Das hässliche Entlein #8

„Die Frau lacht dieses heißere Lachen, das sich so anhört, als
ob es weh tun würde und auch kein Lachen ist, sondern eher ein
Husten mit Grinsen. Sie nimmt einen Schluck aus ihrer verbeulten
Bierdose und sieht sich im Fenster an. Sie lächelt und schiebt sich
eine fettige Strähne hinter ihr Ohr und posiert im grauen Licht des
Spätherbstes. Ihre Augen funkeln.“

Anmerkung der Redaktion: Was ist noch zu sagen, außer die für sich stehenden Worte? In Michel Müllers „Hässliches Entlein“ wird Leser:in ohnehin auch konfrontiert mit den für die Außenseiter:innen bestimmten Blicken, die so oft nicht existieren wollen.

 

Der Mann auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig scharrt Schottersteinchen vor seinen Füßen zusammen und lässt einen dicken Spuckfladen darauf nieder. Er zieht tief und wütend an seiner Filterzigarette, die sich kaum von der vergilbten Haut seiner Hand unterscheidet. Es sieht so aus, als würde er ein Glutmenschchen zwischen Daumen und Zeigefinger zerdrücken wollen. Der Mann hustet, der ganze Körper macht mit und peitscht und beugt sich, fächert sich auf wie eine Ziehharmonika. Der Zug fährt ein. Er bremst und ich mache einen Schritt nach rechts. Da ist eine Tür, ich gehe hindurch und nehme Platz.

›Der Hali hat mir letztens erzählt, also der mit dem Hund, der Kugler is’ nimmer aufgstand’n. Bahnhof vorne, weißt scho’, Ausgang Kö’ Passage, war’er bei den Punkern vorn, hat g’schaut, ob die noch a weng was ham. Aber die war’n alle scho so wech oder immer noch, da hat’er keine Chance g’habt bei denen. Ne, hat’er wirklich net g’habt, aber ich hab’s ihm immer wieder g’sacht, geh’ bis zu die Punker und net weider. Aber dann isser weider, weißt, hat wieder bloß den Nebel im Kopf g’habt, kennst’n ja, da hast halt keine Chance net. Isser an die Russ’n vorbei unten mit ihre Kugeln da zum werfen und roll’n. Der Peter hat a mal welche geklaut von dene, des solltst net machng. Und weil die Russ’n immer ihr pantschtes Zeuch ham, des derfst net anfassen. Die halten des aus, die Russ’n ham da eh an Badscher, was des angeht. Aber des derfst dir net andreh’n lass’n, des packst net. Hab’s auch a mal fast net gepackt, der Tuschi hat mich dann zum Sanka bracht, hat’er selber fast net laufen können.‹

Ich drehe mich zur Stimme hin und sehe eine Frau. Sie trägt eine Bomberjacke, eine ganz alte, aufgetragene mit einem Streichholz in weißem Stick auf der Brust. Sie sieht aus dem Fenster und wippt leicht hin und her. Dann neigt sie ihren Kopf in Richtung ihrer Hände, die sich voneinander lösen und sich öffnen, sie gar fragend ansehen.

›Der Kugler hat aber dann halt doch bei die Russ’n vorbei g’schaut und die ham ihm dann was mitgeb’m, was kleins, weil er nix wollt von dene, a Probierding halt. Isser aber dann, so hat’s der Hali g’sacht, zu die Araber und die Franzosen vor, bei dene weißt halt, dass ma danach net die Hufe hoch macht. Auf’m Weg hat’er nochmal beim Baum dort’n mit der schönen Bank, is eh die schönste wo wir da ham im Graben ne, da hat er dann Pause g’macht. Da ham’sn dann ang’schifft wie er g’schlafen hat. Arschlöcher, da sin’ bloß noch Arschlöcher unterwegs, ich sag’s dir. Schiffen die dem Kugler einfach ins Maul und wie er dann so wach wird und der Kugler is’ ja a Prügel Kerl, der hat früher drüb’m bei ihm daheim immer die Pferde umgschmiss’n, weil ihm langweilig war, isser dene dann hinterher g’rennt, aber die war’n halt schneller, weil der Jüngste isser ja nimmer, der Kugler und hat dann aufgehm.‹

Die Frau lacht dieses heißere Lachen, das sich so anhört, als ob es weh tun würde und auch kein Lachen ist, sondern eher ein Husten mit Grinsen. Sie nimmt einen Schluck aus ihrer verbeulten Bierdose und sieht sich im Fenster an. Sie lächelt und schiebt sich eine fettige Strähne hinter ihr Ohr und posiert im grauen Licht des Spätherbstes. Ihre Augen funkeln.

›Der Kugler war scho’ immer so a klassisches Mannsbild, mit dem hast nie Angst ham brauch’ng, aber der hat mich leider net so wirklich g’mocht, hab’ ich des G’fühl gehabt, verstehst. Immer so an niederen Blick hat’er aufg’setzt, wenn ma halt zusammen ballert ham, aber des hat vielleicht auch was mit seine Eltern zu tun g’habt, die ham nern net so gern g’mocht. Hat vo’ uns keiner verstanden halt, aber so is’ halt amal bei dene g’wesen. Vo’ dene ganzen Kinder, die ich g’habt hab, hätt’ ich des vom Kugler scho gern g’habt, wegen dem hätt’ ich auch aufg’hört, verstehst, aber die ganz’n andern, die war’n vo’ Anfang an verkorkst, bei dene Väter, da hast glei’ g’merkt, die ham böses Blut, die wär’n net glücklich wor’n auf derer Welt. Aber vielleicht sind’s des ja etz, ich weiß ned, von dene hab’ich nix mehr g’hört. Dem Kugler seins hätt’ich behalten. Fei echt, aber der hat sich aufg’ehm.‹

Ein Schatten legt sich über ihr Gesicht und mir wird ganz schwer. Die Luft hat sich verändert. Der Zug bremst und die Schreie der Bahngleise werden immer greller, bis sie mich unaushaltbar vereinnahmen. Der Zug steht und meine Ohren brummen überrascht von der plötzlichen Stille. Die Frau ist eingenickt und das Brummen wird immer lauter.

›Halt dei’ Maul, halt doch dei’ dreggats Maul! Hau ab, ich will dich da nimmer seh’n, du wass’d genau, dass du a Arschloch bist, lass’ den Kugler in Fried’n, ich bring’di um!‹

Wie vom Blitz getroffen reißt die Frau ihre Augen auf. Ihre Bierdose knallt gegen die Lehne des Vordersitzes und fällt zu Boden. Der Spuckrest siecht kriechend aus der aufgeplatzten Mitte. Zwei schnelle Faustschläge folgen der Dose und der Mann, der vor ihr sitzt, steht auf, murmelt etwas und läuft ans andere Ende des Abteils.

›Hast scho’ recht, du Wichser, hau’ ner ab. Alle hau’ns immer ab vo’ mir, aber du bist doch der Grund, warum wir immer noch den Rotz bei die Russ’n hol’n müssen, du verreckter Lackaffe. Du und deine ander’n Anzugträger, ihr habt’s alles kaputt g’macht nach’m Kriech, des ham mir meine Eltern scho’ g’sacht und du wass’d des scho auch ganz genau, aber hauptsach’ du spielst mit.‹

Allmählich entsteht ein Summen im Zugabteil. Wie an einem Frühlingsmorgen im April, wenn der Wind durch das noch junge Geblätt zischt und die Insekten brummend Blumen belagern und sich auf ihnen niederlassen. Mehr Köpfe werden nun abgekapselt von ihren Endgeräten und drehen sich mit interessierter Empörung in ihre Richtung, ohne sie anzusehen. Dieses mit Blicken kaschieren und verurteilen, sie haben es über die Jahre hinweg perfektioniert. Die Frau weint.

›Dann war’er bei die Franzosen und die Araber und hat’si dann eindeckt mit dem Zeuch. Wass’d, gstunk’ng hat’er wie a Betz, ang’schifft, zittert hat’er, ham’s g’sacht. Der Jean, mit dem kannst immer weng quatschen, der spricht weng deutsch, hat’n dann a frisches T-Shirt geben woll’n, aber der Kugler hat net g’mocht, da war’er zu stolz dafür. Der Jean hat’n dann wegg’schickt, dass die Bullerei halt bei dene dann net auf der Matt’n steht und dann ham’s in Kugler auch nimmer g’sehn.‹

Die Frau sieht sich neben sich um, ergreift einen Informationsflyer und putzt sich laut und wütend die Nase.

›Der hat’s dann gleich g’schossn, der Kugler, hat’er immer g’macht, den hast seit fünf Jahr’ net ohne Nebel g’sehn. Wenn der net so a Prügel g’wesen wär, dann hätt’er des Tempo net überlebt, so wie der sich wegg’richtet hat. Ich hätt’ aufg’hört, hätt’i dem sein Kind g’habt, aber der wollt net, hat mich ja net so g’mocht.‹

Die Frau ist in sich zusammengesunken und spricht mit leiser Stimme, während sie weiter langsam vor- und zurückwippt. Die Tränen sind versiegt, nur an den Spuren in ihrem Gesicht sieht man, dass sie geweint hatte. Ihr Blick ist jetzt wieder starr aus dem Fenster gerichtet, als könne sie durch alles hindurchsehen.

›Der Walle hat’n dann es letzte Mal g’sehn, den Kugler, aber der hat ihn halt nimmer g’sehn. Da hat der Walle scho’ g’wusst, dass da was is’ mit’m Kugler, wie er so nach vorn g’stiert is’, so schnell wie’ma halt kann in dem Zustand. Wo er hingeht, hat der Walle den Kugler g’fragt, aber der hat nix g’hört und is immer weider g’loffm und wie’er dann an der Straß’ war, da hat er sich nochmal um’dreht, zum Walle, des mags’d dir net vorstellen. A letzt’s Augenzwinkern hat’er gekriegt, der Walle, aber der hat’s dann auch g’wusst. Scho’ bevor der Kugler dann auf die Straße g’laufm is und si’ von dem LKW hat derfahr’n lassen, scho’ davor hat’er’s gwusst, der Walle. Der Kugler hat’si aufg’ehm.‹

Eine blechern klingende Frauenstimme kündigt den nächsten Halt an, als der Zug schon fast steht. Die Frau erhebt sich, schlurft in Richtung Tür, schaut in meine Richtung, bevor sie den Blick durch das Abteil schweifen lässt. Niemand sagt etwas und alle schauen zu Boden. Die Frau macht auf dem Absatz kehrt und verlässt den Zug.

Ein Alarmsignal ertönt und die Tür verschließt sich mit einem Rumsen. Es ist, als wäre plötzlich wieder Luft im Abteil und ein Schnattern ertönt, vereinzelte erleichterte Lacher sind zu vernehmen. Ich beobachte sie, wie sie sich gegenseitig zusichern, dass sie dazwischen gegangen wären, wenn die Frau noch länger sitzen geblieben wäre, dass man da mal was hätte sagen sollen, am helllichten Tag, unerhört. Ein Jugendlicher persifliert die Frau, begleitet vom treibenden Gelächter seiner Freunde und blickt aufmerksamkeitsheischend über die Gesichter der Anderen. Vereinzeltes zustimmendes Nicken und ein ›Jawohl‹ sind für ihn zufriedenstellende Antwort genug und er setzt sich wieder, klatscht sich mit seinen Freunden ab.

Der Zug hält und ich steige aus. Ich beobachte die Menschen, wie sie sich aufgeregt unterhalten, sich am Alltag ergötzen. Ich bleibe stehen und der Zug zieht sich an mir vorbei. Solange wir so weitermachen wie bisher, denke ich mir, weiß niemand wie wir uns tatsächlich fürchten.

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