Alles, was Peter mir erzählt hat

— 9/11 —

Ich erinnere mich daran, wie ich in der elften Klasse daran ge-
scheitert bin, eine Zwiebelhaut unter dem Mikroskop ordentlich
hinzudrapieren. Hab den Biologieunterricht verflucht damals.
Dann kam Karin die Tür rein. Die war etwas seltsam und kei-
ner nahm sie so richtig ernst in ihrer ganzen Verschrobenheit,
mit ihren fettigen Haaren, dem etwas groben Gesicht, den ir-
ren Augen, den zerschnittenen Unterarmen und allem. Zwei
Flugzeuge wären in New York in das World Trade Center geflo-
gen. Wir haben sie ausgelacht und es als eine ihrer Schrullen
abgetan. Das war vor achtzehn Jahren.

— Auf der Berghütte —

Und heute habe ich den ganzen Tag bei einer Fortbildung
mit meinen Arbeitskollegen auf einer Hütte in den Bergen ver-
bracht. Ich fand nichts lustig, was irgendjemand sagte und fühl-
te mich einsam. Ich war traurig und habe viel Bier getrunken,
während unser Chef Peter rührende Geschichten erzählte, die
er im letzten Jahr bei einem befreundeten schwedischen Bau-
ern in der Gegend zwischen Östersund und Strömsund erlebt
haben wollte.
Alle haben gelacht und gefeixt, weil er so unterhaltsam vor-
tragen kann, aber ich hatte die ganze Zeit Tränen in den Augen
während er redete. Und jetzt kommt es mir so vor, als ob alles,
wirklich alles, unwichtig und lächerlich an diesem Abend gewe-
sen wäre, außer diesen Geschichten.

Überhaupt ist es so: ich lerne die Leute kennen, sehe das Fun-
keln in ihren Augen und dann reden sie immer weiter, und sie
verwandeln sich in leblose leere Hüllen, regelrechte Charakter-
masken. Das ist depressiver, arroganter Scheiß von mir, das weiß
ich schon. Und dann merke ich oft, dass ich selber auch so bin
und habe nur noch Mitleid mit allen, mit mir selbst natur-
gemäß am meisten; und wenn das nicht alles so tragisch wäre,
könnte ich eigentlich auch drüber lachen. Peter hingegen ist
einer der wenigen Menschen, bei denen ich das Gefühl habe,
dass sie sich im Umgang mit anderen Leuten wirklich perma-
nent bücken müssen und nicht strecken, um auf Augenhöhe
zu sein. Wie er da abends so saß, mit seinen halblangen an-
gegrauten Haaren, dem prächtigen Silberbart und den musku-
lösen Unterarmen, die aus dem hochgekrempelten schwarzen
Hemd rausschauten, und wie er mit seiner beruhigenden so-
noren Stimme sprach, da schien er von sich selbst ganz ausge-
füllt zu sein, gar nicht arrogant, keine Maske und ganz frei von
so juvenilen Problemen. Allenfalls eine kleine Kunstpause hat
er sich gegönnt zwischen seinen Storys, dieser völlig entwickel-
te Charakter.

— Die Loreley —

Am brodelnden Fluss liegt er vor den verpissten Ruinen. Sanfte
Brisen wiegen die Zweige und kühlen die schweißnasse Stirn.
Heute stirbt Dennis Hopper und seine Mutter wird in die Psychi-
atrie eingewiesen. Dieses verhinderte Blumenkind hat nie der
Gegenkultur angehört und passt auch sonst nirgends mehr hin.
Gewaltsam haben wohlmeinende Menschen sie vom Absprung
weggezerrt.

An einem dieser brütenden Tage segelte er mit Markus auf
dem Wasser und trieb stromabwärts. Sie hätten kentern oder
von der Polizei verhaftet werden können. Die Mittagssonne ver-
brannte die Haut und ihm war schwindelig. Aber mit jedem
Schluck aus der Bierflasche war ihm das immer mehr egal.

Er lag seitlich, leichtfeuchtes Leinen jetzt kühl und schützend
über seinem Gesicht. Das Sonnenlicht war entzahnt und koste
ihn. Er sah Alligatoren im flachen Wasser lauern. Die leichten
Wellen brandeten gegen den Kiel und erzeugten ein fortwähr-
endes Rauschen, Plätschern und Gurgeln; aus allen Richtung-
en schien das zu kommen. Die Vibration der Schiffsschrauben
machte ihn ganz melancholisch.

Dann fand er sich mit Philosophen am grauen Ufer liegen. Die
Bäume der Böschung, die das Blickfeld säumten, wirkten wie
Scherenschnitte, und über ihren schwarzen Konturen schweb-
ten die Signallichter industrieller Anlagen. So weit vor der Stadt
gab es keine elektrische Beleuchtung für Zivilisten mehr. Der
Boden war schon etwas klamm und Schwärme tropischer Mü-
cken mischten sich in die Atemluft. Der Rauch einer Zigarette
hätte vielleicht Abhilfe schaffen können, aber er fand sein Feu-
erzeug nicht. Aus der Ferne war noch schwach das rötliche
Brodeln der Stadt zu vernehmen. Müde beobachtete er, wie
sich die Lippen der Philosophen lautlos bewegten. Im Blick der
Denker lag ernste Traurigkeit. Ihm schien das ganz passend zu
sein.

Einige Meter entfernt hatte sich ein großer Hund von seiner Lei-
ne gerissen. Er witterte Peters Schwäche und raste mit rasseln-
der Lunge und sabbernden Lefzen auf den schutzlos Liegenden
zu. Die bösen Schweinsaugen des Hundes blitzten im Restlicht
auf und nieder. Erde und Tau spritzten Peter ins Gesicht, als
die Bestie ihre stummeligen Beine in den Boden stemmte um
ihren massigen Leib nur wenige Zentimeter vor ihm zum Still-
stand zu bringen. Schwer atmend und mit klöppelndem Puls
verfolgte er den hektischen Hassreigen, den das Tier knurrend
und keuchend zu seinen Füßen vollführte. Aus den Schatten
der Uferböschung schälte sich die Gestalt eines großen, breit-
schultrigen Mannes. Seine dumpfe Autorität sedierte den Hund
augenblicklich.

Im späten Sommer trieb ihn die flirrende Hitze dann ganz ins
Wasser zurück. Schwarze kantige Steine schnitten sich ihm in
die nackten Füße. Die dürren Beine trugen noch immer sein
halbes Gewicht. Die Kälte nahm ihm die Luft und schrumpfte
sein Glied. Dann kippte er vornüber. Sein Kopf war leicht und
leer, das Gehör vom Gurgeln taub gemacht. Die Sonne musste
irgendwo oben gewesen sein.

Er dachte zurück an jene schwülwarme Julinacht. Die Gesichter
hunderter Menschen glommen im Licht orangefarbener Lam-
pions. Das Rauschen des Festes hatte an Volumen eingebüßt.
Schlaftrunken richtete er sich auf und sah, dass sein Freund Jo-
hannes im Schneidersitz neben ihm saß. Der war ins Gespräch
mit einer jungen Frau vertieft, die Peter vor ein paar Wochen im
Treppenhaus kennengelernt hatte. Sie saß in gerader Haltung
auf der Erde und umschlang ihre Knie. Ihre Beine endlos, die
ebenmäßigen nackten Füße anmutig im Staub. Ihr amazonen-
hafter Leib nur beiläufig in seidige Stoffe gehüllt. Der schwü-
le Sommerwind blies ihr das lange leichte Haar ins Gesicht.
Mit tiefer ruhiger Stimme erzählte sie von ihren Reisen in den
Orient. Bräunliche Frauen badeten da in halb ausgetrockne-
ten Flussbetten und verrichteten ihre archaischen Rituale unter
glutroter Sonne. Grüne Sittiche nisteten in den Nischen nobler
Paläste, und versklavte Elefanten zitterten unter den Schlägen
ihrer schmutzstarrenden Reiter. Am Horizont ragten schlanke
weiße Türme in den Abendhimmel. Die Augen der jungen Frau
leuchteten vor Verzückung.

Nach endlosen Wochen der Dürre entlud sich der Himmel
schließlich. Einen Tag und eine Nacht hindurch fiel der Re-
gen schwer auf die dampfende Erde zurück. Peter hatte sei-
nen Brustkorb bis zur Schmerzgrenze aufgeblasen und hielt
die pollenschwangere Luft in seinen löchrigen Lungenflügeln
fest. Wenige, überraschend kraftvolle Schwimmzüge ließen ihn
schnell zur Gruppe aufschließen. Tatsächlich war er nur eini-
ge Meter zurückgefallen. Die meisten dieser jungen Athleten
waren ihm völlig fremd. Ihre schlanken, harmonisch gewach-
senen Körper glitzerten in den Fluten. Sie kreuzten den Fluss,
der jetzt schwer an ihren Gliedern riss. Entsetzen ergriff ihn,
als er daran dachte, dass die schmierigen Tentakel der Was-
serpflanzen seine schutzlos rudernden Beine berühren könn-
ten. Kranke Weiden ließen ihre Fühler vom sicheren Ufer aus
in die Strömung einwachsen. Die Spitzen ihrer Zweige, die im
gekräuselten Wasser auf und ab tanzten, waren von fauligen
Schlacken überzogen. Sein Atem ging keuchend und die Ar-
me taten ihm weh. Die anderen Schwimmer kletterten agil die
Böschung empor und ließen sich auf den feuchten Steinen dort
nieder. Die junge Frau war ihnen am weitesten vorangeklettert.
Sie hatte das rechte Bein im Sitzen aufgestellt und umfasste mit
der rechten Hand zärtlich ihr Knie. Das andere Bein hatte sie
nach hinten abgewinkelt. Ihr linker Oberschenkel presste sich
auf die Wade. Die kantigen Steine schnitten in ihr nassglänzendes
Fleisch. Verzweifelt suchte er ihren Blick. Ihr Atemfluss ging
schwer und regelmäßig, die nackten Brüste hoben und senkten
sich im Sonnenlicht. Sie hatte den Kopf leicht zur Seite gedreht.
Das Haar fiel als schwerer Schleier über ihre Wange und umfloss
die Schulter, die sie ihm zugewandt hielt. Beinahe unmerklich hob
sie das Kinn. Funkelnde Reflexe umkränzten ihr feuchtes Gesicht.

— Gefangen mit Matt Damon —

Überhaupt war er schon seit Längerem Insasse einer Art Gefängnis,
das von einem älteren, alleinstehenden Mann geführt wurde. Es war
zwar eher ein ziviles Anwesen als ein Gefängnis, aber es war völlig
klar, dass man der Freiheit beraubt und dem mysteriösen Mann, den
er bis dahin noch gar nicht gesehen hatte, völlig ausgeliefert war.

Der amerikanische Schauspieler Matt Damon war ebenfalls ein
Gefangener, allerdings wohl schon seit sehr langer Zeit, denn in
seinem Auftreten wirkte er eher selbst wie ein Wächter, den sein
total ausgeprägtes Stockholm-Syndrom für die Zwecke des äl-
teren Mannes zum idealen Gehilfen machte. So sorgte sich der
Hollywoodstar beinahe liebevoll um Peter, und als er ihn heute
besuchte in seiner halboffenen Zelle, gab er ihm zu verstehen,
dass er sich gut füge, und bald »einmal so« herumlaufen kön-
nen werde. Außerdem, und es schauerte Peter entsetzlich, als
Matt Damon es aussprach, wolle ihn der Mann nun einmal per-
sönlich in Augenschein nehmen. Der Gefangene blickte an sich
herab, angewidert von seinen verschmierten, stinkenden Kla-
motten und der Tatsache, dass er seit Wochen nicht mehr hatte
duschen dürfen. »S… so geht das aber nicht …«, flüsterte er kaum
vernehmbar. Matt Damon zögerte eine Sekunde, dann riss er
die Augen beinahe panisch auf und schrie Peter ins Gesicht,
angetrieben von plötzlichem Eifer und grotesker Beflissenheit:
»Natürlich, natürlich! Du kannst mein T-Shirt anziehen! Es passt
mir zwar etwas besser«, sagte er leicht kokett in Anspielung auf
seinen prächtigen Körperbau, »aber du riechst dann ein biss-
chen nach mir, das wird er mögen!«

Bald darauf kauerte Peter in einem kleinen Bett, das sich im
Winkel eines schrägen Dachgeschosses befand. Es hatte alle
Anmutung eines Kinderbettes, und tatsächlich fühlte er sich
sehr jung. Der Mann kam, und sah selbst auch jünger aus, als
Peter ihn sich in seinen Angstträumen in der Zelle immer vor-
gestellt hatte. Er setzte sich behutsam und in elegante Pose
zu ihm auf das Bett, und sprach sanft und fordernd zugleich
von Dingen, die Peter gar nicht verstand. Und was bis dahin le-
diglich Anspannung gewesen war, wandelte sich jetzt zu Ent-
setzen, als der Mann in plötzlicher Bewegung ein schmales
Teppichmesser mit einem Griff aus grünem, billig wirkendem
Plastik zückte und begann, dem schwer atmenden Peter ober-
flächlich und wie beiläufig rautenförmige Schnitte am Unter-
arm zuzufügen, den er mit der freien Hand fest fixiert hielt. In
Panik wollte Peter sich befreien, doch sofort schnitt der Mann
so tief in seinen Arm ein, dass Blut hervorquoll und es stechend
schmerzte. Er herrschte ihn dabei in einem Tonfall an, in dem
überraschend viel väterliche Besorgnis mitschwang:
»Um Himmels Willen, nicht draufdrücken!«

Also ließ Peter ab und es geschehen, und sogleich ritzte der
Mann nurmehr oberflächlich und mit stoischer Ruhe weiter
das Muster in dessen Arm. Die Schmerzen waren nur dumpf,
aber das bohrende Gefühl des Messers in seiner Haut, gepaart
mit dem fernen Empfinden, dass dies alles doch abscheuliches
Unrecht sei, machte ihm die Situation zunehmend unerträg-
lich. Und warum sollte er sich denn nicht wehren gegen den
Mann, der, wenn auch nicht gebrechlich, ihm doch mit Sicher-
heit körperlich unterlegen war? Matt Damon mochte im Zwei-
fel noch gegen ihn zu kehren sein; aber völlig unmöglich schien
es, die Hand gegen den Mann selbst zu erheben. So wurde
seine Stimme piepsig und dünn, als er unter Tränen und völ-
lig sinnlos hervorkrächzte: »Bitte hören Sie auf, so bitte hören
Sie doch auf!« Der Mann aber ignorierte das Flehen, und Peter
verharrte mit weit aufgerissenen Augen in seiner Schockstarre,
während der andere weiterschnitt, und eine tiefe Überzeugung
brach sich in ihnen Bahn, dass für höhere Ziele Opfer gebracht
werden müssen.

— Am Sonntagabend —

Und dass die Sonne jetzt scheint wie im Frühling macht es
noch viel schlimmer. Die dünne Decke reicht nachts bald nicht
mehr aus, und unter den Daunen wird es noch immer zu warm.
Wie am Sonntagabend ist das mit dem plötzlichen Herbst. Da-
mals, als die elegische Melodie der Lindenstraße schon den
Montag angekündigt hat. Einen flauen Magen brachte das im-
mer mit sich, und dumpfen Druck hinter dem Brustbein.

Der Wind, der dir jetzt durch die wilden Locken fährt, ist schon
kühl und man braucht einen Seidenschal auf dem Fahrrad. Du
schaust her wie durch Milchglas, dein Kopf strebt nach mein-
er Hand. Ich will dich halten und wieder im Wasser treiben.
Nachts träume ich, dass du zerläufst, morgens heule ich auf
den dreckigen Dielen und reibe mir Splitter ins Gesicht.