Ausgabe 07

  • 01/07/2021

HINWEIS: IN DIESER ONLINE-AUSGABE BEFINDEN SICH NUR TEXTE DER RUBRIK „FREIER TEIL“. FÜR DEN GENUSS EINER VOLLSTÄNDIGEN AUSGABE KONTAKTIEREN SIE UNS PER MAIL (autorenseelsorge@literatur-wuerzburg.de) ODER BESTELLEN SIE EIN EXEMPLAR AUF liberladen.org.

FÜR IHR LEBEN (UND EIN WENIG ZUR AUSGABE) … Eigentlich wollte ich hier mit einer intellektuellen Hasstirade beginnen, auf hohem und subtilen Niveau mit denen abrechnen, die mich an meinem Tisch unter meiner Gastfreundschaft dumm von der Seite herabbeleidigen, die den guten Leuten und engagierten Projekten permanent Steine in den Weg legen und andere klein machen müssen, weil sie selbst mikrig sind und unfähig, überhaupt für ihr eigenes Leben die Verantwortung zu tragen.

— Aber drauf geschissen. Ich möchte Ihnen raten, werte Leserin, werter Leser, geben Sie nichts auf die kleinkarierten und neidischen Reden derjenigen, die an Ihnen und Ihren Projekten zweifeln, umgeben Sie Sich mit den Leuten, die Sie hochziehen – nicht mit denen, die Sie zu sich herunterholen müssen, um ihre eigene Unfähigkeit und Begrenztheit ertragen zu können. Glauben Sie selbst an Ihre Projekte, glauben Sie an Sich und scheuen Sie Sich nicht, einen Weg zu gehen, den niemand versteht – ein Pionier ist niemand, der unter dem Beifall der Massen über asphaltierte Alleen dahinrollt.

Was ich Ihnen aber auch raten möchte – und wenn Sie das nicht beherzigen, sind Sie auch nicht wesentlich besser als die oben beschriebenen –: Gehen Sie den langen Weg! Es gibt keine Abkürzungen, man kann nicht 50 Jahre Arbeit, Kampf und Niederlage überspringen und gleich reich und weise auf der Veranda sitzen und kubanische Zigarren rauchen. Mein Lieblingsausspruch – in der Form habe ich ihn von Feuchtwanger – stammt aus dem Talmud, wenn Sie einmal eine Mail von mir bekommen haben, dann haben Sie ihn schon im Fuß gelesen: »Es ist uns aufgetragen, am Werk zu arbeiten, aber es ist uns nicht gegeben, es zu vollenden.« – Wir müssen einsehen, dass wir uns nie anmaßen dürfen, uns am Ziel zu sehen und uns stärker zurückzulehnen, als es Geist und Körper hin und wieder brauchen. Denn ja, natürlich gibt es Zeiten, bloß zu denken und dahinzutreiben, genau wie es Zeiten gibt, zu reden. Hauptsächlich aber ist es mehr denn je die Zeit, die Fresse zu halten und ranzuklotzen – Mögen Sie es noch direkter ausgedrückt, habe ich nur noch Reichskanzler Bismarck für Sie: »Für die Jugend habe ich nur drei Worte als Ratschlag: Arbeite, arbeite, arbeite.«

Gehen Sie also raus und nehmen die Axt und hacken einen Festmeter Holz. Und dann setzen Sie Sich an den Computer und fangen an, zu schreiben. Das Schreiben ist die schwerste aller Arbeiten, weil niemand es braucht, außer das Innerste des Menschen – und um dieses dumm zu berieseln wurden nach und nach Methoden wie Instagram, 9GAG und die BILD erfunden.

Schirach – Sie mögen sein Zeug mögen oder auch nicht – hat völlig Recht, wenn er sagt, dass es zum Schreiben keine Abkürzung gibt, dass es keinen Trick gibt außer den, sich jeden Tag vor die Schreibmaschine zu setzen und zu schreiben, jeden Tag, 50 Jahre lang. Sie dürfen dabei auch an Sich und an der Welt und erst Recht an Gott und dem Menschen zweifeln, nur an einem sollten Sie nie zweifeln: am Schreiben selbst! Schreiben Sie also, Leben Sie, seien Sie eine positive Veränderung.

Nun doch noch wenigstens ein Wort zur Ausgabe: Nehmen Sie die Texte, nehmen Sie bitte nur das Gute mit heraus, das Erbauliche, denken Sie an die freiheitlich-demokratische Grundordnung, denken Sie an den Humanismus. Suchen Sie die Worte, die verbinden – nicht die, die trennen. Mein Dank und meine Hochachtung gelten Anton Ehrmanntraut für den grandiosen Satz; ein Lob schulde ich Götz und Hart, ihre Texte seien Ihnen besonders empfohlen. Denken Sie einmal über sie nach; genau wie über die Kolumne, diesen – so der Autor höchstselbst – »moralische[n] Tritt in die Fresse«. Und eines noch bitte: Lassen Sie die Finger vom Alkohol, nicht heute Abend – er hat nie irgendetwas erbaut – und auch von dem ganzen Zuckerwasser, das macht nur fett und krank. Trinken Sie Wasser (wie Ziegler) oder Kaffee (wie Schirach) oder Rotbusch-Tee (wie ich). Schauen Sie heute Abend noch einen guten Gangsterfilm (einen in dem die Männer noch Fedoras tragen und Autos noch unsynchronisierte Getriebe haben, ich kann Ihnen »Die Unbestechlichen« von 1987 sehr ans Herz legen) und Morgen gehen Sie wieder an die Arbeit; so wie ich es gleich tue, wenn das hier geschrieben ist. In 50 Jahren sprechen wir uns wieder – außer ich fahre vorher schon auf drei Wochen nach Davos ins Sanatorium.

Herzlich,
Ihr weißer, privilegierter cis-Mann vom Dienst

PS: Wenn Sie jetzt doch noch die Geschichte hören wollen, wie diese Ausgabe an einer bunten, verschwitzten Tafel; in einem Schmelztiegel von Alkohol, zu großen Egos, wirren Texten und zu viel Rauch auf die Welt kam und in einigen Wochen harter Arbeit aus Lesen, Korrigieren, Schreiben loop Korrigieren, Schreiben loop … erwachsen wurde, dann kommen Sie doch in der Redaktion vorbei, besuchen Sie uns am Schreibtisch, wo wir über Kopf in den Papieren vergraben sind. Wir nehmen uns die Zeit für Sie, den Moment des Denkens und Redens, bevor es wieder mit voller Kraft weitergeht … Vielleicht verstehen Sie dann etwas besser, was und wie viel hier drin steckt.


Ausharren

Wasser ist klar,
Wein ist wahr.
Drum trink ich lieber Wein
und lass das Wasser sein.
Der Klare ist das Wahre
und deshalb trink ich Klare
um mir den Schein zu wahren
und den Convent auszuharren.

Das Elixier des Lebens
trinkt man nicht vergebens,
und trinkt man also nicht
wird man auch nicht dicht.


Bewusstsein

Das Wort Biodiversität sollte darin vorkommen, denkt er, während die Spülung den Rest Erbrochenes von letzter Nacht verschwinden lässt. Aus den Augen aus dem Sinn. Mit einem dreifachen Espresso und einem Schluck Hafermilch setzt er sich an den Schreibtisch.
Die Worte Monokultur und Anthropozän sollten auch darin vorkommen, denkt er. Selbst die zweite Aspirin lässt ihn die Alkoholschäden von letzter Nacht nicht ignorieren. Sein Schädel eine knisternde Kugel,in die irgendjemand einen gewaltigen Stahlbohrer rammt, während der Schriftsteller nach einem Aufhänger für seinen Essay zum Umweltschutz sucht. Er braucht einen kritischen Blickwinkel. Etwas Revolutionäres.
Umweltbewusstsein lässt sich mit mahnendem Zeige- oder wütendem Mittelfinger erzeugen, doch sucht der Autor nicht nach Wiederholungen alter Abziehbilder. Jede Geste, jeder Hinweis auf Artensterben, Abschmelzen der Polkappen, globale Erderwärmung oder einen drohenden Systemkollaps …, all das ist so leer wie das christliche Symbol des Kreuzes. Tausendfach genutzt, dogmatisiert, ironisiert, entironisiert, mit Metaebenen und Karikaturen versetzt, verwissenschaftlicht, popularisiert oder durch waghalsige Aktionen irrer Aktivisten ausgebeutet, bis nichts mehr von der ursprünglichen Aussage übriggeblieben ist.
Der gute Wille, der zur Pflicht wird.
Das Bewusstsein, das zur Floskel abwetzt. Ablasshandel mit Bioprodukten und recycelbaren Waffen. Umweltschonender Suizid. All das will er nicht befürworten. Was er will, während er Ritalinkapseln mit grünem Tee runterspült, um aus den Tiefen seiner Seele die Ressource der Kreativität zu schöpfen, ist eine Idee. Eine Idee, die nicht in leerem Symbolismus und Moralaposteln endet. Er will etwas schreiben, dass die Handlungen der Menschen verändert, nicht nur ihren Blickwinkel. In der Mittagssonne greift er zum ersten Bier. Aufgedreht von Koffein und Amphetaminen, zerkaut der Mann sich die Lippe, spuckt blutige Fäden in Taschentücher und hat noch immer keine Idee geschöpft.
Der Ausdruck biologische Diversität sollte vorkommen, denkt er. Das Bier so kühl im Rachen, er vergisst fast, dass es Gift ist. Rauchschwaden wabern durchs Arbeitszimmer, filtern Sonne und Sauerstoff. Und natürlich kennt er die Bilder auf den Zigarettenpackungen. Die verformten Embryos und karzinogenen Lungen. Doch er raucht und trinkt bloß für den höheren Zweck, seine Kreativität zu befreien. Immerhin ist das
hier ein altruistisches Vorhaben. Es geht nicht um ihn, sondern um die Welt. Später wird niemand seinen Lebensstil kritisieren. Nein!
Sie werden ihm gratulieren. Für sein scharfes Auge, seine moralische Haltung und Tapferkeit. Er allein wird sich gegen Tyrannei und Egozentrik des kapitalistischen Materialismus bäumen und die Welt retten. Ein Denkmal werden sie ihm bauen. Natürlich wird er die Statue bescheiden ablehnen.
Und natürlich werden sie die Statue dennoch errichten.
Nur noch ein Bier, nur noch eine Zigarette, dann wird das notwendige Übel seine Kraft entfalten und seine Finger über die Tastatur gleiten lassen, die richtigen Buchstaben finden und den Kollaps des Ökosystems verhindern.
Am Abend fragte er sich, wieso der Kauf von Unmengen an Plastik sich nicht anfühlt wie Massenvernichtung. Die Zigarette verlässt mittlerweile nur zu Gunsten von Alkohol seine Lippen. Wie ein Taucher an der Sauerstoffflasche hängt, saugt er an den Stängeln. Kohlenstoffdioxidgehalt und nuklearer Abfall sollten darin vorkommen, denkt er. Die Heizung auf 5, Gardinen zugezogen, kippt der Schriftsteller einen Korn nach dem nächsten rein. Es geht nicht um Wissen, denkt er. Es geht um Spüren.
Und wenn er nur noch einen Kurzen trinkt, wird die Idee kommen. Das spürt er genau! Wissen hält ihn nicht davon ab, Unmengen an Plastik zu kaufen! Es verleiht bloß ein schlechtes Gewissen beim Kauf. Gänzlich auf seine Intuition vertrauend, ist er sicher, ein letzter Korn wird die bahnbrechende Idee hervorzaubern. Alles in ihm verlangt danach.
Und mit schlechtem Gewissen zu saufen, ändert schließlich auch nichts an den Tatsachen.
In der Nacht stolpert er durch sein Arbeitszimmer, schreit den Laptop an, auf dem das leere Dokument ihn bösartig anfunkelt. Diese blanke, aggressive Leere. Auf dem Fernseher flimmern Zeichentrickfiguren, die sich gegenseitig kaputt schlagen und dabei doch keinen Schaden erlangen. Nackenschmerzen vom Trinken, Objekte, die vor den Augen verschwimmen; fehlt noch immer jede Spur von der Idee.
Etwas später, den Kopf auf Porzellan gebettet, visualisiert er sich selbst, wie er seinen weltverändernden Essay schreibt, wie er den Pulitzer Preis erhält und den Friedensnobelpreis. Umweltbegeisterte Unterwäschemodels, die ihn in – mit Ökostrom betriebene
– Fünf-Sterne-Hotels verschleppen. Doktoranden, die sich vor ihm verneigen, gigantische Firmen, die mit ihm kollaborieren, virale Hashtags, Biografien und Dokumentationen über sein Leben.
Er, der eine Retter der Menschheit.
Der glimmende Zigarettenstängel fällt ihm aus den trockenen Lippen, als ein Schwall Erbrochenes sich aus den Untiefen seines Innersten emporpumpt. Die Kotze verteilt sich in der Toilettenschüssel, als wäre es das erste Mal. Seine großartige Idee, in all ihrer sinnlich wahrnehmbaren Realität, vor ihm ausgebreitet und entfaltet. In all ihrer stinkenden, dampfenden Fülle.
Wie eine lebende Ruine hängt er über seinem Erbrochenen, Tränen in den Augen, Säure im Rachen, Speichelfäden am Kinn. Immerhin, denkt er, hat er keinen von diesen Essays geschrieben, wie sie alle anderen verfassen. Diese heuchlerischen Gutmenschen, die sich leerer Floskeln bedienen, um Aufmerksamkeit zu generieren. Nein. Er selbst bleibt für immer ein stures, wildes Stück Leben.
Die Natur lässt sich nicht domestizieren. Aber Bewusstsein sollte vorkommen.


Briefe schreiben, jemand weint davon

Sie war schon einmal ausgegangen, sich den Georges Pompidou ansehen. Umgeschnallt, umgelegt waren: Bauchtasche, ein Fotoapparat, Schlinge um den Hals, der Apparat baumelte so vor der Brust; ein dünnes Langärmeliges für den Schatten im Spätsommer, um die Hüften. Er wusste nicht mehr, wann sie gesagt hatte, sie würde nun ausgehen und nicht wissen, wann sie zurückkehren würde – es sei seine letzte Chance mitzukommen.

Hölle, es war jetzt drei Uhr Nachmittag, als er aus dem Bett rollte, und warm im Hochhaus. Er schritt ans Fenster und zündete sich eine an. Seine Hände und Füße wurden schwitzig, als er aus dem 15. Stock nach unten sah, auf den kleinen Pflasterweg, der die Platte umschloss. Der abgerauchte Stummel flog.

Die Parkanlage am Ende der steigenden Straße lag im kühlen Halbschatten der untergehenden Sonne; die Kinder aus den Banlieues hatten mit dem Kicken aufgehört, würden Essen, was auf den Tisch kam und träumten von Ligue 1.

»Sieh nur, es ist ganz still. Ligue Un ist vorbei.« – »Ligue Un? Was meinst Du?«

»Möchtest Du noch Weißen?«

Sie bejahte, er half ihr nach und füllte ihren Plastikbecher. Er nahm selbst einen Schluck.

»Das Einzige, das so komisch still ist, bist Du. Du lenkst ab von irgendetwas, und es ist sicher nichts Gutes.« Er lächelte schwach.

»Mach Dir keine Sorgen – ich bin gerade einfach nicht gut drauf.« – »Nicht gut drauf? Das hier ist gerade der Ort um gut drauf zu sein«, und mit einer kleinen Pause, »ich weiß nicht, was Dir fehlt.«

»Ich auch nicht.«

Er schmierte sich eine Scheibe weißen Toasts mit Marmelade, während er den vorgestrigen Dialog rekapitulierte. Weshalb hatte sie nichts bemerkt? Wobei, das hatte sie ja, doch: weshalb hatte sie nicht tiefer gebohrt ? Und wieso ist alles so teuer in Frankreich?

Keine Hühnerbrust, dafür Obst und Gemüse; eine Packung Toast, eine Stange Weißbrot, Käse und Marmelade, einmal Wein, einmal Sangria im Tetra Pakken und eine Flasche Brause. Er nippte am Glas vom Vorabend, spülte einmal durch beide Backen, schluckte; nahm die Brause und füllte bis oben auf, trank nochmal.

Er traute sich nicht recht durch diese fremde Wohnung, stand verloren um den Tisch im Zimmer, welches sie für vier Tage angemietet hatten; blickte auf das am Boden liegende Leinlaken, in Wein getunkt. Er wusste nicht mehr, ob es beim Raufen oder beim Ficken gewesen war: jedenfalls waren sie aus dem Bett gestürzt, hatten die Nachttischlampe samt offener Weinflasche und dem als Sichtschutz gedachten Laken mit in die Tiefe des Teppichbodens genommen, der war so flauschig fluffig geraten wie Lammwiesen. Die Scherben der Lampe hatten sie ins Laken gewickelt.

Nachdem er, kurz im Badezimmer, seine Haare zu einem klebrigen, spraybetonierten, nach hinten gekämmten Klotz geformt hatte, fielen seine Augen, zurück im Wohnraum, auf seinen Brief an sie. Dann stand er im Aufzug nach unten.

»Ließ bitte diesen Brief.« – »Wo gehst Du hin?« – »Ich bin unten.«

Er saß auf der niedrigen Mauer vor der Wohnanlage, gegen das schwarze Zaungitter gelehnt. Schwarze Frauen zogen hin und her, an ihm vorbei. Sie sahen aus, als würden sie klarkommen. Wärme schlug auf. Übernächtigt schnürte es ihm das liebe Atembalg zu, es passierte hinter seinen Rippen nicht viel.

Käfer krabbelten den Gehsteig entlang, und es nahm ihn wunder – er saß so bestimmt schon eine Viertelstunde – dass das Hochhaus noch nicht implodiert war oder von einer anderen Dimension verschlungen; er wartete auf ein Beben, erntete hingegen zittrige Luft. Obschon, falls es menschenmöglich sei, Epizentren zu erzeugen, ganz aus sich heraus, sie in ihren pinken Turnschuhen am ehesten dazu fähig gewesen wäre. Sie stand vor ihm, rot ihre Augen.
»KANNST DU MIR MAL ERKLÄREN WAS DIESE SCHEISSE SOLL?!«

Er machte sich darauf gefasst, auf offener Straße geschlagen zu werden.

 


CHIT CHAT

“Assistance is needed.”
“What?”
“Assistance is needed to understand.”
“Understand what exactly?”
“What we are doing here.”
“I just came to have a drink, it’s not that complicated.”
“Are you having a good time?”
“Well, I … I don’t know. I guess?”
“You should know if you’re having a good time.”
“I just wanted some drinks after work, I don’t even know you!” “So you’re not having a good time?”
“You’re kind of bumming me out, mate!”
“That’s life.”


Dünnes Eis

Ich spüre den brüchigen Boden unter uns,
sag, hörst du das auch?
Das knackende Eis,
die Vorboten der Zeit.
Ich sehe Risse,
wie Adern pulsierend.
Sehe durchs Eis hindurch,
für den Abgrund bereit.
Sag, war es das, was du sahst,
bevor uns der Boden brach,
damals im Schatten,
der Rastlosigkeit.
Sahst du bereits die Triebe,
die sich vereinten, uns zu holen,
spürtest du sie vibrieren,
während ich noch von uns sprach.
Spieltest du die Musik,
am Rande des Sees,
während ich noch träumte
und so wenig verstand.
Das Eis viel zu dünn,
es wird alles Glas klar.
Heute, nicht gestern.
Beim Neuen, wohlwahr.
Diesmal kann ich es hören,
diesmal spiele ich die Musik,
doch jemand will sich nicht dran stören,
bis das Eis sich verbiegt,
bis auch das Neue versiegt.

Einige Anagrammgedichte

Alternative fuer Deutschland

All dein taufeuchter Verstand
staut nicht den Verfall, da Reue
natuerlich verfault. Endet das
verfluchte Aal-Sardinen-Duett
in Lavendelschutt? Fade Trauer!

C’est la vie? Nur der untadelhaft
alte Freund lauscht Neid, Vater.
Die Natur verschlaeft den Laut,
das Landtuch veraltet in Feuer.

Vertuscht Adel fatal Urnen? Die
deutschen Ratten auf der Villa
verdauen alle das Futter nicht.

Veraltet die Schuld? Rannte auf
Feudal-Teer Alternativschund?

Retter? Nein, du Schuft, Lava-Adel!

Was ich dir noch sagen wollte

Ich wollte dir noch was sagen.
Was? Ich wollte dir sagen: Noch
nie roch ich Sand. Wo Weltglas
lag, weiss ich noch. Landworte
nagten wild, also schwoer’ ich
Gaswolle. Doch eins war nicht
gewollt – ich. Oder? Ach, Sinn! Was
wog alter Schwachsinn? O Leid …

Das wollte ich noch sagen: Wir
sind nicht wach. Wo lose Lager
schaendlich Signalworte, wo
lila Dichter schon »wow!« sagen,
da ist – weh! – ein Sargloch. Clown
schwoll irgendwie an, Tachos
lasen ironisch. Welt, wag doch
wortlogische Dachs-Lawinen!


Ewig gestrig #3

Dieser Text ist eine Fortführung aus den Ausgaben #5 und #6, auch online abrufbar auf literatur-wuerzburg.de.

Kopfschüttelnd – nicht weil die Welt so schlecht ist oder die Zukunft so prekär, sondern der Mensch so fragil – bewegen wir uns von dem Stamm flussaufwärts zu einem steinernen Flussbett.

Eiskaltes Bergwasser umfasst unsere nackten, kreidebleichen Füße. Geröll bohrt sich tief in unsere Fußsohlen, so tief, dass mir ist, als hätte es nie etwas Weicheres gegeben, Geschmeidigeres zu meinen Füßen gelegen. Nun gilt es, das hüfthohe Gewässer zu durchqueren.

Für mich ist die Strömung nicht abschätzbar. Das ist sie nie. Knöchel und Knie versinken. Schlussendlich der ganze Körper – taucht ein, wird wieder an die Oberfläche geschwemmt. Aber es regt sich nichts – nicht mehr. Wie der Käfer auf dem Rücken, der Käfer unter dem Canapé. Es verliert. Weil weder das ist, was ist. Noch das ist, was war, weiß ich das, was wird. Er ist er und ich. Sie bleibt sie.

Synchronschwimmen

Und wenn es das gegeben hätte, dass er nackt in Sandalen durch den Wald springt, sich niederlässt auf totem Gehölz und auf seiner Mundharmonika spielt. Und wenn er heute noch dort leben würde, wo das Zelt stand und sie sich auf die Suche nach Feuerholz begab und in einem Wald nur das fand, dass ihm zu bleiben schien.

Ich kreise und ist es nicht das einzig Richtige?
Ich treibe und bin fassungslos.
Entferne mich Stück um Stück von Malice. Auch wenn wir die nasse Kleidung an Aststummeln zum Trocknen aufhängen und glauben, dass der Ort uns gehört und wir alleine sind, weil die Leute sagten, dass der Ort gefährlich ist, und wir dabei vergessen, dass es gesagt wird.

Ein von Amtsgnaden abgesegneter Besuch des Bundeswehrorchesters im Garten. Die Bundeswehr kommt, vernahmen die Alten. Schießt mich. Nehmt mich. Hand aufs Herz. Mit einer musikalischen Darbietung »The old men washing dishes«-Blues rechnete niemand. Nun stehen sie da, seht sie an. Stehen da, wo sich das Laub überholt und alte Männer mit Säuglingen an der Brust nichts tun. Stehen da und musizieren. Warum? Felsenfest und stark ist euer Gott. Hab ihn selig und euch auch! Und ufftata ufftata
dum dum tschaka tschaka uff. Wir winken ab. Unseren Frieden wollten wir, den Frieden über den sie sagen, man findet ihn sowieso nicht. Suchen soll man erst gar nicht. Finden wollten wir den. Und jetzt stehen wir da und ufftata ufftata – nichts als Lärmbelastung.

Da kann man doch nicht einfach liegen bleiben. Stellen an denen das Wasser nicht allzu hoch, Strömungen nicht allzu stark und Chancen an denen das Ufer nah ist – greifen nach dem, was in der Hand zerrinnt und im Kopf versinkt. Man möge lebendig fleischlos werden oder die Extremitäten an die Vogelnestschaukel gefesselt sehen und nach schneller schreien. Nur so schnell, dass man vergisst, was für sich selbst schnell erscheint.

Tage hätte es gegeben, da wären Bäume noch Brücken gewesen, Nächte kalt und die Heizung in-das-Feuer-gelegte-Steine im Schlafsack. Und wenn du dann nie sagtest, dass du dieses Licht noch nie gesehen hast, dann hättest du es gesehen, denn du hast sie gesehen.

Peter von nebenan, der steht immer noch. Hand aufs Herz und blüh im Glanze. Passt zu seiner Glatze, der Flachwichser. Und Sonntag in aller Herrgottsfrühe lässt der die Anne zum Rommé spielen kommen, dass es keiner merkt. Alle machen sie das, was sie sich selbst sonst nie zutrauten. Alle spazieren sie zum Frühstückswagen, schleichen sie, um Namenskärtchen auf den Tabletts auszutauschen. Spucken sich das Abgehustete, das sich im Laufe der Nacht ansammelte, gegenseitig ins Essen. Die Verhältnisse sind so. Wer schreit was anderes? Wer weiß etwas anderes? Nichts, nichts, sagt ja keiner was. Ist ja alles ruhig. Wie lange noch? Sie schlafen ja Tag und Nacht. Nur nicht wenn die Musik an ist und Sonntags in der Herrgottsfrühe nicht.

Und sie sahen uns. Halbnackt wie die Alpensäue und ich verspreche ja, es lebte sich gut.

Ich griff nach Steinen – mehr nicht – und sah Malice verwunderten Blick, dass ich mal damit aufhören sollte, denn der Wasserfall war ja auch nicht mehr allzu weit.

Wir sind alle froh, dass wir mittelfristig kompostierbar sind, da sind wir uns alle einig. Der Peter sagt ja auch, er möchte einfach nur in Frieden einschlafen. Wir alle kämpfen unsere Kämpfe. Bleibst du länger unter uns, frage deinen Genotyp um Entschuldigung. Aber diese Musik und der Mecha-Kuckuck, die Judith Deborah Rakers-Pfaff, so unsäglich, wie sie es schreien »schaffe, schaffe Häusle baue« und der Genitiv auf Papier und im Sprech. Was ist mit uns? Unsäglich. Der nächtliche Gang auf Toilette. Flatulenz – der flatus vocis der Ungenierten. Auf dem Gang treffen wir zusammen, nicken, verschwinden. Schlagen Duden auf, suchen nach dem Säglichen – finden es nicht. Hinzunehmen, nicken, verschwinden.

– in der Mitte des Tiefen: ein Friede



Herr Peters ist nicht so einer

Herr Peters hat heute keinen guten Tag. Es fängt schon beim Aufwachen an. Er hat die Augen noch nicht einmal ganz geöffnet, schon will er sie wieder schließen. An Aufstehen ist erst einmal nicht zu denken. Seine Nerven sind von allem strapaziert, obwohl ihm heute noch garnichts passiert ist – außer die Augen zu öffnen. Womöglich liegt ja darin das Problem. Er hätte die Augen geschlossen lassen sollen, dann hätte ihn dieser Tag in Frieden gelassen und alles wäre in Ordnung gewesen. Nun ja, jetzt ist das Kind schon in den Brunnen gefallen.
Was für ein Brunnen eigentlich? Was ist das denn für ein blödes Sprichwort? Herr Peters merkt flammende Wut in sich aufsteigen. Wer lässt denn bitte ein Kind in einen Brunnen fallen? Was für Menschen sind das? Und es reicht ja nicht, ein Kind so zu quälen, NEIN, es muss ja auch noch ein Sprichwort daraus gemacht werden. Herr Peters hasst die deutsche Sprache an diesem frühen Morgen aus ganzem Herzen. Eine Sprache, die so etwas produziert, kann ja nichts sein!So liegt er in seinem Bett, außer Augen öffnen ist noch nichts passiert, und trotzdem hat Herr Peters keine Lust mehr. Langsam fühlt er die Wut abebben und freut sich vorsichtig. Doch die Freude ist nur von kurzer Dauer, denn die Wut wird durch Niedergeschlagenheit abgelöst. Fast wie bei einem Staffellauf. Herr Peters versteht sich und die Welt nicht mehr. Im einen Moment grundlos wütend, jetzt komplett niedergeschlagen. Im Gegensatz zur flammenden, brennenden Wut fühlt er sich nun schwer, bleiern und kraftlos. Über ihn legt sich eine schwere, dunkle Glocke, die ihm die Luft nimmt. Herr Peters ist zu keinem klaren Gedanken fähig. Er kann sich nicht einmal mehr über den Wechsel der Gefühle wundern. Ihm erscheint jegliche Gefühlsregung zu viel, zu anstrengend zu sein. Alleine an das Aufstehen zu denken, ist ein Ding der Unmöglichkeit.
Herr Peters liegt also wie paralysiert in seinem Bett und starrt an die Decke, an der er die Unebenheiten auf der Tapete zählt. Mehr geht nicht. So liegt er eine nicht benennbare Zeit in seinem Bett. Die Zeit fühlt sich wie eine Ewigkeit an, urplötzlich wird die Glocke durchbrochen. Langsam verschwindet der Druck von seiner Brust, das Atmen fällt ihm wieder leichter. Doch das Verschwinden der Glocke bringt keine Besserung, im Gegenteil. Die Möglichkeit wieder Gedanken zu fassen, führt nicht, wie erhofft, zu positiveren Bildern. Die neu gewonnene Gedankenfreiheit mündet in Selbstzweifeln. Wie kann er nur so faul sein? Nicht einmal aufstehen schafft er. Ist doch klar, dass es ihm dann schlecht geht. Ist einzig und allein seine Schuld. Schließlich ist Aufstehen nichts Kompliziertes. Das hat er schon verdient, jetzt hier zu liegen und sich schlecht zu fühlen. So liegt er dort in seinem Bett und hasst sich selbst. Das hat ja alles angefangen, als er sich so sinnbefreit über die deutsche Sprache aufgeregt hat. In diesem Zustand verbringt er die folgenden Stunden. Seine Gedanken kreisen immer wieder um die gleichen Themen und Herr Peters zerfließt in Selbsthass und -zweifeln. Ein lautes Geräusch reißt ihn aus dieser Endlosschleife. Nun fängt er an, über dieses Geräusch zu grübeln. Was war das? Für einen Gegenstand, der herunterfällt, war es zu dumpf. Vielleicht ein Nagel der in die Wand geschlagen wurde? Diese Überlegung verfolgt ihn weitere Stunden, bis sie von extremer Trauer abgelöst wird. Herr Peters meint, den ganzen Schmerz der Welt fühlen zu können. Diese Trauer fühlt sich an, wie ein Schwarm Piranhas, der in seinem Magen wütet. Er versteht die Welt nicht mehr. So etwas haben andere, aber er ist doch nicht so einer! Er ist doch normal. So einer nicht. Herr Peters kann gar nicht wirklich gedanklich erfassen, was mit ihm passiert, was dieser Zustand ist. Denn es ist kein Gefühl,es ist ein Zustand der seelischen Aufruhr. Er kämpft noch bis spät in die Nacht mit diesem Zustand, bis er schließlich erschöpft in einen unruhigen, von Albträumen geplagten Schlaf fällt. Aber Herr Peters ist nicht so einer.


Human Frame

Früher teilten wir Wissen,
heute bloß Stille und Distanz.
Frage mich nicht mehr, wie es dir geht,
weil ich vergesse, dass es dich gab.
Ich glaube, du hattest keine Augenfarbe,
sonst würde ich mich daran erinnern.
Auch kannst du nicht besonders groß gewesen sein,
das hätte ich mir gemerkt.
Wahrscheinlich fehlte dein Geruch,
er würde mir sonst hier und da begegnen.
Die Textur deiner Hände,
gibt mir große Rätsel auf.
Nicht einmal die Beugung deiner Kniekehlen,
erscheint mir bekannt.
Wahrlich, es muss dich nie gegeben haben.
Es kann dich nie gegeben haben.

Und doch erinnere ich dich sagen, ich wolle es dunkler haben,
also löschten wir die Flammen.
Wir brachten uns um den Schein des Lichtes,
bis nichts mehr übrig war.

Ich mochte die Wärme, erzitterte vor Feuer,
ich glaube, dir war es zu heiß.
»If you are the dealer, I’m out of the game« – L. C.
Keiner heilte den anderen,
that would have been insane.

Also war es doch nicht nichts, war da einer?

Einer unter vielen, oder viele so wie Einer.


Küche #3

Küchenphilosophie in drei Zeilen – die Rubrik für faule Leser*innen und motivierte
Denker*innen. In dieser Ausgabe: Affirmation

Wer schweigt,

bejaht.


Löwenherz

»Ich hätte besser auf die Herdplatte gespritzt, dann hätte es nur einmal gestunken.«, sagte er zu ihr und nahm ihr in einem Moment alles, woran sie immer geglaubt hatte. Alles, was ihr Dasein bis dahin ausgemacht hatte, ihren Mut und ihren Stolz. Alles, was ein Vater seiner Tochter niemals nehmen sollte.

Seine Worte schnitten so tief in ihr Fleisch, dass selbst die Zeit die Narben bis heute nicht verblassen lassen konnte.

Das war der Moment, in dem aus ihrem Vater ein Erzeuger wurde.

Für D.


Ich hab’ doch nur!
Und wollte doch nicht …
Es war ein Missgeschick,
niemals keine Absicht!

Nun ist es geschehen.
Jemand muss bezahlen.
Lehrgeld an das Leben,
für die Hybris Qualen.

So bekommt jeder
was seiner Bildung dient,
doch nie mehr als das,
was er sicher verdient.

Die Strafe ist also gerecht,
bedeutet niemals Untergang.
Höchstens zehn Jahre Lagerhaft –
sind auch nur Augenblicke lang.

Das Gericht schafft die Gerechtigkeit,
spricht gerechtem Zorn seine Bahn,
propagiert aber niemals Rache,
allerhöchstens »Auge um … um Zahn«.


Osternacht

Der Autor bittet explizit um Rückmeldungen zu seinem Gedicht, besonders in Hinblick auf die verschiedensten individuellen Weisen, wie das Gedicht aufgenommen und interpretiert wird. Richten Sie Ihre Empfindungen, Auffassungen, Interpretationen, Ideen … also gerne stellvertretend an die Redaktion.

In meinem Leibe brennt ein Segen,
in meinem Körper wohnt ein Geist,
der umgekehrt – wenn ich ihn töte –
mein Leben auseinanderreißt.

Er spricht zu mir in dumpfen Tönen.
Ich atme leise meine Luft.
Und seine Stimme, die mich fesselt,
ist es, die meinen Namen ruft.

Ich ahne, dass, wenn ich ihm folge,
ich glaube, dass, wenn er befreit,
sich seine Kraft und mein Verlangen
geduldig aneinanderreiht.

Ist meine Angst es, die ihn bindet,
und meine Furcht, die ihn vertreibt?
Klopft seine Faust fest an die Türe,
solange sie verschlossen bleibt?

Ich sehe ihn, wie er sich windet,
in seinem Käfig »Hilfe!« schreit.
Ich höre ihn, wenn er mich bittet
und wenn er fleht um Ehrlichkeit.

Da flimmert es in meiner Seele.
Da sticht es leicht in meiner Brust.
Da hält mich nichts, ihn zu erlösen.
Da spüre ich: »Ich habe Lust.«

Es ist ein Drang, des Feuers Odem.
Es ist ein Wunsch nach Sinnlichkeit.
In seinen Bann mein Herz erheben:
Ergreift er mich, bin ich bereit.


Schrecklich

In der Corona-Atempause des Sommers 2020 besuchen wir mittags in einer Kleinstadt in Thüringen ein Wirtshaus, das damit wirbt, sein Fleisch aus dem Biosphärenreservat der Rhön zu beziehen. Wir warten, zum Glück nicht allzu hungrig, 50 Minuten und bekommen dann die beste Lammkeule seit je aufgetischt. Damit könnte diese Geschichte keine sein, wäre da nicht der Nachbartisch …

Da sitzen zwei Herren, ein rüstiger Rentner mit monströser Honecker-Brille, und ein fünfschrötiger, aufgeschwemmter, etwa sechzigjähriger Mann. Die Rollen sind eindeutig verteilt, der Rentner hört zu und nuckelt gelegentlich an seinem Bier, der andere redet, redet und redet. Und zwar so laut, dass wir und andere nicht umhin können, den Mist mitzubekommen. Es geht ums Essen und Trinken in Ost und West. Meine Dame übt sich in der Kunst des Weghörens und studiert die Landkarte, ich beherrsche diese Kunst leider nicht und muss wie ausgeliefert zuhören. Der Typ kommt aus dem Westen, spricht mit gemäßigtem Ruhrgebietsakzent und hat Verwandtschaft im Osten. Die hatten ja nichts Gescheites zu trinken, außer Radeberger natürlich, aber das gab’s ja nicht überall. Da hat er mit einer Palette DAB aus dem Intershop Abhilfe geschaffen, die Verwandtschaft staunte nicht schlecht. Aber sie waren ganz schnell duhn, weil sie eben so ein gutes starkes Bier nicht gewohnt waren. Und so geht es weiter, bei den Schnäpsen kann er nur den Nordhäuser Doppelkorn gelten lassen, und den Zubrowka aus Polen, aber der Ost-Whisky: Igitt. Also wieder zum Intershop, Racke rauchzart für die Herren und Eckes Edelkirsch für die Damen. Mochten die gerne!

Der Intershop war auch für andere Vergnügungen gut, mit den kleinen Mädchen aus dem Frisiersalon ging er dorthin, die durften sich ein Parfüm aussuchen, und dann ging schon was, Zwinker, Zwinker.

Ist denn keiner hier, der ihm eine aufs Maul gibt? Der Rentner an seinem Tisch ist offenbar schwerhörig und nimmt das Geschnatter nur als Hintergrundrauschen wahr. Nun kommt das Eisbein für den Wessi, er strahlt es an und fragt den Rentner, ob er nichts bestellt habe. »Ich brauch nüscht viel, mir g’nügt’s Bier.«

Gott gab uns nur einen Mund,
Weil zwei Mäuler ungesund.
Mit dem einen Maule schon
Schwätzt zu viel der Erdensohn.
Wenn er doppelmäulig wär,
Fräß und lög er auch noch mehr.
Hat er jetzt das Maul voll Brei,
Muß er schweigen unterdessen,
Hätt er aber Mäuler zwei,
Löge er sogar beim Fressen.

Leider trifft Heinrich Heines Aussage nur auf Brei, nicht aber auf Eisbein zu. Wir hören also mancherlei zur Qualität des vorliegenden Eisbeins (sehr gut, für meine Frau wär das zu viel, schmatz schmatz), zu schon verzehrten Eisbeinen (zahlreiche), zu noch zu verzehrenden Eisbeinen (zahlreiche), zu besonders leckeren Eisbeinen (in Bayern), usw. usw.

Im Kabarett hätte man längst gesagt, das geht so nicht, der trägt viel zu dick auf. But truth is stranger than fiction, es geht also doch. Folgen die Autos. Er arbeitet ja bei der Bundesbahn im Innendienst, nur im schrecklichen Winter 78/79 musste er auch raus, Schnee von den Weichen fegen. Eine gewisse Empörung ob des unerhörten Vorgangs schwingt noch mit. Privat hätte er immer Golf gefahren, vom Golf I bis zum Golf VII heute, keinen ausgelassen. Feine Wagen das. Ihr hattet ja nur … usw.usw. »Sogar unser Benzin roch besser.«

Da wir keine Ohrenlider haben, bezahlen wir, so schnell es geht; auch der Wirt schaut grimmig zum Nebentisch. Am Parkplatz sehen wir neben unserem Wagen einen roten Golf VII mit Wittener Kennzeichen stehen. Die Versuchung war groß, aber nein, wir haben ihn nicht zerkratzt.

 


Stahlspritzer

Ich zog meinen Kopf tief ein, als ich die Türschwelle des unterirdischen Bunkers durchschritt. Ich musste gebückt bleiben, denn die aschgraue Stahlbetondecke war so niedrig wie meine Schultern. Mir war, als könnte ich Gewehrsalven, Bombenexplosionen und Todesschreie hören, ganz leise nur, wie aus weiter Ferne. Bis auf den fahlen Sonnenschein, der durch die schon lange nicht mehr verschließbare Tür schien, gab es keine Lichtquelle. Dunkelheit verhüllte das Ende des Ganges wie ein schwarzer Nebel. Ich vermutete die Anderen tiefer in der Anlage, blieb aber bewusst zurück, um mich noch einen Moment umzuschauen. Draußen vor der Tür, auf einer dünnen Erdschicht über dem Beton, spross das erste frische Frühlingsgras, es zitterte aufgeregt im Wind, als könne es den Sommer kaum erwarten. Gleich darunter war der Beton von Einschusslöchern und Granatsplittern durchsiebt. In manchen Löchern steckte noch das Projektil, nur der schorffarbene Rost verriet, dass das Morden hier bereits lange vorüber war. Vom Türpfosten fehlte ein faustgroßes Stück. Hier war also die Sprengladung explodiert, als man den Bunker gestürmt hatte. Neben der Tür war ein Spalt in der Bunkerwand, gesäumt von zwei Stahlteilen, die Schießscharte. Unser Tourguide meinte, der Schütze hätte großes Pech gehabt und sei von einer Kugel direkt durch den Spalt getroffen worden. Ich blickte von innen
kurz hindurch. Für einen Moment fühlte es sich so an, als würde ich das Schicksal teilen.
Ich hörte Stimmen aus dem Dunkel und folgte ihnen. Drinnen war es feucht, die Luft schwanger von einem schimmligen Geruch. Unvermittelte, eiskalte Tropfen auf meinem Gesicht ließen mich zusammenschrecken. In der Finsternis war es schwer, etwas zu erkennen, erst sehr spät nahm ich den Betonträger wahr, der von meinem Kopf den zu lange verweigerten, schmerzhaften Wegzoll verlangte, indem ich gegen ihn stieß. Ich ertastete auch eine verbarrikadierte Tür zu meiner Rechten. Erst einige vorsichtige Schritte später konnte ich einen Lichtschimmer sehen, aus dem sich langsam ein unförmiges Gebilde herausschälte. Ich kam in einen größeren, kreissegmentförmigen Raum, mit einem weiten, aber dünnen Schlitz als Öffnung zur Außenwelt. Pedro und die anderen beiden Touristen umringten zusammen mit dem Tourguide ein riesiges Panzerabwehrgeschütz, das noch immer bedrohlich Wache hielt über den weiten Strand unter uns, bereit, alles zu vernichten, was den Sand berührt. Ich lauschte für einige Zeit dem britischen Englisch unseres Führers. Meinem Großvater gefiel es nie, dass wir Enkel alle Englisch lernten. Er hatte den Briten nie verziehen, was er in Hamburg erlebt hatte.
Der Hinweis unseres Guides machte mich darauf aufmerksam, dass auch hier ein Geschoss eingeschlagen war und die Bedienmannschaft getötet hatte. In diesem Raum war die Wand erneut von Projektilen wie mit Stahlspritzern übersät. Während die anderen aufmerksam zuhörten, fasziniert die Zerstörungsmaschine betrachteten oder über den Krieg fachsimpelten, als wären sie selbst Generäle, fühlte ich mich schuldig. Es war eine Vergnügungstour durch den neunten Kreis der Hölle, die jetzt erkaltet war. Das Blut war ausgewaschen, die Knochen aufgesammelt; doch der bröckelnde Beton mahnte weiter, litt weiter, starb weiter.
Im nächsten Raum war ein großes Loch in der Decke, das ein Artilleriegeschoss hineingeschlagen hatte. Der Boden darunter wurde von der Natur zurückerobert, Kräuter kämpften sich unerbittlich ihren Weg durch die Betonplatten des Bodens, die langsam aber beständig von ihnen durchbrochen wurden. Der Bunker fiel zum zweiten Mal.
Der Weg ging wieder nach draußen, zurück ins Licht. Ein starker frischer Wind wehte hier, über Orte des Lebens und des Todes gleichermaßen. Der Pfad schlängelte sich um Bombentrichter von der Größe von Geländewagen, ein jeder schien sein Ziel verfehlt zu haben. Die ganze Gegend war vernarbt von ihnen, entstellt wie jene, die von hier zurückgekehrt waren. An der Kante der Klippe gab es nun eine kleine Stahltreppe, die nach Belieben hoch oder runter führte, ein Luxus, den die Gebirgsjäger damals nicht besessen hatten. Während wir hinabstiegen, sah ich in den knochenfarbenen Kreidefelsen zahlreiche mausgraue kleine Bunker, die sich wie Flöhe im Fell eines Bären in das Gestein gesetzt hatten. Viele von ihnen waren zerfallen, zerstört, aufgesprengt. Die Stahlträger im Beton standen merkwürdig verdreht aus dem aufgebrochenen Gestein heraus, fast wie Fontänen aus Blut, die aus großen Wunden strömen wie in billigen Horrorfilmen. Ich fragte mich, wie es gewesen sein musste, in einer dieser kleinen Kabinen auszuharren. Allein gegen einen Sturm, der im Begriff gewesen war, jede Mauer zu durchbrechen und alles mit sich zu reißen – Beton, Fels, Stahl, Matsch, Blut, Leben. Nichts hatte widerstehen können.
Es war merkwürdig still, das Meer war hinter den Horizont verschwunden, die Ebbe hatte es mit sich genommen. Aus dem feinen Strandmatsch, der zurückblieb, hob sich halb versunken eine algenbedeckte Betonstruktur, bestehend aus großen, mit Stahlseilen verbundenen quadratischen Platten, die nun zerbrochen waren und sich weit in das Watt hineinzogen. Ich grübelte einige Zeit, wozu sie gedient haben mögen, während wir über den eigenartig feinen und doch festen Sand darauf zuliefen. Dort angekommen, erläuterte uns Diederik (es stellte sich heraus, er war Niederländer, der einige Zeit in England gelebt hatte) mit vielen Bildern und noch mehr Worten die Geschichte dieses provisorischen Kais, der in rauer See zerstört worden war. Bald schon wurde meine Aufmerksamkeit gestohlen von den vielen weiteren Bunkern, die den Strand und die Felsen säumten und uns quasi umzingelten; alle hatten sie ihre Schießscharten auf genau meine Position gerichtet. Selbst in diesem Zustand hatten die Bunker ihre Stellung nie verlassen, sie kannten keinen Frieden. Ich hingegen kannte nichts anderes. Wäre ich zu einer anderen Zeit geboren, wäre ich dann hier gewesen, als sie noch nicht in Trümmern lagen? Hätte es mich hier durchsiebt, zerfetzt, verbrannt? Oder hätte ich dort heraus getötet? Hätte ich eine Wahl gehabt, hätte ich überlebt, wie sehr hätte ich gelitten?
Neben uns geisterten an diesem noch sehr kalten Tag nur wenige andere Menschen über den Strand. In der Ferne begutachteten einige mysteriöse Gestalten einen kleinen Bunker, sie schienen damit beschäftigt zu sein, wie Geier aus einem Kadaver ein paar Stücke herauszureißen, um ihren Hunger nach Besitz zu stillen. Tiefer im Matsch waren einige Schatzsucher mit ihren Detektoren unterwegs, begierig nach den Kugeln, vor denen sich einst alle gefürchtet hatten.
Diederik beendete seinen Vortrag und gab uns die Gelegenheit, den Strand für einige Zeit selbst zu erkunden. Pedro schlug vor, tiefer in das Watt hineinzulaufen, um den Strand so zu sehen, wie die Soldaten damals bei der Landung. Ich stimmte zu und wir liefen vorbei an der großen Betonstruktur, die bereits so lange versunken war, dass sie nach Austern roch. Während wir voranschritten, zählte Pedro all die Befestigungen auf, die auf dieser Höhe einst den Strand hatten verteidigen sollten: der stählerne Spargel, riesige Stahlkreuze und Minen. Letztere zerfetzen deine Beine in viele kleine Stücke, als wären sie eine Seeschnecke, die ein Kind im Spiel zertritt. Was nimmst du wahr in diesem letzten Augenblick, bevor eine Mine dein Schicksal besiegelt, deinen Unterleib in blutendes Fleisch verwandelt? Den feuchten Sand, der langsam unter dir einsinkt, wie er es auch für mich tat? Vielleicht noch ein letztes Klicken?
Nach einigen hundert Metern hatten wir jeden hinter uns gelassen, die Möwen schwangen sich panisch in die Lüfte, als wir uns näherten, gleich so, als trachteten wir nach ihren Leben. Als unsere Schuhe im Wasser einzusinken drohten und wir das Meer erreicht hatten, drehten wir uns um und blickten zurück. So weit wir den Strand sehen konnten, war er überzogen mit Trümmern und Ruinen hunderter Bunkeranlagen, die sich immer noch stolz der steifen Brise entgegensetzten, die vom Meer aus gegen sie prallte. In nur wenigen Minuten hatten wir eine Strecke zurückgelegt, die einst tausende Leben gekostet hatte. Ich kniete mich nieder und nahm etwas vom Sandschlamm in meine Hand, ließ ihn von der einen Hand zur anderen fließen. Mir war, als hätte er einen Rotstich. Als die letzten Ausläufer einer Welle meine Schuhe umspülten, legten sie die Umrisse eines Objekts frei. Ich entfernte den Matsch und erkannte darin einen weiteren Brocken der Bunker, der bis hierher gespült worden war. Die Zeit hatte es wohl abgenagt, ganz ohne stählerne Waffen. Pedro, der gerade noch gedankenverlorenen in die Ferne starrte, schaute mir neugierig zu. Ich blickte zu ihm auf und murmelte:
»Um ein Stück hiervon herauszuschlagen, wurde zu Zeiten unserer Großeltern ein Meer an Blut vergossen. Ich fühle mich plötzlich dankbar dafür, hier und heute zu leben. Gerade erst spüre ich wirklich, was für ein Privileg wir haben. Lass uns hoffen, dass unser Glück erhalten bleibt, dass es nie wieder so weit kommt, dass die Welt unserer Großeltern nie wieder zurückkehrt.«
Pedro fasste mir auf die Schulter, lächelte leicht und meinte: »Nein. Wir sollten nicht nur hoffen …«


trichtersaufen & entzug

du durchstreifst die shopping malls mit reduziertem widerstand

ein wabernder konsumterrornebel jenseits von objekt & subjekt wartest du auf das anschlagen deiner ausgeworfenen such=raster & gelingt dir der trick wirst du fuer die vage dauer von ein paar minuten gluecklich sein zwischen einladenden akkumulationen lateinamerikanischer artesania & relativ obskuren publikationen ungeschliffener poesie in kleinstauflagen teilweise via eigenverlag aus den verwaisten randbezirken eines offensichtlich faschistoiden literaturbetriebs zum beispiel nervennahrung fuer jene leeren tage an denen du niemanden ertragen moechtest nicht mal dich selbst ja ganz besonders dich selbst nicht & du das implizite leid anderer brauchst um deine eigene existenz wieder aufzuwerten ein ewiger infantilimus gegen den in dieser kultur keinerlei kraut gewachsen zu sein scheint & auch keines waechst solange wir die toten wege unsrer staendigen wettbewerbe inklusive exklusion unsren kriterien nicht entsprechender weiter auf die nadelspitzen der eliten treiben


Wenn Regen fällt

Ein Tropfen im Himmel.
Ein Fluss auf der Erde,
Dass Luft und Leben wieder reiner werde.
Ein Tropfen im Himmel.

Und tausende Boten kommen hernieder.
Die Luft wird rein, die Natur atmet wieder.

Der Wind treibt sie an –
Er ist Diener am Himmel.
Der Mensch kann wieder atmen,
Im Dschungel der Stadt und seinem Gewimmel.

Und tausende Boten kommen hernieder.
Die Luft wird rein, die Natur atmet wieder.

Die Schwere des Wassers zieht sie zur Erde.
So fallen sie, Opfer der Schwerkraft getauft
Und so vollzieht alles seinen Lebenslauf.
Bis die gnädige Sonne sie zieht zu den Wolken – hinauf.

Und tausende Boten kommen hernieder.
Die Luft wird rein, die Natur atmet wieder.

So schließt sich ein Kreis und ein neuer beginnt.
Vom Kind zum reifen Manne und doch wieder zum – Kind?
Und die Erde dreht sich scheinbar immer im Kreis,
Aber genauer gesehen, wer w e i ß


Nachwort #7

Wie aus dieser Zeitschrift auch Literatur wird: eine Zeitschrift spricht für sich selbst.

Töricht die Menschen, die mir huldigen, die gegen mich aufbegehren, die sich an und wegen mir über das Kronendach empor schwingen. Aber das Kronendach lichtet sich. Und wen man dort fliegen oder knien sieht – mit der Bazooka draufgehalten und Wumms. Ich bin nur Literatur.

›Aufblende‹
Redaktionssitzung zu Ausgabe 7 – 01. 05. 2021:

Gestundete Zeit – poröses Sitzfleisch beginnt zu jucken. Im aufgeheizten Raum rinnt ein Tropfen entlang einer beleibten Furche. Körperausdünstungen männlicher Mehrheiten fluoreszieren wabernd.

Redaktionsmitglied1:
„Also ich frage mich schon wie das zusammenpasst? Also die Zeitschrift, die in ihrer Politik und Struktur schon anarchistisch daher kommt und diese Räumlichkeiten hier. Das ist doch schon ein Widerspruch, oder?“

Redaktionsmitglied2: „ANARCHISTISCH?!“ ›Abblende‹

Ich möchte auf Augenhöhe in Händen gehalten werden, auf durchschnittlichen Schößen noch durchschnittlicherer Menschen gewälzt werden, gerollt in Gesäßtaschen alter Herren neben die aktuelle Ausgabe der lokalen Dorfzeitung geschnallt werden. Wartend auf die Chance, auf den Sprung auf nackten Asphalt, um mich in Ecken verwaister Straßen zu beweisen. Die Nicht-Zugehörigkeit macht mich zugehörig in einem Kunst-, Kultur- und Literaturbetrieb in dem die Zugehörigkeit – aufgezwungen oder nicht – über die Teilhabe entscheidet. Ich sammle kein Bärlauch, kein Holunder in little berlin. Ich trinke kein Meter-Bier, kein Bierjunge.

Auf meiner Regenbogenflagge, die ich nicht habe, prangert keine QAnon- Symbolik. Ich bin all das. Ich bin nur Literatur.

– Die Zeitschrift

In der Hoffnung, dass meine Literatur auch dieses Mal erneut unterhalten, Zeit und böse Geister vertrieben und angestoßen hat. Liebe Leser:innen, bleiben Sie recht gesund.