwickeln? Was wäre, wenn wir Teile dieser Vorschläge und Ideen kombinieren und in unterschiedlichen Parallelwährungen zusammenführen? Was wäre, wenn wir unsere Gedanken weitererzählen? Was wäre, wenn wir heute damit anfangen?


Rastloses Treiben

über Stadt
über Felder

orte ziehen vorüber
gedanken an vergangenes
verschwimmen verschmelzen
wie ein unscharfes bild

kein stehen bleiben
kein zurück blicken

ruheloses weitergehen
im rhythmus des lebens
ein drang nach weit fort
wie ein landstreicher

ohne heimat
ohne halt

irgendwann irgendwo
einfach verschwinden


Regalbretter, die die Welt bedeuten

Neben meinem Bett steht ein Bücherregal.
Darin finden sich Wörterbücher, die Dexter-DVD-Box, eine Sonnenbrille, Kafkas gesammelte Erzählungen, ein Päckchen Kreide, ein Reiseführer Südkorea, aus einem Hotel geklaute Shampoo-Pröbchen, die Harry-Potter-Reihe (der fünfte scheint beim letzten Umzug verloren gegangen zu sein), eine Box mit Taschentüchern, alles was Neil Gaiman je zu Papier gebracht hat, Ukulelesaiten und alte Mitschriften aus Kirchengeschichtsvorlesungen.

Und zwischen dieser Ansammlung aus Zeug, die ich fotografieren und vorzeigen sollte, wenn jemand fragt: „Wer bist du?“, findet man Kinderbücher. Wenn man sich ein bisschen Zeit nimmt und sich auf den Teppich vor dem Bett setzt und in den Büchern herumblättert, trifft man auf einen kleinen Vampir, der lieber Spinat als Blut zu sich nimmt und Hanni und Nanni feiern Mitternachtsfeste. Anastasia will keinen kleinen Bruder und ein blauer Dschinn fegt mit Emma und ihrem Hund durch die Straßen von Bagdad.

Einem Herdmann-Kind wächst ein Baum aus dem Ohr, in der Hasengasse in Wien streiten sich Gabi und Franz und auch Mini und Maxi haben im schönsten österreichisch viel zu sagen.

Ich habe Erinnerungen an den Schwimmunterricht im Kindergarten und die „Schlittentage“ mit den Nachbarskindern auf dem Hügel neben Oma Annas Gemüsebeet.

Aber es fühlt sich so an, als würde ich durch ein Fliegengitter hindurch Fremde vor meinem Fenster beobachten.

Dafür weiß ich noch ganz genau, dass es in der Nacht, in der Ronja Räubertochter geboren wurde, ein fürchterliches Gewitter gab und wie die „Wilden Hühner“ zu ihrem Namen kamen.

Ich habe kein Fotoalbum in meiner Wohnung.
Ich sammle meine Kindheitserinnerungen in einem weißen Billy-Regal.
Alles, was ich weiß und alles, was ich bin, findet man dort.
Und jeden Tag arbeite ich daran, die Regalbretter meiner Erinnerungen weiter zu füllen.


Rezept à la
Raymond Queneau

Gefüllter Bus

Für den Teig:
einen Autobus
die Linie 10

Für die Füllung:
einen Kerl
einen Hut
eine Kordel
250 g Menschen
einen Schuss Gare Saint-Lazare

Außerdem:
einen leeren Platz

Zum Bestreuen:
einen Knopf

Anleitung:
Den Bus wie im Grundrezept beschrieben zubereiten und gehen lassen. Den Kerl mit einem Hut und einer Kordel würzen. Kleine Plätze mit Menschen ausfüllen. Von diesen etwa 40 walnussgroße Bälle abnehmen. In die größeren Plätze jeweils zwei Menschen setzen. In den Bus geben, obenauf jeweils einen kleinen Knopf setzen. Den Kerl mit verquirltem Gare Saint-Lazare und einem Satz „Du solltest dir noch einen Knopf an deinen Überzieher nähen lassen.“ bepinseln.
Ergibt ca. 20 Stück.

Backzeit: 20 – 35 Minuten
Elektroherd: 200 Grad
Gasherd: dritte Stufe
kcal: etwa 5638
kJ: etwa 19225


Wenn ich meine sieben Sachen
samt Milz und Lunge
sacht im Sand abgelegt und
den Darm mit Olivenöl eingeschmiert
habe, kann das Braten beginnen.

Wenn ich die Hände meines
Geliebten im Sand
verscharrt habe,
und ich sein Gesicht so lange
in den Sand drücke bis das
Zappeln endet,
habe ich Ruhe,
um zu sonnenträumen.

Jetzt muss ich nur noch warten,
bis die heilige Sonne
den letzten Rest
des Verstandes versengt hat.
Dann werde ich mich zu den
WELLEN gesellen
und dort im Abendlicht zerbrechen.

Jetzt ist alles runtergewürgt.
Im Hals klafft ein Loch.
Im Magen brennt’s.
Die Ohren verstopft.
Schon alles verdaut.

Der Darm geschwollen.
Die Galle bitter.
Die Zunge gelähmt.

Und ausgeschieden das Hirn.


Wohin?

Herz
226 km
2h 28 min
Haltestelle Heimgarten oder Zollhaus Galgenberg
Im Grünen hattest du gesagt?
die 3. Wohnung in vier Halbjahren
meine Fotografien an den Wänden
Tee in der Küche
Basti und Jan und du
Liebe Grüße

Pik
396 km
4h 2 min
geradeaus vom Expressmarkt aus, dann links
Rue M., benannt nach jemandem
der dafür bekannt war, ein guter Freund zu sein
Maultaschen im Vorrat
den Vorhang mit Waldmotiv vor meinem Regal
im Wohnzimmer die Blumen, auf die ich für dich
aufpassen wollte
bis zum Sommer, wenn wir uns wieder sehen
vier Menschen, die darauf warten, dass ich nach
Hause komme
(als wüsste ich noch, wo das ist)
es ist so warm schon dort, man kann auf der
Terrasse essen

Karo
15 km
48 min
Kaiserallee 12e
Tische und Stühle
dieser Stift
meine Stimme, meine Stimme hier

Kreuz
0 km
0 min
das vorletzte Haus vor dem Feld
dachte früher, dass das etwas Besonderes ist,
direkt am Feld zu wohnen
dieser Stift
meine drei Pflanzen auf der Fensterbank
ein sich immer wieder, in Endlosschleifen
wiederholendes Lied

ich habe mich aufgeteilt wie ein Kartensatz
bereit, auszuteilen
zu spielen
zu gewinnen mich unter die Menschen zu mischen


Nachwort #2

Nachwort und Dankeschön.

Nach einer schweißtreibenden Redaktionssitzung und Zerrüttung über die verschiedensten Einsendungen haben wir es tatsächlich geschafft. Die Ausgabe #2 steht! Und in ihr all die kreativen Spinnereien, ja das Herzblut der AutorInnen. Da fehlt, schätze ich, nur noch eins: ein Nachwort!

Aber, wie schreibt man das eigentlich? – und wer liest das überhaupt? Von der überschaubaren Menge an Leuten, welche diese Zeitschrift auf dem ein oder anderen Weg in die Hand bekommen haben, würde ich sagen … vielleicht die Hälfte. Wenn überhaupt. Falls du aber zu diesem tapferen Kreis gehörst, welcher unsere Formelsammlung hübsch aneinander gereihter Wörter durchgekaut, hinuntergeschluckt und mehr oder weniger verdaut hat:

Danke! – im Namen des ganzen KLW-Teams.

Ohne euch Leser wäre die KLW nur ein sinnloses, seelenloses Konstrukt; eine Website, die nicht Suchmaschinen optimiert ist, verrottend, auf der zweiten Seite der Google Ergebnisse. Noch ein weiteres, dickes Dankeschön an die AutorInnen! Ihr macht die Zeitschrift.

Und zum Schluss: Wie hat’s dir getaugt? Lass uns wissen, ob und was dir gefallen hat, und bei was du dir einfach nur dachtest: „Geh scheißen!“

Wenn’s was für dich war, erzähl deinen Freunden davon! Wenn’s nichts für dich war, geb’ die KLW vielleicht an deine Schwiegermutter weiter – oder mach’s nach Manier des Altkanzlers Schmidt:

„Am liebsten entzünde ich meine Zigarette mit einer zerrissenen Seite der KLW. Tschaka!“

In diesem Sinne, Macht’s gut und hoch die Tassen,
David, in Vertretung der KLW