Ausgabe 05

  • 01/08/2020

Vorwort #5

Sechzehn Uhr, Oberthürstraße, auf Bruchstücken, die mal eine Treppe waren, sitzend, glühend, warten bis das galaktische Jahr seine Wendung nimmt, sodass der Schein versiegt, die rückgratlose Glut seine Rückansicht zeigt. Ist die Sonne eine Scheibe? Was kommt dahinter? Der Mond? Wer hier wen findet, bleibt ungeklärt.

Wir steigen ein.

Patient zerrüttet, aufgewühlt im Ausdruck, erregtes, abgehacktes Reden, heiße Stirn, weiße, blasige Zunge, schwere, tief unterlaufene Augen, bei Lichteinfall weitende Pupillen und hochschreckende Lider, dringender Blick bei sonst schlaffem Körper, unregelmäßige Spastik.

Patient wer wenn nicht wir? das hipp hipp mit der brustikussi bärenpfote. bäääääääh. dem mörder der gärtner. Mir ein baby-pils. lutzi wutzi. bääääääh.

„Können Sie mir sagen wie viele Finger ich hochhalte?“

Patient ich komme von da-a. hallo! wo, tüüü und taaa. und der große Mann mit dem. (holt tief Luft, die er vorerst in den Backen belässt und dann heraus prustet, bewegt gleichzeitig seine Arme wie ein Roboter)

„Dieser Mann, ein Mann, hat Sie hierher gebracht?“

Patient haaaaaaaaaaaaa, erwischt! mann, ha! es soll das sein wie nicht. oben, unten, nicht. anderes, nicht. vielleicht die zähne (schlägt sein Mundwerkzeug beißend auf und zu). krieg und maschine!

„Kein Mann?“

Patient nicht!

„Also gut, kein Mann. Können Sie uns Angaben dazu machen? Zu Ihrer Person? Ausweise?“

Patient bääääääh. schau! (deutet mit seinem ausgestreckten rechten Zeigefinger auf seine gerade in die Luft ausgestreckte linke Handinnenfläche)

„Okay, macht keine Angaben zu seiner eigenen Person (zu sich selbst). Wir bewerten Ihren Zustand als kritisch. Vorsorglich würden wir Sie gerne erstmal mitnehmen. Ist das oke für Sie?“ (bewegt seine Hand langsam vor dem Gesicht des Patienten hin und her, da er sich die Aufmerksamkeit mit der Sonne teilen muss)

Patient es ist zeit, ohja. nie, nie, nie, nie werden sie und sie und sie. nein, nein, nein, nicht mit uns. der flieger und pah, piu, pah, piu. (steckt sich den linken Zeigefinger in das rechte Ohr sowie den rechten Zeigefinger in das linke Ohr, kreist zusätzlich mit dem Oberkörper). bitte, bitte, bitte. (beginnt zu schluchzen)

.„Ich werde Sie nun anschnallen. Legen Sie dazu bitte Ihren Oberkörper nieder. Ein Kollege bleibt hinten, hier, bei Ihnen. Wenn Sie etwas brauchen, dann heben Sie einfach die Hand, der Kollege ist da.“

Patient hebt die Hand


Die Eineurotragödie

Der Kardinal-Faulhaber-Platz ist grün. Die Frau von der Bratwursthütte am Eck der Kreuzung dreht wieder die Feuerwürste auf dem Grill. Ein Mann platzt wie ein Kondom in eine Gruppe Schulmädchen, lässt eine Tirade regnen; er weiß: „Früher, jahaa, da haben wir noch miteinander GEREDET!“ Das sagt er im Vorübergehen. Anderswo werden junge Knaben verknuschpert. Jakub Gortat denkt an die Frau mit den marmorierten Oberschenkeln und der betörenden Stimme, denn dieser hat er den Begriff abspenstig gemacht: verknuschpert. Betörend, weil sie so gut ist, auf der Bühne. War, sollte er sagen, denn er fand Traditionen in ihrer Vergangenheit, die er nicht mittragen will: Poetry-Slam-Auftritte. Der Begriff blieb.

Er sitzt auf verschweißtem, gittrigem Metall, wird hineingedrückt durch den beachtlichen Stapel Bücher auf seinem Schoß. Ihm blieb vorerst nichts anderes als sie aus der Bibliothek zu leihen, es ist ja kostenlos. Es ist ein diesiger Frühlingstag im Zentrum der Stadt, er schwitzt, der Himmel ist blau. Den letzten Winkel des Bushaltestellenhäuschens teilt Jakub Gortat sich mit einem Mädchen; Stephana vielleicht. Die Patronin des Geldes.


Verehrte Damen und Herren,

eine Dynamik zum Überborden hätte sich über Sie ausbreiten sollen, ich bin nicht der Einzige, kann nicht der Einzige sein; die Empörung sitzt überall. Dreißigtausend Euro, stillschweigend davongetragen. Was machen Sie denn damit? Bewahren Sie Ihre Eineuromünzen auf wie Augäpfel in alkoholgefüllten Schraubgläsern? Wie ein blubberndes Ächzen einer versunkenen Tiefseetruhe? Haben Sie sich einen neuen Mittelklassewagen für die Hinterteile Ihrer Beamt:innen angeschafft? Oh Großer, oh Großer. Sie treiben einen faulen Handel, Sie verarschen.

Denn das Theater ist leer, es gibt nichts zu sehen. Dennoch zahlt die Studentenschaft Ihrem Studentenwerk den einen Euro im Semesterbeitrag, obwohl keine Karten zu haben sind. Bei dreißigtausend Student:innen – Sie wissen. Und halten uns davon ab den fahrenden Schauspielkompanien den übrigen Groschen zuteil werden zu lassen, dem Verweigerer, dem Schnorrer. Sogar dem Naturschutzbund ist mit einem Euro im Monat schon geholfen! Das kann Sie gar nicht interessieren, Sie setzen die Leute immerhin auf die Straße, auf den Asphalt.

Die vollen Blasen, die leeren Mägen.


Sehr verehrte Damen und Herren,

ich nehme nicht an, dass ich der Einzige bin. Sollte ich das? Im Trachten nach Gerechtigkeit stößt man die Menschlichkeit um. Auch Sie brauchen jeden Cent, retten, erhalten Arbeitsplätze –


Es liegen jetzt lange Schläuche, gerillt, über den Boden gelegt. Es ist einsehbar, da die letzte Wand, die letzte Mauer, die letzte Fassade zur Straßenseite noch nicht hochgezogen ist. An der anderen Straßenecke leuchtet thronend, über den Dächern, die Leuchtreklame des Hofbräus; Jakub Gortat bekam ein Prospekt des Theaters zu fassen, die Baupläne sind dort vorgestellt, und er kann nicht schlafen, er steht und vergleicht die Baupläne, die Entwürfe des Architekten mit der dargebotenen Physis, vor der er steht. Vor den hölzernen Sperrwänden am Trottoir. Sie sind bemalt, mit Bildern von vergangenen Aufführungen, mit Durchhalteparolen und Geflachse – „Bauspiel“ statt „Schauspiel“, und „Schaustelle“ statt „Baustelle“, „Geschlossene Gesellschaft“ usf. Ihm fehlen viele Dinge, vor allem der Ernst. Die Kammerspiele, von denen der Intendant schrieb, sie seien nach dem Umbau, nach der Transformation zum Staatstheater, obsolet. Sie hätten sich nicht rentiert, und man hatte sie als Notlösung unter die Besucher geworfen, als Kellerveranstaltung.

Eine Straßenlaterne sendet ein gleichgültiges Licht auf Jakub Gortats Erscheinung, und während der Wind spielt, schauern ein paar lallende Stimmen seine Schultern auf Spannung; er zieht sie kantig nach vorne. Er kennt die Namen der Kammerstücke nicht mehr, die er gesehen hatte, doch die entblößten Arschbacken eines Schauspielers, in ein Lederwams gekleidet, eine Vergewaltigung darstellend, das hatte ihn verstört, oder weiße Transparente, hinter welchen der Bus niemals ankam für seine Passagiere. Auf eine sonderbare Art schien ein plötzlicher Reichtum nicht weit, wenn er durch das Foyer des Theaters stromerte.

Die roten Lippen der Tochter von Steymanns waren ebenso rot wie die der Anna Karenina. Zum unzähligsten Male warf sich Anna gesamten Leibes auf ein Kanapee, im Fieber, im Korsett, ringend, und die pochenden, unmisslichen Köpfe des Publikums waren auf die Bühne geschnallt. Jakub Gortat mochte sich nicht fortreißen, gleichzeitig verlangte er ein Loseisen, einmal zu ergreifen ihre Hand, Anna, Anna Steymanns, mit Sack und Pack runter den Stiefel; Sizilien, und bei due espressi den Tisch klopfen, zusammen mit Anna Entführtenbriefe schreiben und Lösegelder pressen. Eng um das Herz ist ihm noch immer dabei. Ein Pan, ein Pan sein.

Solange die dicke Haushälterin ihre Ammenmärchen erzählte, die großen Damen ihre Rippen zum Beben hergaben, es bei Herkules hieß „Theben erleben und sterben“, so lang. Selbst die drapierten, modernen Tänze – immer musste jemand auf dem Bühnenboden liegen um das Parkett morsch zu machen – sie hatten seine Mundwinkel gekitzelt im großen Saal. Wie war es noch mit den Schauspielerinnen nach den Vorstellungen im Theatercafé unter der Leuchtreklame zu trinken!

„Gebt nach, ihr Pfeiler“, sagt Jakub Gortat in die Dunkelheit hinein. Er sucht das Sicherheitspersonal mit dem Schlüsselbund, den gepanzerten Familienwagen, und sitzt ohne Wand im höchsten Stock der Baustelle, kratzt mit einem umhergelegenen Werkzeug die schwarzen Rillen eines Bauschlauches. Plastische Töne johlen.


Wie einen beizeiten der Regen erfasst, weit gekommen, die Wege voll mit Hundekot. Da rennt er nach dem Landsmann entlang der derben Kasernen am Fluss und stolpert über Kopfsteine, am Gitter die Schlingen aus Efeu. Du, Thor, Du!, kalte Knochen in den Dienst gestellt, wozu?!, wozu?!, und das Rattern der Klingelschilder. Wenn es einen Freund zu finden gäbe, eine Frau zu entführen, ein Bett zu liegen, EINEN EURO.

Jakub Gortats Mutter leitet in Südgalizien eine Reinigungsfirma, meist steht der Wagen vor dem Heuspeicher.


Feiglinge,
ich fordere die Aushändigung der Dreißigtausend.


Drei(y)-blatt

Die Motten sie stechen
Wie Fliegen im Licht
Unbemerkt, unscheinbar
Kriechen sie hervor
Aus dem lähmenden Schatten
Zerren an der Gebeine
Krachend verschlungene Schreie
Teer tropft herunter wie
Die Pest im güld’nen Gewand
Lassen sie vielmals aufleben
Bringen den Tod empor
Lästige Tiere pflanzen sich
Fort in meinen Fugen

Voran

Weiter weiter weiter
Immer weiter
Das Gemüt treibt dich
Ruhlose Nächte
Vergangene Tage
Augen fallen zu
Zikadenzerfressene
Rote Punkte
Auf deinen Beinen
Gehirn graublau
Stoße die Köpfe
In der gedämpften
Vereinsamten Dunkelheit.

Catch the moment
Feel the breeze
Live the notion
Vain is grief
Be the motion
Like sound waves
Be composure
Just-a-brief
Moments rising
Sinking ship
Upon horizon
Wreck the brick


Eileithyia

Ewige Zeit vor mir und
ewige die folgen soll.
Nun der ersehnte Augenblick,
chancen- und hoffnungsvoll.

Aus Liebe erdacht und
in Leidenschaft begonnen,
sehe ich nun das erste Mal
den grellen Schein mir entgegenkommen.

Die letzte Etappe war schmerzvoll.
Eine Ankunft, ein Ende, quälend lang.
Ihr krampfhaft entstellter Leib schenkte
mit seinem Abschied diesen Neuanfang.


Ewig gestrig #1

Wir wählten das Auto zu unserem Fortbewegungsmittel, einen Seat Leon, klein, kompakt, sportlich. Ich war damit nicht zufrieden, nicht meine Art der Etikette, dachte ich. Nicht meine Art des Reisens, schon gar nicht bei einem Ausflug in die Natur, erschien mir so der Kontrast zwischen brachialer, zerstörerischer Technik und verklärter, romantisierter, glorifizierter Natur zu groß, zu offensichtlich. Die Rückbesinnung auf mein Dasein als menschliches Geschöpf, dessen Schwächen und notorische Prinzipienlosigkeit wuschen mein Gewissen rein. So war es nur noch der ästhetische Aspekt – ich war in diesem Auto, klein, kompakt, sportlich – der mir sauer aufstieß. Ich sehe mich nicht gerne in Kraftfahrzeugen, denn ich weiß um meine limitierten Fähigkeiten, solche Maschinen zu führen. Autonomes Fahren würde ich sehr begrüßen, sowie ich eine automatisierte Gangschaltung in jedem Auto mit einem liebevollen Streicheln über die nicht vorhandene, manuelle Gangschaltung begrüße. Wenn während des Fahrens die Gedanken zu meiner Unfähigkeit mal wieder zu viel Platz einnehmen und das Abwürgen, das ungelenke Abdrosseln – oh wie ich diesen Diesel Motor massakriere – Inflation haben, dann um den Kopf aus der Schlinge zu ziehen, gleichbedeutend dem Nicht-Abstellen des Autos auf dem Seitenstreifen, um das Lenkrad meiner Beifahrerin – die ich liebenswert einen Straßenhund nenne, nicht weil sie bemitleidenswert und abgemagert ist, sondern weil sie sich herzlich, offen, unabhängig und agil zeigt – doch nicht in die Hand zu drücken, dann schiebe ich meine Unfähigkeit auf meine schwitzigen Hände, lache und konstruiere Szenarien für den effektiven und praktischen Einsatz von Magnesia am Steuer, in Rennfahrerposition gebettet zwischen Metall, Kunstleder und einer Menge Hartplastik. Nun soweit war es allerdings noch nicht. Wir stehen am Anfang.

Es ist Mitte März. Ein Virus mit pandemischen Ausmaßen hält die Welt und ihre Menschen in Atem, versetzt Menschen außer Atem bis auch künstliche Beatmungsgeräte sie nicht mehr überirdisch halten können. Wir sind jung, ohne Symptome, perfekte Wirte für den Parasit der sich Corona SarsCoV-2 nennt. Den Anweisungen, den staatlichen Weisungen zu Hause zu bleiben, hashtag stayathome, folgen wir nicht. Es zieht uns raus, in Wälder und Berge, ins Grüne und Weite, ins Weg und weit Weg von Corona-Partys und Corona-Liveticker, hoffentlich ungesehen, ungeahnt wie das bittersüße Schlüpfen in unser Klein-Narnia.

Der Seat Leon ist geliehen, dient er sonst als Pendlerkutsche meiner Eltern. Man soll mir drei Tage geben, die ersten sonnigen, warmen Tage des Jahres, frühlingshaft, vitalisierend. Am frühen Morgen brechen wir auf aus Frankens Literaturmetropole, noch ist es grau, die Schornsteinfeger tanzen zu Reggaeton auf den Dächern der Stadt – viel Arbeit heute. Die Stadt ist fußlahm, so lernt sie ein jemensch kennen. Kulturelle Angebote gibt es reichlich, natürlich nicht in den Zeiten, in denen der Virus und der Wahnsinn bestimmen, aber sonst, nur führen Kunst, Kultur, und Politik in dieser Stadt zu keiner Veränderung, keinem Aufbegehren. Die Studentenverbindungen, ob schlagend oder nicht schlagend, aber definitiv saufend, thronen noch immer in aller Gemütlichkeit über der Mergentheimerstraße, saunieren in Stagnation, Konservativität, Männlichkeit und die Gartenstadt war nie eine Gartenstadt. So könnte man sagen, es passiert nicht viel, nur die Schornsteinfeger werden weniger. Meine Begleitperson für den Ausflug hole ich im Denklerviertel ab. Wohnparteien gefüllt mit Menschen die Kunst, Kultur, politischem Engagement und alternativen Lebensstilen nahe stehen, so sagt man. Der Koriander Geschmack in der städtischen Ur-Suppe, so sagt man. Ein Mancher mag ihn, eine Manche nicht. Ich wohne dort nicht. Nach ersten Einparkschwierigkeiten, um meine Warteposition in einer der Nebenstraßen zu dem Wohnblock in dem Malice wohnt einzunehmen, stehe ich angefeuchtet mit dem Auto, wenn auch schräg und hinderlich für andere Verkehrsteilnehmer in einer Parklücke. Im rechten Seitenspiegel beobachte ich aufmerksam, so aufmerksam und diszipliniert, dass ich mir bei einer sekündlichen Unaufmerksamkeit bereits ein schlechtes Gewissen mache, ob Malice die Straße hoch gelaufen kommt oder nicht. Außerdem weiß ich, dass sich mein Herz erwärmen, erröten wird, sobald ihre Erscheinung, ihr leichtes, geschwungen gekräuseltes, blondes Haar den für mich einsehbaren Bereich betritt. Während sich mein Herz ausmalen möchte, wie der weitere Verlauf des Tages und der darauffolgenden sein wird, hält mein Kopf mit all seiner Vernunft pflichtbewusst in einem wettkampfähnlichen Gerangel dagegen, bis sie auch schon um die Kurve schnellt. Bepackt mit allerhand notwendiger Outdoorausrüstung, die sie in den Kofferraum schmeißt, steigt sie zur Beifahrer*innen Seite ein, und zieht die von mir bereits geöffnete Tür nur noch ein Stück weiter auf. Ein freundliches mit einem Lächeln gespicktes „Guten Morgen“ zwitschert sie mir entgegen. Ich antworte indem ich meinen ausgestreckten Zeigefinger hebe und „Moin“ sage – nordisch by nature.

„Verbleiben wir zu zweit?“, fragt Malice mich.

„Unsere inserierte Mitfahrgelegenheit wird von Maria wahrgenommen.

Wir holen sie am Talaveraschlösschen ab“, sage ich.

Unsere Reise beginnt mit Postcards from Italy.

Das Navigationsgerät nimmt einen ersten Kontakt mit mir auf. „Guten Morgen Herr Just, ich begleite Sie heute auf Ihrer Reise in den Süden. Wir folgen mehrheitlich der A7 bei sonnig warmen Wetter und Temperaturen bis zu 18 Grad. Ich wünsche eine angenehme und sichere Fahrt. Bei Rückfragen zum von mir vorgegebenen Kurs stehe ich Ihnen unverzüglich zu Diensten“. Ich blicke rüber zu Malice, nicke hochachtungsvoll und kann mir ein „angenehm, ja doch, sehr angenehm“ nicht verkneifen. Malice grinst und ich mache es ihr gleich. Wir bewegen uns aus der Parklücke heraus, fahren die Fröhlichstraße entlang bis wir in die Brunostraße einbiegen, nehmen die nächste gleich wieder rechts und landen so auf der Hauptverkehrsader des Stadtviertels. Eingereiht in maximal versiegelte, von Investitions- und Reformstau gekennzeichnete Ameisenstraßen, Seite an Seite mit Sündigenden, die nur Umweltzertifikate vor sich her bugsieren, bahnt sich der Dampfer seinen Weg Richtung Klein-Narnia über Wörthstraße und Georg Eydel Straße entlang bis zum Schlösschen, wo Maria auch schon wartet. Ausgestiegen, „Moin Maria“, so begrüße ich sie kurzangebunden wie ich Menschen eben immer begrüße, nicht weil mir Menschen, ob bekannt oder unbekannt, wenig wert sind, nein, sondern weil mir das Leben in sich zu wenig wert ist, um für die ewig kommenden und gehenden Vorgänge der Begrüßung und Verabschiedung zu viel Zeit und Energie zu verschwenden. Maria ist Mitte Zwanzig, Psychologiestudentin im Master, eine zurückhaltende Persönlichkeit, wir werden kein Wort miteinander wechseln. Da sie die Rückbank für sich hat, macht sie sich dementsprechend breit. „Ich gebe dir mal besser nicht die Hand“, lässt sie nach vorne zu Malice verlauten. Wir lachen alle nochmal aus Höflichkeit bevor der Motor ein erneutes Mal gestartet wird. Die Stadt verlassen wir über die Bundesstraßen 27 und 8. Straßenzüge vergewaltigt von den täglichen Ausstoßmengen an Schadstoffen, die ergraute Hauswände und Lungenflügel hinterlassen. Eines Tages gipfelt das noch in einer lokalen Smogwolke, erdrückend, abschnürend, kindermordend. Luftqualität ist Lebensqualität, nur merkt man das nicht, wenn die Luft sowieso immer schlecht ist. Erst wenn „Toni Macaroni“ übersehbar hinter dicken, grau-schwarzen Fäden von Aerosolen verschwindet, dann ist der Aufschrei groß.

Das Auto fährt gut. Auf der Autobahn und autobahnähnlichen Straßen muss ich dafür nicht viel machen. Zeitweise nehme ich die Hände vom Lenkrad, lasse mir die Wasserflasche reichen oder trockne mir meine Handflächen an meiner graukarierten Stoffhose. Ein Übermut, der sich selten rächt.

Fährt man Minute für Minute mehr auf der Autobahn mit mindestens Richtgeschwindigkeit, wird alles gleich, alles verschwimmt, 30 KilometerproStunde sind 130 KilometerproStunde. Kiefern sind Eichen. Klinkerbauten sind Fachwerkhäuser. Autobahnbrücken sind Wildbrücken und eine Taube in der Kühlerhaube ein kurzes, grelles Quietschen der Bremsblöcke. Eine gefährliche Langeweile umgibt Fahrten auf deutschen Autobahnen. Geschwindigkeiten außerhalb meines Vorstellungsbereiches sind jegliche über 30 KilometerproStunde, sind Geschwindigkeiten, die eine bewusstseinserweiternde Blase für den Drift von Gedanken erschaffen, umgeben von Fahrtwind und dem scheinbar schützenden Mantel der Technik. Ein Bewusstsein für das einfache und leichtfertige Handeln ist nicht vorhanden, da reicht auch nicht das Öffnen des Fensters und das Wahrnehmen des Fahrtwindes, der einem doch stärker als bei 30 KilometerproStunde erscheint. Mit dem Ausfädelungsstreifen schwindet das Gefühl der Verantwortungslosigkeit, denn erfolgt das Abbiegen auf die Landstraße noch, dann wirkt bei Tempo 80 alles wieder real und ein Unfall verläuft nicht garantiert tödlich für alle Insassen. Man müsste mit der Schuld weiter leben, dass das eigene Handeln Leben gekostet hat oder wird gar seine restliche Lebenszeit mit dem Blick auf Menschen im Rollstuhl gestraft.

Wir durchqueren Mittelfranken.

„Es tut mir Leid, ich habe gar nicht gefragt oder dich bisher darüber informiert, aber ich habe meine Sachen für das Frisbeespielen mit“, entschuldigt Malice sich wobei sie gleichzeitig bemerkt, dass ich keine Ahnung habe, wovon sie redet.

„Du und Frisbee?“, spotte ich. „Das kann ich mir kaum vorstellen, aber ist cool, klar, warum denn nicht.“ Ich klinge dabei sehr ernst, zumindest beim letzten Halbsatz, denn weswegen auch immer, verspüre ich eine Dringlichkeit Malice nicht zu verärgern. Eine zwischenmenschliche Beziehung, die ich nicht von ihrer sanften, seifenblasigen, acht Lagen Klopapier, Wolke holen möchte. Lass sie dort oben ihre Kreise ziehen, nie mit Regen füllen, kein Quellen, kein Donner, kein Hagel und wenn du dafür Chemtrails abonnieren musst. Während Malice lacht, denke ich angestrengt nach. Erst als Malice die Polizei und Kontrollen erwähnt, da erschließt sich mir die Sachlage und das Bild von knosprig blühendem Grün in Aluminiumfolie gehüllt.

„Ich habe es so tief wie möglich in meinen Schlafsack gesteckt, ist auch sowieso nicht mehr viel, bestimmt kaum strafbar“, so schmunzelt sie ihr Versehen weg. Ich singe schief und zu meinem Gefallen mit extra viel Pathos: „Malice und Ich spielen Frisbee heute Nacht!“ Das Gefühl von „Roadtrip“, Freiheit, Grenzenlosigkeit, das Möglichmachen des Unmöglichen kommt für einen Moment auf. Ich verliere mich im Sonnenschein der durch die Frontscheibe hereinbricht, bis Malice mit einer Hand in das Lenkrad greift, es gerade rückt und mit der anderen Hand die Sonnenblende der Fahrerseite richtet.

„Kabelbinder, Panzertape und einen Leichensack packte ich in meinen Koffer“, stoße ich mit begleitendem lauthals Lachen aus, lege meinen Kopf in den Nacken, genieße mich selbst und meinen Humor. Sichtlich erschrocken, fast ein bisschen erfüllt von Furcht und Angst versucht Malice, nach vorne gelehnt, mir in die Augen zu schauen, nachdem ich meinen Kopf wieder begradigte, und vollzieht prüfende Blicke nach meiner Glaubwürdigkeit, wortlos, dabei lässt sie ihre freundlichen Grübchen und ihre Falten geformt nach einem komplexen Bogendelta um die Augen erscheinen.

„Das hat sich irgendwann mal so eingespielt, also Kabelbinder und Panzertape sind eben nützliche Utensilien und mein Schlafsack, den kennst du ja, der sieht eben aus wie ein Leichensack“, Maria sitzt aufmerksam und überraschend wach auf der Rückbank. „Ja, ich erinnere mich.“ Malice schüttelt kurz mit dem Kopf und bricht dann auch in Gelächter aus. „Gut, dass wir keine unbekannte Person auf der Rückbank sitzen haben.“

Wir schmeißen Maria nicht gefühlvoll aus Anstand an einem schlecht frequentierten Pendlerparkplatz entlang der A7 in der Nähe von Memmingen aus dem Auto. Marie verschwindet. Flüchtig und schemenartig als wäre sie nie dagewesen, nicht vergessen, nicht verdrängt, schlicht weg, nie gesehen, ein Deja-vu, das mir vorgaukelt, mir erzählt von einer Situation in der ich schonmal geglaubt habe, dass es Maria nicht gibt. Ein Pendlerparkplatz, ein zehn Euro Schein, ein hihihi, ein winkewinke, ein fristiges Leben zu Ende gegangen in meinem Leben.

Fortsetzung folgt …


Gimme gimme what I need

keine zeit für bullshit
nimm mich an die kurze leine
dann aber her mit den zertifikaten,
du spast.
ich sitze hier vor der kamera mit den
anderen hirntoten im seminar
wir alle schlagen tot die zeit und
wollen den bachelor in der tasche haben
und dann weiter hoch die treppe.
dozenten geben uns informationen
dozenten geben uns termine aufgaben abgabefristen
foren wo wir alle die gleichen sätze nachplappern
wieder erbrechen nachplappern wieder erbrechen
selbstständig denken wird hier eben reingedroschen.
die universitäten sollten geisterstädten gleichen
sollte die studentenschaft wirklich zu erkenntnis und
kritischem denken gelangen denn wer will schon zwischen
morschen wänden sitzen die einen beim fassen eines originären
gedankens jederzeit zu brei begraben könnten?
doch wir sind sklaven und werden durch das system dazu gemacht.
und jetzt her mit den zertifikaten,
du spast.
zeig mir einer das teuflische genie welches beschloss:
wir unterziehen ihre köpfe prüfungen wir fragen nach bestimmten
inhalten die wir vorgeben wir entscheiden wer hier die zertifikate
bekommt, springt bloß
durch die einhundertachtzig reifen der rest kann kaum unser
brot sein.
wir sind sklaven weil unser gesellschaftlicher stand von ihrem
papier und stempel abhängt weil unsere zukunftschancen und unsere
attraktivität für arbeitgeber davon abhängt ob wir bestehen.
gründer kann kaum der ausweg für jeden von uns sein.
das schlimmste ist gar nicht das system der abhängigkeiten
nicht die heuchelei des gepachteten wissens der intellektuellen
betätigung die blinde objektivität besonders für die sozialen
bedingtheiten, nein.
das schlimmste steckt in den bis zur frechheit gelangweilten
augen der jüngsten studenten dem frischesten korrumpierten
schulgezücht

in den dreisten verfrühten aufbruchsbewegungen
ohne jedes anzeichen von inhaltlicher polemik
in den kleingruppen von zoom-konferenzen wo zehn minuten zum
begriff der ästhetik sich ausgeschwiegen wird
das internet macht die misstände realer
macht die erbärmlichkeit offensichtlicher
verteilt die zertifikate nicht wenn ihr nur unmündige bündel
produziert, ihr spasten.

sie wollen nicht ihr leben der erkenntnis widmen, sie wollen
bloß in ruhe gelassen werden und brav sagen was alle sagen oder
meinen sagen zu können weil es KONSENS ist.

mein dozent sitzt vor der kamera
er hat eine brave stimme
er hat rote wellige haare
er ist der größte sklave
weil er es nicht bemerkt
er hat einen master-abschluss
er beschäftigt sich mit dingen
umwelt-zertifikaten

gott, wie ich ihn bis zum hass verachte.


Ist es für immer

Meine Schuld?!

Stille. In mich gekehrte Stille. „Bin ich ganz alleine schuld? Ich mein es geht doch nicht. Doch irgendwie tut es das. Warum habe ich es zugelassen? Hält das Gefühl für immer an oder geht es irgendwann weg?“ Nun sitze ich hier an einem Freitagabend im Supermarkt, bei diesem unnatürlichen, grellen Licht in Handschellen und ertrage die Fragen des Polizisten, der mir gegenübersitzt. Sein Blick zeigt eine Mischung aus Ehrfurcht und Mitleid. „Hören Sie mir überhaupt zu?“, seine Stimme lässt mich wieder zuhören. „Wie viel Uhr haben wir?“, meine Gegenfrage, ehe er „19:06 Uhr“ antwortet. Doch erläutern wir alles in Ruhe. Ich werde Schritt für Schritt zum Anfang kommen.

„Alexa, wie viel Uhr haben wir?“ – „Es ist 18 Uhr und 32 Minuten.“ Netflix läuft nebenbei, ich schaue hin und wieder hin auf den Fernseher. „Was habe ich nur falsch gemacht? Warum kann es nicht so sein wie in den Serien? Man liegt mit jemandem im Arm und alle Probleme dieser Welt sind wie weggeblasen.“ Ich schaue neben mich und sehe einen Menschen. Die braunen Haare liegen auf meiner Brust, die Augen geschlossen. Der Mensch schläft, doch ich kann es nicht. Vor zweieinhalb Stunden haben wir angefangen miteinander zu schlafen, danach ist der Mensch sofort eingeschlafen und mir flossen meine Tränen an meiner Wange entlang, um auf die Bettdecke zu tropfen, wie der Anfang eines Regentages. „Einkaufen! Ich muss noch einkaufen, morgen ist ein Feiertag“, schoss es mir in den Kopf. Also löse ich seine Arme und lege sie auf die warme, leere Stelle des Bettes, an der ich gerade noch lag und stehe auf und ziehe mich an. Ein kurzer Blick noch zurück, ehe ich aus dem Haus gehe. Ich gehe direkt zum Milchregal und überlege was ich außerdem noch brauche. Mit einem Male fallen mir die ganzen Menschen auf, wie sie beschäftigt im Laden umherlaufen, sich niemand um den anderen schert, oder nur ängstliche Blicke austauschen, um weiterzugehen. Kennst du diesen Moment, an dem du nicht mehr realisierst, warum alles gerade passiert und dir alles zu viel wird? Man möchte nur noch schreien. Aber meist schreit man nur in seinem Kopf.

Bei mir sind es die Menschen. Es sind so viele und es scheinen immer mehr und mehr zu werden. Eine Frau streift meine Hand im Vorbeilaufen und ich kann nicht mehr. Ich lasse alles fallen und schreie und schreie und schreie: „Geht alle weg, verpisst euch!“ Ich nehme ein paar Dosen aus dem Regal und werfe sie einfach drauf los. „Bitte beruhigen Sie sich doch!“, meint ein Mitarbeiter zu mir. Doch ich kann nicht mehr. So lasse ich meine Gefühle, über Tage angestaut, einfach raus. Ich realisiere es geht nicht einfach weg, es ist für immer da. Da kommt auch schon die Polizei, meine Statur ist eher schmächtig, so konnten beide mich ziemlich schnell packen und mir Handschellen anlegen. Einer kümmert sich um die anderen im Supermarkt, während der andere mich ausfragt und wir auf den Rettungsdienst warten. Ich höre ihm nicht wirklich zu, kehre zu meiner inneren Stille zurück. „Hören Sie mir überhaupt zu?“ „Wie viel Uhr haben wir?“ „19:06 Uhr. Und erklären Sie mir jetzt woher die Blutergüsse auf Ihrem Gesicht kommen?“

Seit zwei Tagen fühle ich mich komisch. Es tut mir weh, wenn ich an vorgestern denke. Aber jeder sagt doch immer, dass so etwas nicht geht. Jeder sagte mir doch immer, wenn so etwas ist, soll man glücklich sein, dass es überhaupt passiert ist. Doch ich fühle mich scheiße. Ob man sich immer so fühlt? Es klingelt. Es ist 16 Uhr und ich will keinen mehr sehen. Wer klingelt denn jetzt schon wieder. Ich mache die Türe auf und vor mir steht diese Person. Sie umarmt mich sofort „Oh, Baby es tut mir so leid“, sagt das Individuum und streichelt zart über meine Wange. „Ist schon ok, ich weiß es war nicht so gemeint von dir“, entgegne ich ihm, ehe es versucht mich zu küssen, doch ich weiche aus. „Jetzt stell dich nicht so an wie eine Pussy, es hat noch niemandem geschadet“, das Geschöpf nimmt meine Hand und zieht mich in mein Schlafzimmer. Wir setzen uns aufs Bett. Ich werde ein wenig amüsiert angeschaut: „Ich wollte es nicht, ok? Wirklich alles wieder gut?“ Wie kann ich denn nicht verzeihen, wenn ich so angeschaut werde und solch liebe Worte an mich gerichtet sind. „Ja, wirklich!“ – „Dann küss mich doch.“ Ich küsse die Lippen und sofort werde ich gestreichelt. Ich zucke beim Streicheln erst zurück. Ich will es nicht. „Bitte nicht!“, sage ich, doch es kümmert niemanden. „Komm schon willst du mich nicht glücklich machen?“ – „Ja, doch schon!“ – „Na komm, ich will dich jetzt und wäre wirklich traurig wenn du jetzt nicht willst.“ – „Aber bitte nicht wieder so.“ Ein Körper setzt sich auf mich und fängt wieder an mich im Gesicht zu schlagen: „Los jetzt du Hure, mach schon, es ist das einzige was du überhaupt halbwegs kannst!“ So tue ich was von mir verlangt wird. Während ich weiter beschimpft und niedergemacht werde, fühle ich mittlerweile dabei schon nichts mehr und lasse es über mich ergehen. „Sei nicht so eine Pussy“, bekomme ich ständig zu hören. Ich glaube man stumpft einfach ab mit der Zeit. Am Ende bekomme ich wieder eine Entschuldigung. Dann legt sich das Geschöpf auf meine Brust und schläft ein. „Muss es immer so sein? Wir mögen uns doch, oder?“ Auch wenn ich es nicht verdient habe. Tränen laufen an meiner Wange entlang und tropfen auf die Bettdecke. „Wie der Anfang eines Regentages“, schießt es mir in den Kopf. Doch nach Regentagen kommen ja auch irgendwann wieder Sonnentage. Also meistens jedenfalls. Ich schalte Netflix ein und mache eine Serie an. Nach einiger Zeit frage ich: „Alexa, wie viel Uhr haben wir?“

Es ist Mittwochabend, wir haben 22 Uhr und so will ich alles nicht. „Nun mach schon du Nutte!“, höre ich noch, ehe ich eine Hand mit voller Wucht an meinem Auge spüre. Sofort strömen mir Tränen aus meinem Auge. „Jetzt heulst du auch noch, oder was?!“, werde ich angeschrien, ehe mein Kopf zwischen die Schenkel gedrückt wird. „Gott, wie erbärmlich du bist!“ Ich tue meinen Dienst und weiß nicht, ob es richtig oder falsch ist.

„Sei nicht so eine Pussy. Es ist 17 Uhr an einem Mittwochabend, da können wir schon trinken!“, sagt sie zu mir. Wir lernten uns am Anfang des Semesters durch unser gemeinsames Studienfach kennen, weil ich ein T-Shirt unserer gemeinsamen Lieblingsband anhatte. Ich war interessiert, doch beschränkte sich unser Kontakt bisher auf Freundschaft. Dabei entsprach dieses Individuum genau dem, was ich immer bei anderen Suche. Offen, kreativ, kümmert sich um andere. Hat aber auch Spaß im Leben und genießt die Momente. Doch im Gegensatz zu den meisten, kann ich meine Gefühle hinten anstellen. Mir geht es darum, andere glücklich zu machen und nicht mich selbst. „Ok, aber nicht so viele, bitte“, meine ich. Ein paar Drinks später gehen wir zu meiner Wohnung. „Komm schon, du willst es doch schon seit wir uns kennen“, bekomme ich in mein Ohr gehaucht, ehe wir uns küssen.

„Hi, ich bin Nicole.“ – „Ich bin Adam“, stelle ich mich vor. „Sorry, ich mag dein T-Shirt. Disturbed ist auch meine Lieblingsband“, sagt sie zu mir, ehe alles begann.


Küche #1

Küchenphilosophie in drei Zeilen – die neue Rubrik der KLW. In dieser Ausgabe:

Dialektik der Vernunft

Der Mensch ist zur Vernunft begabt,
doch muss er von ihr keinen Gebrauch machen.
Darin liegen Fluch und Segen zugleich.


Liebestätigkeit

 

I

In Cuxhaven gibt es ein Meerwasser-Wellenschwimmbad. Kurz bevor – alle halbe Stunde – die Wellen kommen, erfolgt die schöne Ansage: Achtung, in fünf Minuten Wellentätigkeit (gesprochen: Wellenteetichkeit). Dieses Wort habe ich bislang nur dort vernommen, aber mir gefällt es, denn es korrespondiert mit der mechanischen Erzeugung dieser Schwimmbadwellen. Im Meer gibt es keine Wellentätigkeit, sondern Wellen.

Die nördliche Sanderau in Würzburg ist ein Wohnviertel, in dem, auch durch zunehmende Innenbebauung, die Menschen dicht beieinander leben. So hatten viele etwas davon, als im heißen Sommer 2019 eine anscheinend sehr begeisterungsfähige Frau Töne höchster Lust von sich gab, und zwar häufig, laut und ausdauernd. In der Zeitschrift „Sowjetunion heute“ hieß es unter den abgedruckten Reden des Genossen Breschnew: Lang anhaltender, nicht enden wollender Beifall. Und diesen Eindruck hatten die unfreiwilligen Zuhörer in der Sanderau auch, lang anhaltender, nicht enden wollender Sex. Der Beifall hielt sich allerdings in Grenzen. Das lag auch daran, dass die vielen Höhepunkte zu den unterschiedlichsten Zeiten auftraten, mal vier Uhr früh, gern auch zwischen sechs und sieben, zur Mittagszeit, abends, spät in der Nacht und ab und an durchaus zweimal am Tag. Beim ersten Schrei war der Umwelt klar: Achtung – Liebestätigkeit!

Die akustische Entsprechung zum Voyeur wäre der Lauscher. Aber genau darum ging es hier nicht, denn man kann zwar wegschauen, aber kaum weghören, wird also gezwungenermaßen zum Zuhörer der wilden Sprache der Fleischeslust. Man schämt sich natürlich auch, weil man zu diesen ekstatischen Lauten unwillkürlich Bilder imaginiert. Weiter entfernt wohnende Zuhörer ergingen sich in Spekulationen über den Ort des Geschehens, durch die Halleffekte der engen Bebauung ein schwieriges Unterfangen. Man schaute die Damen, die aus dem vermuteten Gebäude kamen, dann auch immer, ob der eigenen Neugier peinlich berührt, verstohlen an: Konnte beispielsweise diese Endzwanzigerin mit den sinnlichen Lippen und der unvorteilhaften Hornbrille die Betreffende sein? Die unmittelbaren Nachbarn wussten natürlich genau, wo die Musik spielte, einmal hörte man den entnervten Ausruf „Braucht da jemand Hilfe“ – das war ja wohl eher unwahrscheinlich.

Die unfreiwilligen Lauscher waren zunächst verschämt und machten sich so ihre Gedanken über die eigene, weniger ekstatische Liebestätigkeit. Erinnerungen wurden wach: (Weißt Du noch, damals nachts auf der Terrasse der Ferienwohnung in Eutin? Und wie der Nachbar uns am nächsten Morgen angeglotzt hat!). Während der langen, heißen Sommerwochen trat aber eine gewisse Gewöhnung ein, man unterhielt sich immer unbefangener mit den Nachbarn: „Ach, die schon wieder!“

Der Mann, das unbekannte Wesen, erweckte Neugier. Anfangs blieb er stumm, aber im Laufe der Zeit ließ auch er sich hören, zwar sehr dezent und immer nur gegen Ende der Veranstaltung, aber sein Elan und sein Durchhaltevermögen erregten geheimes Erstaunen und eine gewisse neidvolle Bewunderung.

Einmal gab es ein – wenn auch schwaches – Echo. Da war ein anderes Pärchen offenbar animiert worden. Daraus könnte man natürlich eine Geschichte machen und die ganze nördliche Sanderau in Ekstase fallen lassen, aber dem war nicht so. Gegen Ende des Sommers nämlich flaute die Liebestätigkeit zumindest akustisch ab. Waren „die“ in Urlaub oder gar ausgezogen? Ein wenig vermissten die Anwohner das Phänomen, das sie so beschäftigt hatte. Ende der Liebestätigkeit?

II

Dorothee war außer sich vor Wut. Nicht nur hatte Luca, das Schwein (in ihrem Kopf schon ein feststehender Ausdruck, also Lucadasschwein), wegen „der Schlampe“ (Dorothee weigerte sich, deren Namen auch nur zur Kenntnis zu nehmen) die gemeinsame Wohnung verlassen. Und jetzt, Gipfel der Infamie, er hatte sich schräg gegenüber eingemietet, im dritten Stock (sie selbst wohnte im vierten), und da die Wohnungen um 90 Grad versetzt zueinander lagen, fiel ihr Blick zwangsläufig auf den Balkon von Lucademschwein. Das liederliche Paar hatte sogar die Impertinenz aufgebracht, Dorothee zuzuwinken. Der Balkon war ihr verleidet, auch weil sie ahnte, dass sie irgendwann nicht mehr an sich halten könnte und mit Blumentöpfen werfen würde.

An einem warmen Dienstagabend im Juli hatte sie dezent um die Ecke gelinst – richtig, die beiden aßen draußen, und der Groll, nicht auf ihren Balkon zu können, zerfraß sie. Zerstreut schaute sie ins Fernsehprogramm, fand nichts zu ihrer Stimmung passendes und wollte die Zeitung schon weglegen, da realisierte sie, dass im WDR um 22 Uhr wieder einmal „Harry und Sally“ gezeigt wurde. Sie hatte den netten Film schon mindestens dreimal gesehen, aber die Erinnerung brachte sie auf eine Idee. Sie riss die Fenster auf und begann, wie weiland Sally im Schnellimbiss, einen Orgasmus zu simulieren, laut und heftig. Dann aß sie zu Abend und machte das gleiche noch einmal. Sie wurde immer vergnügter und begann der Sache etwas abzugewinnen, besonders wenn sie an Lucadasschwein und seine Schlampe dachte. Denen würde sie einheizen. Also nutzte sie sowohl gelegentliche Schlaflosigkeit als auch freie Tage zu hemmungslosem Liebesgestöhne. Sie empfand nichts als eine Befriedigung ihrer Rachegefühle, und das an die Wand-Klopfen erboster Nachbarn oder die giftigen Blicke im Treppenhaus scherten sie überhaupt nicht, sie kalkulierte ausschließlich die Wirkung auf ihren Ex.

Eines Abends, als sie wieder einmal besonders engagiert tätig war, hörte sie ihren entnervten Nachbarn „Braucht da jemand Hilfe?“ rufen. Warum nicht, dachte sie und ging hinüber und klingelte. Er, ein stattlicher Mitdreißiger, öffnete mit hochrotem Kopf, und Dorothee legte ihren Finger Schweigen gebietend auf den Mund und winkte ihm, ihr zu folgen. Er betrat befangen ihre Wohnung und Dorothee nahm ihre Lustschreie wieder auf in der Hoffnung, er würde den männlichen Part übernehmen. Das tat er auch, aber anders, als sie es erwartet hatte. Offensichtlich erregt begann er sich zu entkleiden. Um so besser, schoss es ihr durch den Kopf, umso besser. Sie legte ihre schicke neue Hornbrille und einiges andere ab, hatte ihren Spaß und gewann die männliche Stimme hinzu, so konnte sie sich Lucademschwein noch intensiver in Erinnerung bringen.

Drei nicht nur akustisch intensive Wochen später kam sie zu ihrem Triumph. Zunächst hatte sie dem Kleintransporter vor dem Nachbarhaus keine Bedeutung beigemessen, aber als sie Luca mit verkniffenem Gesicht Umzugskartons schleppen sah, empfand sie tatsächlich ein orgiastisches Gefühl, blieb aber wohlweislich stumm.

Mit dem Nachbarn fand sie ein sympathisches Arrangement, nur dass sie bei ihren gelegentlichen Treffen wie alle anderen wieder leiser zu Werke gingen. Aber manchmal jauchzte sie in Erinnerung an ihr gelungenes Projekt noch auf.

Dorothee war sehr zufrieden!


Liegen bleiben

Ich ziehe meine Vorhänge auf und kalter Mondschein nimmt mir die Sicht. Er erfüllt die Zwei-Zimmer-Wohnung, die ich von meiner Mutter geerbt hatte und verfängt sich im Biedermeier Spiegel, auf dessen Geleit hin das Licht durch den stark verwinkelten Raum trabt. Mit viel Optimismus und Phantasie könnte es auch eine Vier-Zimmer-Wohnung sein.

Ich schlafe noch immer in einem Kinderbett. Ich mag es, in der Matratze zu versinken, den Bettrahmen zu spüren, auch wenn sich über die Jahre vernarbte Druckstellen an meinen Fersen gebildet haben. Die Farbe meiner Füße unterscheidet sich zunehmend von der meiner Beine. Aber ich mag das. Hätte Achill in einem Kinderbett geschlafen, dann würde er heute höchstwahrscheinlich noch leben. Aber von Prävention haben die damals wahrscheinlich noch nichts gehört.

Ich öffne das Fenster und beuge mich nach vorne, um besser auf die Straßen unserer kleinen Stadt zu blicken. Leichter Wind fährt mir über den rasierten Kopf und ich spüre, wie sich eine Gänsehaut bildet. Anfangs nur an den Armen, sprintet sie über den Rest meines Körpers und bedeckt mich nach kurzen Momenten vollkommen. Die Straße ist leer. Nur eine kaputte Glasflasche, vom Wind unterstützt, sich behutsam in den Schlaf wiegend, spielt eine kleine Melodie auf dem verwitterten Kopfsteinpflaster. Ich schließe die Augen und versuche alles um mich herum einzuatmen. Ich atme so lange ein, bis mein ganzer Körper zu zittern beginnt, dann lasse ich ab von mir.

Das Fenster wird geschlossen und ich werfe mich in mein Gewand. Wie geführt von einem geisterhaften Marionettenspieler setze ich das Rasiermesser mit dem Roteichengriff waagerecht an meinen Hals und ziehe es behutsam nach oben. Da ist kein Widerstand, aber meine Augen, die sich an das spärliche Licht in der Ecke, wo sich mein Waschbecken befindet, gewöhnt haben, realisieren, dass da Schnee fällt. Bärtige Schneeflocken tanzen dem weißen Porzellan entgegen und legen sich dort zur Ruh.

Ich bin schnell fertig, habe ich mich doch vorgestern schon rasiert und mein Bartwuchs beschränkt sich eher auf einzelne Inselchen, die starr auf meinem Gesicht verweilen. Ich gucke in den Spiegel, doch ich sehe nichts.

Am Bett angelangt, halte ich kurz inne und überlege, ob ich mir denn Schuhe anziehen solle, aber entscheide mich dagegen, weil mich ja sowieso niemand sehen wird und ich Schuhe eigentlich gar nicht so wirklich leiden kann, um ehrlich zu sein. Ich klopfe mir sanft mit den Handflächen erst auf die Brust, arbeite mich seitlich voran, abwärts an meinen Flanken vorbei in Richtung Hüfte, wo ich sie kurz ruhen lasse, bevor ich sie baumeln lasse. Eins, zwei, drei, vier, fünf Wimpernschläge, ich werfe die Arme nach vorne, atme tief aus und beuge mich nach vorne.

Die Tür knarrt, als ich sie öffne und das verabschiedende Strählchen Licht, das sich für einen Sekunden- bruchteil an mir vorbeischiebt, kitzelt die mir gegenüberliegende Tür. Jedoch nicht genug, um sie aufzuwecken. Schneller als gedacht, erreiche ich das Erdgeschoss und trete hinaus auf die noch immer leere Straße.

Ich spüre, wie es beginnt. Ich fange an zu laufen, mein Körper steuert mein Gehirn, ich lasse mich einfach treiben. Denn ich weiß, wo der Körper hin möchte, wo der Körper hinmuss, um mich als Wirt mein ganzes Leben lang zu tolerieren. Ich bin ein Parasit in meinem eigenen Körper. Ein gutartiger, liebevoller zwar, aber ein Parasit. Wir überqueren Straßen, passieren Häuserfronten, die mir allzu bekannt sind und mir mit einem halbgeöffneten Auge zum Gruß zuzwinkern, bevor sie sich ihrem gemeinsamen Liebhaber wieder hingeben. Wir stolpern nicht, denn wir kennen jeden Stein und jeder Stein kennt uns.

Die Nacht könnte klarer sein. Wolkenfäden weben Hauche von Spinnennetzen aufs Firmament. Sterne pulsieren im Hintergrund und der Wind bläst meinen Tränen zum Marsch, die sich zögernd aus meinen Augenwinkeln schleichen. Es wird kälter, das spüren wir, aber kalt ist uns nicht.

Am Flussufer angelangt beginne ich mich zu entkleiden, bis ich splitterfasernackt im weichen Ufergras stehe und Sekunde für Sekunde ein bisschen einsinke. Als der Boden meine Knöchel umarmt, mache ich einen Schritt nach vorne und eiskaltes Wasser spült den Fuß rein. Schnell wird der andere nachgezogen, mein Körper spürt, dass es beginnt. Hastig, aber nie ohne Kontrolle begeben wir uns in Richtung unseres angestammten Platzes.

Das Wasser ist in etwa kniehoch, es hat sehr wenig geregnet in letzter Zeit. Ich sehe mich um und die Weide tanzt ein Schlaflied, dirigiert Morpheus’ Orchester. Nach einigen Momenten stimmen die Ulmen vorsichtig mit ein, die Erlen und Eschen vom Wagemut bestärkt, komplementieren die Sinfonie.

Ich schließe die Augen, lasse los und spüre, wie mein Gesäß zielstrebig die Wasseroberfläche durchstößt, mein Rücken es ihm gleichtut und mir eine kalte, nasse Hand auf den Mund gedrückt wird.

Ich öffne die Augen und atme aus, entledige mich aller Luft. So verharre ich nun, den Blick starr gen Himmel gerichtet. Ich möchte im milchig schwarzen Himmel baden, würde ihn so gerne fassen und liebkosen.

Wie ferngesteuert gleitet mir eine desinteressierte Bachforelle entgegen. Sie hält einen Moment inne und wir belauern uns aus Augenwinkeln, Fisch und Mensch. Ich sehe ihr Leben vor meinem inneren Auge vorbeiziehen und mein Leben zieht an ihrem vorüber. Wie ausgepeitscht schnellt sie nach vorne, verschwindet und meine Sicht verdunkelt sich.

Der Sauerstoffmangel, der sich erst kitzelnd, gar neckisch angebahnt hat, steht nun mit beiden Beinen im Leben. Nur noch ein kleines bisschen, bitte, nur ein kleines bisschen, flehe ich meinen Körper an und er schenkt mir Gehör. Ein infernales Klirren, jaulende Höllenhunde, krachende Becken penetrieren meine Ohren, verzweifelt kralle ich mich an den losen Steinen des Uferbettes fest, will noch nicht gehen, fühle mich doch so schön verloren.

Wie ein Klappmesser schnellt mein Oberkörper in die Höhe, meine Beine flüchten und plötzlich liege ich mit dem Gesicht nach unten auf diesem gräsernen Himmelbett. Ich winde mich, zwinge mich auf meinen Rücken und durch den Tränenvorhang, der die Realität mit der Imagination verschwimmen lässt, erblicke ich sie wieder. Die Sterne, den Mond und das ewig, glimmende Schwarz. Meine Brust hebt und senkt sich und mein Körper beginnt haltlos zu zittern, aufgeladen durch Euphorie und ich beginne haltlos, tonlos zu lachen. Bitte, bitte, bitte.

Ich möchte doch nur liegen bleiben.


Nacht fahren

Diese Nächte im Spätsommer, wenn sich der Frühherbst schon anschleicht, das Ringen um die Gunst während des Tages noch verliert und dann seinen müde gewordenen Kollegen gen Sonnenuntergang zu Bette trägt, der Wind mit Kopflosigkeit durch die Stadt wischt, ein feuchter Kuss mit Aussicht auf ein baldiges Wiedersehen, dann kriechen die nachtaktiven Lichter durch die Straßen und mein Fahrrad treibt ein zielloses Wesen von Schatten zu Schatten. Döner mäandert durch meine Nase und das alte Fauchen einer bremsenden Straßenbahn etwas hinter mir wabert an meine Kopfhörer. Ein Fußgänger, drei Tretläufe vor mir, trinkt gerade ein Bier, schmeißt sich die Flüssigkeit mit stockender Entschlossenheit in den Rachen und die Gravitation zwingt ihn zu einem Ausfallschritt, eine gleitende Bewegung. Links Rücklichter eines Lastwagens und ein Hauch Diesel umarmen mein Gesicht, als ich durch eine Lücke zwischen den parkenden Autos gleite. Im Rotlicht des Windschattens ziehen sich Häuserfassaden vorbei, mit offenen Türen und rauchenden Menschen als Gäste. Ich will auch eine rauchen. Am Halteverbotsschild klickt das Fahrradschloss, ich nehme meine Kopfhörer ab, greife in meine rechte Jackentasche und ich werde eins mit dem Summen einer Nacht im Innenhof zweier Kneipen.

Ich stehe in der Nähe von Bekannten, die mich gerade nicht sehen können. Mir fallen ihre Namen nicht ein, man sieht sich meist in der Nacht, sagt, dass man sich lange nicht gesehen hat, verabredet sich überschwänglich wieder durchzuschreiben, lass mal auf ein Bier gehen, und verliert sie doch in der Anonymität einer nicht eingespeicherten Nummer, schon bald ertrunken in der Fluktuation der Chatauflistung meines Handys.

Mit Filter im Mund und formenden Fingern schwelgt mein Blick vorbei an bemalten Gesichtern. Feuchter Tabakgeruch, durchbrochen von einem Schwall Lavendel und von etwas, dass ich nicht genau identifizieren kann, als sich eine Frau etwas näher als nötig an mir vorbeischiebt, meinen Fuß suchend kaschiert und sich dann entschuldigend zu mir umdreht, ihre Hand auf meinem Oberarm.

Meine Hand zieht wissend mein Feuerzeug und meine Filter aus der Hosentasche. Du hast noch nicht so oft gedreht, kein Ding, ich dreh dir eine, ist wirklich kein Stress, bin gerade sowieso schon dabei, alles gut. Du studierst Wirtschaftswissenschaften und du malst deine Umgebung schwarz. Aber ich will nicht reden, will nur eine rauchen, gucken, teilnahmslos sein, verschmelzen, du willst reden, macht mir nichts aus, du störst nicht, ich höre gerne zu. Ich schau’ in ihr Gesicht, sie streicht eine Haarsträhne hinters Ohr und lacht mit unsicherer Miene, mach was, und ich lache tonlos, freundlich und frage etwas Unpersönliches. In der Ecke weint jemand, meine Schuhe haben jetzt ziemlich lange gehalten. Ich nehme einen tiefen Zug von meiner Zigarette, sehe nach links, nach rechts, scheiße, kein Aschenbecher, verabschiede mich, ciao, muss weiter. Sie versteht es, ich bin Nemo, sie hat eine Freundin getroffen, auf die hatte sie gewartet, die Eine auf Toilette für zwei Minuten, die Andere mit ihren Gedanken allein.

Wieder auf der Straße, weg von der Umgebung, ich bin allein und meine Oberschenkel sind sauer, bin schon etwas unterwegs. In der Ferne bekannte Scheinwerfer, man bekommt ein Auge dafür, und rolle auf den Bürgersteig, gehe, ein Guss, Fortbewegungsdevolution. Wissende Blicke stieren aus einem Autofensterglas. Meine Hosentasche vibriert in gleichmäßigen Abständen, ich greife hinein, lass es in meiner Hand zu Ende atmen und schalte mein Telefon in den Flugzeugmodus und blicke in den Himmel, aber der ist leer. Nur Wolken und Dunst.

Eine Fußgängerampel und zwei Hände haltende Menschen bremsen mich, ich stehe leicht versetzt, will nicht aufdringlich, nicht bedrohlich sein, will mich nicht so fühlen, als wäre ich aufdringlich und bedrohlich. Die eine Hand legt ihren Daumen auf das Handgelenk der Anderen und ein Körper folgt dem automatisierten Hinweis, ich steige wieder aufs Fahrrad und lasse mich in eine Gasse ziehen, mit gedimmten, aber dennoch zu grellem, blitzenden Licht eines Fernsehers, welches sich durch den mit Holzperlen gesäumten Fadenvorhang vor dem Wohnzimmerfenster zur Straße hinausdrängt.


Trouble Town

Eine Frau schaut aus dem Fenster, eine Frau spricht Russisch. Das andere Ende der Welt ruft an, ich gehe nicht dran. Das Ende steht am Anfang von allem, und blickt doch auf vieles zurück. Wir versuchen ihm zu helfen, doch scheitern am System.

Ein Mann hat Promille und THC im Blut, ein Mann fährt lachend gegen die Wand. Die Tage wurden heller, die Nächte bleiben schwarz. Ich knipse den Lichtschalter an und bin zu früh. Eine gemeine Schabe wohnt bei uns, und sie ist niemals allein.

Eine Frau freut sich, eine Frau freut sich sehr. Jemand entscheidet, dass Normalität herrscht und lädt zum Billard ein. Nicht zwecklos fallen Blätter, und irgendwo wird immer gehobelt. Ich fange den Ball und weiß, es sind jetzt neue, die mir die Bälle zuspielen.

Und irgendwo begehrt irgendwer nicht mehr. Und auch der Empfang war schon mal besser. Zwischen wachsenden Fassaden, teilen tiefe Furchen den Grund. Zwischen Quelle und Strom, fährt einer Lastkraftwägen.

Ein Mann kommt auf mich zu und kündigt sich an: Ja, genau auf Sie steuere ich zu! Mit dem Finger zeige ich auf Sie, denn Sie sind mein Opfer. Mein Rücken gewärmt, gibt das Gebäude mir Halt. Ein Foto wolle er, für Facebook und Co. Die ganze Residenz bitte und sein Gesicht, sowieso.

Was ich da lese, fragt der Mann mit Tön-Frisur. Wie wir begehren, würde er vielleicht hören wollen, eure Heimat ist unser Albtraum, Hengameh Yaghoobifarah, sage ich. Oh, ja, wichtig und oh ja, auch aktuell. Rassismus und so. Foto bitte. Foto bitte. Foto bitte. Und ach, wussten Sie: Ich investiere, in 20 qm und meine Zukunft. 140.000. Altersvorsorge, schon drüber nachgedacht?

Ein Mann fragt, wer sie ist, damit er ihr sagen kann, wer er ist. Jemand hat genug, um später noch genug zu haben. Jemand ist jünger, jemand ist nicht weiß. Wer hat, dem wird gegeben. Wem ein Haar fehlt, dem bleibt bloß das Bettlerleben. Und bedenke, sagen sie, für die Straße ist es nie zu spät! Häng die Bildung an den Haken, gib zurück, was du nie haben solltest, ach hättest du auf uns gehört.

Zwei Schwäne baden am Ufer des Flusses. Ein Fisch wird lebensmüde und schmeißt sich vor fremde Füße. Zwischen Leben und Sterben entscheidet bloß meine Hand. Was für mich Leben ist, ist für ihn der Tod. Was für ihn Luft ist, ist auch mein Elixier, doch tauche ich hinein, weiß ich, ich muss los.

Eine Frau ist jünger als die andere, doch wer so aussieht, muss anders sein. Muss ein Kind sein. Muss nicht für voll genommen werden, denkt sich der eine. Hinter getönten Gläsern und Helm werden Zweifel laut. Zum Erfrischen kamen Sie her, oh schöne Frau? War es die Arbeit, oder was trieb sie so sehr? Wie Männer die auf Füße starrten, damals, im grünen Herzen des Nachbarlandes, starrt wieder einer, ganz ungeniert.

Ein Artefakt, bloß ein Artefakt. Erinnern ist die größte Lüge. Schon während des Erlebens schleichen sich die Fehler ein. Wer will da vertrauen, wenn er sich fragt, wie es gewesen sei. Wenn morgen und gestern so unsicher sind, wie kostbar bist dann du, du rasender Moment. Ein Vorhang verdeckt, doch Eitelkeit bleibt. Gefüllt sind die Keller, mit Hopfen und Späne. Es wird gerülpst und gepöbelt, nebenan und auch damals, in der Stadt voller Kräne. Kein Tier, bloß Metall. Kein Tier, bloß ein Mensch der dort den ersten Schuss befahl. Die Banalität des Bösen, sie war niemals fort.

Zwischen Aufhören und Anfangen herrscht ein klarer Pakt. Nicht süchtig nach einer, einem, süchtig nach dem Leben, sagen sie. Sieben Euro. Sieben Euro. Sieben Euro schuldest du mir. Essen solltest du, doch fällst du lieber vom Fleisch, als sie nicht zu investieren. Der Flur stinkt nach Rauch und deine Bande nach Bier.

Sie will verlassen werden. Sie will verlassen werden. Sie will es und du willst es auch. Die Stadt spukt dich aus und du kriechst wieder hinein. Wie ein Wurm an einem Strick, heulst du gegen den Wind. Vergisst Worte, vergisst Namen, vergisst den 30ten Dritten.

Erlebt hat nur der, der Erlebtes erzählen kann, sagt ein Mann. Gewinnen kann nur der, der vorher schon gewonnen hat. Der rechte Fuß in Paris, der linke in der Seine. Was heuer Fußboden ist, kann übermorgen mehr.

Im neuronalen Gestrüpp erzeugt sich ein Bild seiner selbst. Wenn erinnern nicht die erste, sondern bloß die zweite Lüge ist, wer wirft dann den ersten Stein. Wenn sich alles überlagert, wer wäscht wessen Weste rein? Und wenn ich Weste sage, dann meine ich auch die mit den Ärmeln, die Westen, die ihr verneint.


Verkommen

Aus ihren Lautsprechern lärmt eine undefinierbare Kakophonie durch die sonst friedliche Stille des Südparks. „[…] Kickdown im Aston Martin, Benz, Bugatti […]“. Jeder hat eine Flasche in der Hand; Bier oder billige Spirituosen, gemischt mit noch billigeren Softdrinks. Die meisten sind fortwährend am Rauchen; Zigaretten oder – wie dieser ekelhaft süßliche Geruch indiziert – noch schlechtere Drogen. Ihre Stummel drücken sie einfach auf der Tischtennisplatte aus oder schnipsen sie achtlos auf den Rasen. „[…] Dicke Karren vor der Tür, doch auf MPU […]“. Den brutalistisch-abgehackten Sprachduktus dieser kriminellen Pseudo-Musiker haben Sie sich längst selbst angewöhnt: „Digga, jetzt ex die Scheiße …“, „Alter, der Spast ist mir mega auf den Sack gegangen …“, „Bro, die hat aber doch echt geile Titten?“. Auch ihre Kleidung identifiziert sie schon von weitem als Mitglieder einer kulturell verkommenen, und gänzlich ungebildeten Jugend. Schon als ich den Park vor einigen Minuten über die kleine Fontane-Brücke kommend betrat, reichte ein Blick, um mein Urteil zu fällen. Nach einem fortwährenden Studium ihres Verhaltens und ihrer Unterhaltungen, der gänzlichen Art der gelebten Kommunikation und des gezeigten Auftretens kann ich mich nur in diesem ersten Eindruck bestätigt sehen. „[…] Komm, wir schlagen euch kaputt vor der Tür […]“.

Ich erinnere mich noch, wie ich als junger Student mit Professor Wiesenhof über die – damals noch gekiesten – Wege dieses Parks flanierte und mit ihm lebhafte Debatten führte. Wir redeten über Veränderungen in den Rechtsauffassungen und analysierten gesellschaftliche und juristische Rahmenbedingungen für ein geregeltes Zusammenleben. Ich war von diesen lebhaften Diskussionen derart beeindruckt, dass der Professor eines meiner erstrebenswertesten Vorbilder wurde. Auch als er schließlich einer Intrige zum Opfer fiel und die Universität verlassen musste, hielt ich zu ihm – beraubten sie damit doch auch mich meines designierten Doktorvaters. Doch Wiesenhof war noch ein Mann von echtem Schrot und Korn und ließ sich auch von so einem Schlag nicht unterkriegen! Er eröffnete seine eigene Kanzlei und holte mich trotz meiner – aufgrund von ihrerseits entstandenen Zerwürfnissen mit der neuen Leitung der Universität – lediglich cum laude abgelegten Promotion zu sich. „[…] Aber wenn der Beat läuft, dann fickt dich das Camp in den Bauch […]“.

Er war ein Mann von solch herausragender Kultur, er liebte die Oper und die Klassik, sein Latein und sein Auftreten waren noch eines richtigen Juristen, überhaupt eines Mannes, würdig. Aber was soll man tun: Er gehörte eben noch der alten Schule an, einem Menschenschlag, wie es ihn heute kaum mehr gibt. Seit er sich in den Ruhestand verabschiedet und mir seine Kanzlei übergeben hat, erlebe ich es immer häufiger selbst: Die jungen Menschen sind zu immer weniger zu gebrauchen. Selbst die fähigeren, ordentlicheren und vernünftigeren derer, die sich nach ihrem Abschluss in der Kanzlei bewerben sind nach damaligen Maßstäben wohl nur zweite oder dritte Garde. „[…] Leg’ ihr paar Lines und wir landen im Bett; Schampus und Sekt, schamloser Sex; Geb’ ihr von hinten – Rammbockeffekt […]“.

Es reicht! Diese widerwärtige Veranstaltung muss ich mir wirklich nicht länger anschauen. Im Gehen frage ich mich noch, wie man wohl so tief sinken kann, wie man seine Würde nur so stark vergiften kann … Mir kommen die Gespräche mit dem Professor in den Sinn, als wir einmal intensiv über die Verantwortung der Jugend gegenüber der Gesellschaft diskutierten. Konkret ging es um die Studentenunruhen der Sechziger Jahre. Was damals noch ein Novum war – das kollektive Aufbegehren einer heruntergekommenen und pflichtvergessenen Jugend – ist heute schließlich zum Status Quo geworden. Er selbst – mein hochgeschätzter Professor Hermann Otto Wiesenhof – fiel schließlich den Exzessen dieser Horde verkommener und bekiffter Hippies zum Opfer. Als er damals prophezeite, dass es ab diesem Zeitpunkt definitiv und unabwendbar mit Deutschland bergab gehen würde, wollte ich ihm noch nicht glauben.

Aber nun haben sich seine Vorhersagen bestätigt. Ich kann dazu nur seine – vor seinem Abschied von der Universität letzten – Worte an mich wiederholen: „Mein lieber Adlatus, es ist mir doch wohl noch die letzte große Freude, in dieser heutigen, heruntergekommenen Gesellschaft noch einen vernünftigen, pflichtbewussten und aufrichtigen jungen Mann wie Sie zu finden. Um die heutige Jugend steht es derart schlecht, dass ich mir Sorgen um die Zukunft unseres Vaterlandes mache. Sie hätten in meiner Zeit jung sein sollen, als alles noch stramm stand wenn der Professor den Hörsaal betrat und ehrenvoll und treu den Gruß auf den Führer entrichtete. Ihn hätten Sie erst kennenlernen müssen, er hat keine Scheu gehabt, zum Schutz unserer Kultur durchzugreifen. Notfalls hätte er persönlich jeden dieser Hippie-Partisanen einzeln niedergeschoßen! Aber heute kuschen die Regierung und der Präsident der Universität und machen Zugeständnisse an Frauen und Neger und das Juden- und sonstige Zigeunerpack. Es kommt mir das Mittagessen hoch, wenn ich bedenke, dass ich mein halbes Leben – im Hörsaal und an der Front – für die Ausrottung dieser Untermenschenrassen gekämpft habe. Und jetzt muss ich mir das ansehen, wahrlich, mein Herz blutet.“

Wahrlich, auch mein Herz blutet im Angesicht dieser Zustände. In gewisser Weise beneide ich ihn darum, dass er nicht mehr miterleben muss, wie sich sein geliebtes Deutschland endgültig selbst begräbt. Ich verlasse den Park über die Zeppelinallee und gehe – in froher Erinnerung an die besseren Tage, doch mit einem betrübten Blick auf die heutigen Zustände – durch die Straßen meines einst verehrten Vaterlandes nach Hause.


Von Fußbällen, Teddys und Briefen

Sophia hat echt ein Problem. Obwohl sie steinalt ist, verdient sie ihr Geld immer noch mit Teddybären.

„Du gehst dann ja runter zur Postbotin, wenn sie am Mittag klingelt, Liebling?“, sagt sie an den Tagen, wo mit der Post neue Stoffe, Knöpfe und Füllwatte für ihre Bastelstube ankommen, zu mir. Ich, ich bin die Tochter von Sophia, ich, das heißt Tessa. Das Haus von Sophia und mir liegt auf dem Hügel, mit schönem Blick über die Stadt, und weil es so viele Straßenzüge gibt, die die Postbotin noch vor unserem Mehrparteienhaus mit dem gelben Rad abfahren muss, kommt sie immer genau um Viertel vor zwei bei uns an. Sie kommt an, schlägt die gelbe Abdeckplane über Briefen und Päckchen auf dem Gepäckträger zur Seite und geht die Adressat*innen durch.

„Khasholi“, sagt sie dann und reicht mir ein kleines Paket, das ich pflichtbewusst entgegennehme und oben zu den Krümeln vom Frühstück auf den Esstisch lege. Sophia, die ich noch nie ‚Mama‘ genannt habe, weil sie mir das so beigebracht hat, ist bei der Postbotin immer ein wenig mulmig zumute. Die Botin hat nämlich kurze Haare und mal eine lila, mal eine grüne Strähne, und sie ist im Vergleich zu Sophia sehr muskulös und flach. „Ich glaube, sie steht auf Frauen“, sagt Sophia immer nachdem sie mich angewiesen hat, wirklich nur die Post in Empfang zu nehmen und wieder in den dritten Stock hochzusteigen. Ich weiß zwar nicht, was sie damit meint, aber ich mag es, wie die Postbotin mit ihren starken Beinen alle Straßen der Umgebung entlangfährt und immer um Punkt Viertel vor zwei bei unserem Gebäude ankommt.

Wenn ich mittags die Tür aufschließe, meine Jacke zu Boden rutschen lasse und Nudeln oder Reis in der Mikrowelle aufwärme, sehe ich auf jeden Fall durch das Küchenfenster der Postbotin dabei zu, wie sie sich langsam zu uns hochkämpft und sie ist dann wie eine Begleiterin meiner mittaglichen Essensroutine, auf die ich zählen kann. Sonst ist es in unserem Leben ja ziemlich ruhig geworden.

Heute ist so ein Tag, an dem Sophia nach der Arbeit noch zu Großvater geht, der im Altenheim liegt und mittags Ausgang hat. Ausgang ist für die alten Leute wie Geburtstagfeiern oder Fußballspielen, sagt Sophia; es ist auf jeden Fall etwas sehr Schönes, worüber sich Großvater freut. Ich sitze in der Küche, nachdem ich der Postbotin ein Päckchen abgenommen habe, und trinke Apfelsaft aus einem Strohhalm. Zwar wollte ich im Laden das Bambusröhrchen mit den weißen Streifen, aber Sophia meinte, dass wir das Geld dafür nicht hätten. Komischerweise antwortete sie diesmal nicht, als ich mich beschwerte, „Marcs Eltern haben den ihm aber auch gekauft“. Sie bastelte mir gestern auch keinen weiteren Papierkranich aus altem Zeitungspapier, den ich zu dem Mobilé über dem Esstisch hängen könnte. Als ich zu dem Päckchen mit den Teddy-Stoffen neben mir blicke, nehme ich innerlich zurück, das Sophia echt ein Problem hat. Eigentlich ist sie ziemlich in Ordnung. Und sie verdient ihr Geld nicht nur mit Teddybären, sondern geht auch vormittags in ein Büro, mit schwarzer Hose und weißem Oberteil, wie Marcs Eltern. Die Teddys verkauft sie nur im Internet, und weil kaum jemand von meinen Freunden davon weiß, ist es mir auch nicht so peinlich.

Während ich mit dem Plastik in meinem Apfelsaft rühre, denke ich über Samir nach und darüber, dass er mit seiner neuen Freundin in Hamburg lebt. Samir vermisse ich ein bisschen, klar, er ist mein Vater, aber über Tanias Verschwinden komme ich einfach nicht hinweg. Meine große Schwester sollte mit ihm leben, entschieden Samir und Sophia vor einem Jahr, ich bei Sophia bleiben. Es stimmt, dass Tania immer schon an Samir hing, und mit seiner Freundin kommt sie auch ganz gut klar. Das hat sie zumindest bei den zwei Malen gesagt, als ich sie seit der Trennung gesehen habe, an Weihnachten und als ich sie und Samir besuchen durfte. Wir schreiben uns auch auf WhatsApp und rufen uns jeden zweiten Abend an, aber wir lesen uns nicht mehr heimlich nachts Jack London und Robert Louis Stevenson vor, im Bad putze ich meine Zähne ganz alleine und Tanias schöne T-Shirts, die ihr zu klein geworden sind, gehen jetzt nicht mehr an mich sondern an Oxfam. Heute, wo Sophia mit Großvater im Rollstuhl Runden dreht, fühlt es sich besonders schlimm an.

grüße aus dem süden, miss yu, schreibe ich an Tania zu einem Bild von meinem Apfelsaft, in den ich noch einen knallorangenen Strohhalm dazu stecke, weil das Bild wirkmächtiger ist mit zwei Strohhalmen als mit einem.

Im Fernsehen laufen ein Krimi, eine animierte Kinderserie und ein Nachrichtenprogramm. Bei „Rote Rosen“ bleibe ich kurz hängen. Es gibt rote Lippen, weiche Haare, einen Blumenladen und ein Mädchen so alt wie ich, die im Rollstuhl sitzt. Wenn sie lacht, macht sie den Mund so weit auf, dass man ihr Zahnfleisch über den Schneidezähnen sieht. Ich halte mir die spiegelnde Smartphone-Oberfläche vors Gesicht und versuche aus Spaß, ebenso breit zu lachen. Es sieht aber ganz schön bescheuert aus, weil etwas Schwarzes vom Mittagessen zwischen meinem Schneide- und Eckzahn hängt.

„Tessa.“ Sophia steht über mir und streicht mir über die Backe.
„Tessa, es ist schon fast vier.“

Die Postbotin ist auf einem Dromedar den Hügel hochgekommen, hat mir ein in Geschenkpapier eingewickeltes, rundes Päckchen zugeworfen und mir „Howdy“ zugerufen. Graue Spuren an der Decke, die Schatten der Topfpflanzen am Fenster tanzen an der gegenüberliegenden Wand. Ich brauche einen Moment, um wach zu werden.

„Tschuldige, vorhin kam Rote Rosen“, sage ich, als Sophia mit hochgezogenen Brauen den Fernseher abstellt.

„Aber Liebling, davon sterben deine jungen Gehirnzellen.“ Ich kann nichts erwidern, bin noch zu müde. Jetzt kommen mir auch noch die Hausaufgaben für den nächsten Tag in den Sinn und am liebsten würde ich wieder zum Dromedar und dem runden Päckchen zurück.

„Auf dem Tisch liegt das Bastel-Kit“, sage ich stattdessen, „hab’s diesmal auch noch nicht aufgemacht.“

Sophia läuft zwischen Bad und Schlafzimmer hin und her, ich höre ihre Ohrringe auf die Ablage klacken, Wasser laufen, das Handtuch gegen die Heizung schlagen. Als sie zurück in die Küche kommt, sitze ich am Esstisch und breite mein Deutschheft aus. Heute sollen wir uns eine Geschichte ausdenken zum Thema „Eine Reise mit einem Fremden“. Dazu gibt es die Reizwörter „Lachs, Motorradhelm, Picknick“.

Sophia schneidet das Päckchen auf und sagt „Wollen wir doch mal sehen“.

Den Rest des Tages sitzt sie nähend auf dem Sofa, während ich meinen Traum von vorhin zu einer abenteuerlichen Reise umbaue. Die Postbotin nenne ich Rita, aus dem Dromedar wird ein riesiges, dunkeltürkisenes Motorrad, das Rita und mich zu einem üppigen Picknick in den Bergen fährt.

Ich mache hinten zu, als Lena den Gegenangriff startet und mit Nico schnell hin und her passt. Als sie bei mir angelangt sind, stelle ich den Fuß im richtigen Moment dazwischen, fange den Ball ab und lege zum Konter vor. Als Abwehrspielerin bin ich „eine Brandschutzmauer“, wie unser Trainer sagt.

Dass Jungs und Mädchen in meinem Alter noch zusammen im Fußballverein sind, finde ich gut. Ich wüsste nicht, ob Marc und die anderen mich sonst so selbstverständlich auch in den Schulpausen bei sich mitspielen lassen würden. Und weil ich durfte, durften auch Lena, Ayleen und Kim. Wobei wir es auch nicht einfach hingenommen hätten, wären wir abgewiesen worden. Schließlich sind wir im Jahrhundert der Frau, und ganz abgesehen davon kann jedes Team Top-Spielerinnen wie uns gebrauchen. Ayleen trifft fast in jeder Pause, auf ihre Schusskraft bin ich ganz schön neidisch.

Der Ball fliegt bogenförmig und prallt vom Metallstab der Sonnenuhr an der Schulaußenwand ab. Er fliegt schnell zurück und trifft Nico im Bauch. Er passt den Ball ab und krümmt sich. Wir fragen ihn, ob alles okay ist, er winkt ab und joggt weiter in Richtung Tor.

Am Ende der Pause sehe ich mir die aufgeschnittene halbe Sonne um den Stab genauer an; gelb, orange, rot gehen langsam ineinander über, die Farbe ist von den Jahren ausgebleicht. Die Wand drum herum ist dreckig, eine vormalige Kletterpflanze hat schwarze Flecken hinterlassen. Sie sind gerade so angeordnet, dass es aussieht, als seien sie schwarze Löcher oder Planeten, die die Sonne umkreisen. Das Ganze wird jetzt halb von der Vormittagssonne erleuchtet, der Schatten des Stabs fällt zwischen X und XI, was glaube ich keinem weiterhelfen würde, wenn er gerade mal nach der Uhrzeit schauen müsste. Ich freue mich trotzdem für die halbe Schulwand-Sonne, dass sie während der Unterrichtszeit nicht ganz so allein auf den traurigen Hof und den Zement gucken muss, sondern noch Sterne und Planeten um sich hat.

Marc wirft mir den Ball in die Seite. Ich werde aus meinen Gedanken gerissen, schaue mich ärgerlich um und sehe ihn feixen.

„Na warte!“ Ich renne ihm hinterher, den Ball unterm Arm, seinen Rücken anvisierend.

Die Aufsicht sieht mich kopfschüttelnd an, als der Ball seinen Hintern trifft und wir uns lachend den Gang entlangjagen.

Am Mittag gibt es Gemüseauflauf. Sophia hat sich beeilt, nach der Arbeit vor mir zuhause zu sein, um Nudeln und Brokkoli zu kochen. Der Käse zieht lange Fäden von meiner Gabel, ich gucke durch sie durch aus dem Fenster. Die Kraniche drehen ihre Schwänze im Luftzug.

„Ein bisschen traurig bin ich.“
„Warum das denn?“
„Tania hat mich gestern nicht angerufen und auch nicht auf meine Nachrichten reagiert.“
„Sie meldet sich sicher bald bei dir.“
„Weiß nicht.“

Sophia erzählt mir von den Kirschblüten vor dem Altenheim, die im letzten Stadium vor der Verwandlung in Früchte sind und deren Duft Großvater minutenlang inhaliert hat. „Du hättest mal die Gesichter der älteren Damen im Park sehen sollen!“

Unten in der steilen Straße, die zu unserem Haus hinaufführt, sehe ich die Postbotin heraufstrampeln. Dann zeigt Sophia mir den Bären, den sie genäht hat. Sie erzählt mir von der neuen Idee, die sie hat, Wörter unter die beiden Tatzen zu sticken. Unter einer steht bereits ‚Zufriedenh‘.

„Der Bär sieht aus wie aus einer besseren Welt“, sage ich. Sophia schaut auf und zieht mich an sich. Ich sitze noch auf dem Stuhl und inhaliere jetzt den typischen Sophia-Geruch. Heute mischt sich ein wenig Brokkoli dazu.

„Du verdienst die beste aller Welten, Tessa.“ Als ich den zweiten Teller abgewaschen und Sophia das letzte ‚t‘ von ‚Zufriedenheit‘ angestickt hat, klingelt es in unserer Wohnung.
„Ich geh’ schon“, sagt Sophia und zieht sich Turnschuhe über. Ich blicke auf die Uhr: Es ist Viertel vor zwei.

Ich lehne mich aus dem Fenster und schaue an der Hauswand hinab, die Sonne strahlt mir ins Gesicht und ich rieche Blütenstaub, warme Erde und Tiere des Frühsommers. Glücksgefühle machen sich in mir breit, am liebsten würde ich durch die Wiesen rennen und stundenlang Blütenduft inhalieren, wie Großvater.

Unten steht Sophia bei der Postbotin und nimmt ein kleines Päckchen entgegen. Die beiden unterhalten sich, dann dreht Sophia sich um, schaut zu mir hoch, erschrickt und wedelt mit der Hand. Das heißt „Pass bloß auf, nicht rausfallen.“

Oben angelangt, reicht sie mir einen wattierten Brief. „Schau mal, Post aus Hamburg.“
Ich spüre mein Herz schlagen. Es ist fast wie im Traum mit dem runden Päckchen, nur dass das hier eckig ist.

Samir Khasholi steht in Schönschrift als Absender drauf, und daneben
ist eine Taube mit langen Wimpern gemalt, die nur von Tania sein kann. Als ich die Lasche abziehe, fällt mir zuerst ein Trikot des HSV in die Hände.
Ich blicke von Sophia in Richtung Fenster und zurück in meine Hände. Meine Trübsal ist völlig von mir abgefallen. Fehlt nur noch, dass die Postbotin das nächste Mal auf dem Dromedar die Briefe austrägt.


Wurfwinkel

Was ist die wichtigste Entscheidung, die man in seinem Leben treffen muss?
– der Wurfwinkel


Nachwort #5

Orgiastische Momentaufnahmen – die Gedanken im Türspalt eingeklemmt. Durchgequalmte Nächte, versoffene Szenen. Glück Auf! #5 lebt, die KLW lebt wie nie zuvor!

Kurz zuvor: Mit dem Unterboden schon an der Abbruchkante gekratzt; filmreife Kamerafahrten. Tick tick … dem Untergang nahe. Dann: Der weiße Ritter auf seinem edlen Pferd – ausgelutscht, was Neues muss her! Der Ritter – Sechstagebart, Filzhut, Second-hand-Trenchcoat in oliv. Das Pferd – Eine Kiste Wein samt Schreibflug. Der Habitusforscher biss sich die Zähne aus. Ausblende … Einblende: Detonation, Deflagration. Geigen im Stakkato. Der Wagen wieder waagerecht,

Motor noch intakt, Achsen ungebrochen am Rotieren. Blick auf die Rückbank: Ein neuer Passagier; Fahrt in den Sonnenuntergang.

Sie haben es erraten: Dies soll das Nachwort sein! Sie fragen sich, wann der Film in die Kinos kommt? Sie haben ihn gerade gelesen, auf den letzten knapp 38 Seiten. Die Szenen sind authentisch, sie spielen sich zwischen den Zeilen ab – wie so vieles anderes Essenzielles. Worte werden schließlich nicht von alleine zu schwarzen Dreckflecken auf unschuldig weißem Papier. Um Cicero zu zitieren: „Am Ende mögen dort Bücher sein, am Anfang war das Chaos.“ – Chaos ohne Theorie. Flaschen voll Sliwowitz später, offene Gesellschaft hinter blau-weiß-blauer Tür, der Preuße mit gedachter Pickelhaube. Die Ausgabe wurde gezimmert, eine Satzung, eine Grundsatzdebatte. Blaue Einsatzlichter, schwarze Kripo-Limousinen, Totschlag, Schusswechsel – das nur für die Epik, nicht die Realität. In dieser: Der beginnende Ausverkauf. Verlag, Business, Vorstandsbeteiligung. Milliarden unterschlagen auf Panama-Banken; Baupläne für Karibikvillen; Insiderhandel; Leerverkäufe.

„Gibt es Hoffnung? Wie überall und zu jeder Zeit da, wo Kinder sind.“ – Cicero. Juhu, Hoffnung! Die KLW hatte nun ihre Jugendweihe, einen weiteren Schritt zum vollwertigen Gesellschaftsmitglied. Bleiben Sie dabei, bleiben Sie neugierig, literarisch! Und schicken Sie noch Ihre Geschenke, wenn noch nicht geschehen. In der zweiten Interpretationsebene:

Seien Sie unsere Kinder! Kommt zu Papa und Mama, Abwasch haben wir genug zu erledigen. Jede Beteiligung macht das Haus voller, interessanter, lebendig(er)! Posten gibt es, Spielraum in alle Richtungen. Und zum Abschluss an die Enttäuschten, Desillusionierten: Denen von euch, die jetzt in der Küche stehen und wie wild Zwiebeln schneiden, nur damit sie ungesehen weinen können, sage ich: Ruft an, wann’s Essen fertig ist. Auf Staatskosten ist’s am schönsten, doch auf Nacken von Privatleuten esse ich nicht weniger gerne.

In diesem Sinne: Bleibt dabei, und kommt dazu. Erzählt allen von der KLW – wenn ihr uns Scheiße fandet, oder meinetwegen auch gut. Schickt Briefe und Brandsteine. Sträuße und Schinken bitte nur nach Absprache.

Dank den Autoren! Dank an die Redaktion und die, die sich dafür hielten. Dank an die Kauzen-Brauerei. Dank jedem, der sich nicht zu fein ist.

Mit schwachem Herz, kaputter Schulter und leerem Verstand,

der Adjutant

PS: Einen Lifehack zum Abschluss: Auf langen Zugfahrten Salzstangen knabbern um keine Maske aufhaben zu müssen.