Aus den Gefängnissen

„Ich bin Gefangener in unzähligen Gefängnissen.“, sagte Kant zu einer Ratte, die sich in seine Zelle verirrt hatte. Das Tier stellte sich auf und schaute ihn interessiert an. Oder war es Hunger, was er sah, in den funkelnden Augen? „Werde ich eingeliefert in das eine, und schließt sich gerade erst hinter mir die eisenbeschlagene Tür, fordern sie mich schon in jenem und verlangen laut meine sofortige Überführung. So geht es immerzu, manchmal so schnell, dass Nachricht von meiner neuerlichen Aus- und Einlieferung nicht alle Verantwortlichen erreicht und irgendein Wachmann, der eben noch ruhig vor sich hin summend durch die Gänge schlenderte, plötzlich hektisch den Alarm auslöst, weil er unerwartet eine leere Zelle vorfindet und annimmt, ich sei getürmt.“ Kant lächelte und lehnte sich zurück an eine Mauer. Die Ratte war verschwunden. Vielleicht war sie nie da gewesen.

Er erwachte aus unruhigen Träumen und richtete sich halb auf. Er musste eingeschlafen sein, auf der Pritsche, die ganz erbärmlich knarrte, weil sie alt war und das Holz unter der Feuchtigkeit hier unten gelitten hatte. Irgendwo weit weg war eine schwere Tür ins Schloss gefallen: ein lautes, eisernes Geräusch hallte durch die Gänge der Haftanstalt. Großer Hunger machte sich in ihm bemerkbar. In manchen Gefängnissen, dachte er, gab es verschwenderisch viel zu essen, in manchen anderen gab es zu wenig. Hier, so schien es, gab es gar nichts. Nicht einmal Wasser. Sollte er also das Wasser von den feuchten Wänden ablecken? Das nasse Moos von den Wänden abessen? Die Ratte war wieder da. Es amüsierte Kant, als er dachte, dass er diesmal vielleicht umgekehrt die Ratte hungrig ansah. Sein vierbeiniger Untermieter tänzelte unruhig umher, streckte die Vorderbeinchen hoch und angelte damit in der Luft herum. Kant antwortete der Ratte schließlich: „Nein, nein. Man schlägt mich nicht rundheraus, ist aber auch nicht eben freundlich zu mir, wohl wegen all der Unannehmlichkeiten, die ich notgedrungen verursache, wenn ich von Gefängnis zu Gefängnis weitergegeben werde. Zum Teil sehe ich den Grund dafür auch darin, dass ich ein schlechtes Namensgedächtnis habe und die Gesichter meiner Wächter ständig wechseln. Wie sollte ich eine Beziehung zu ihnen aufbauen? Wie sollte jemand nicht beleidigt sein, wenn er sich morgens beim ersten Kontrolldurchgang als Karl vorstellt und ich ihn abends dann mit August in die Nachtruhe verabschiede?“ Die Ratte schnupperte noch ein wenig die Zellenluft, dann verschwand sie wieder und lies Kant mit seinen Gedanken allein. Es war schon vorgekommen, dass man ihn mitten in der Nacht verfrachtete, während er schlief, und er daher vom neuerlichen Gefängniswechsel nichts mitbekam. Sein Einverständnis brauchte man also kaum. Jetzt lag er gekrümmt auf der Pritsche, hielt sich hungernd den Bauch und wünschte sich nichts sehnlicher als in eine besser unterhaltene Haftanstalt verlegt zu werden. Er träumte von vergangenen Gefängnissen, in denen ihm von freundlichen, penibel gekleideten Wächtern dampfende Teller mit Eintopf serviert wurden. Unter den Gefängnissen, in denen er eingesessen hatte, waren sehr vielfältige Anstalten gewesen.

Kant versuchte es wieder mit dem Nagetier: „Früher waren die Gefängnisse einfacher. Der Status eines Gefangenen war weniger kompliziert, denke ich. Aber was ich alles gesehen habe in meinem erfüllten Leben als Gefangener!“, rief er beinahe aus. „Ich habe die Welt gesehen, wie kein anderer. Nenn mir einen beliebigen Ort und ich erzähle Dir von seinen Gefängnissen. Die höchsten Berge des Himalaya habe ich einst erklommen und mir dabei beinahe die Nase abgefroren, um oben angekommen mehrere Monate in Decken eingehüllt auf dem Sattel eines der dort verbreiteten Yaks zu verbringen. Das Tier fand bald Gefallen an mir und trug mich tagein tagaus treu ergeben von einem Ende des Gipfels zum anderen. Die Pfade, auf denen man dort oben überhaupt gehen kann, noch dazu, wenn man ein Yak unter sich hat, sind sehr schmal. Links und rechts droht der Absturz in einen unabsehbaren Felsspalt. Wenn dann noch ein Mitgefangener oder ein Wächter auf einem Yak in entgegengesetzter Richtung unterwegs ist, sind Konflikte unausweichlich. Meistens aber machen die Yaks das unter sich aus. Ich musste in solchen Situationen nie meine Stimme erheben. Die Tiere gaben ein paar blökende Geräusche von sich und dann entschied sich meist eine der beiden Parteien umzukehren, um den Weg freizugeben. Um mich vor der Kälte zu schützen, war ich in mehrere Lagen der mit kunstvollen Mustern bestickten Decken eingeschlossen, die man aus dieser Region kennt und die gerne an Touristen verkauft werden. Nur konnte ich mich dadurch gar nicht mehr bewegen, nicht einmal meine Arme waren frei. Nur mein Gesicht. Dem Yak war ich ganz und gar ausgeliefert, zu den Mahlzeiten wurde ich von einem vorbeireitenden Wächter mit einem langstieligen Holzlöffel gefüttert, der Kessel mit dem dampfenden Essen schwankte am Sattel des Tieres.

Man muss dazu wissen, und ich hatte das erst nach einigen Wochen gelernt, dass der Sprache der dortigen Gipfeleinheimischen ein Konzept für das Gefängnis in einem europäisch-westlichen Sinn fremd ist. Es sind sehr friedliebende Menschen, die keinen Grund haben, ihre Mitmenschen wegzusperren. Am nächsten kommen sie in ihren Gepflogenheiten unserem Verständnis eines Gefängnisses, wenn sie – viel mehr aus Spaß als ernst gemeint – zum Beispiel einem Kind, das sich ungezogen verhalten hat, damit drohen, es in Decken eingehüllt auf dem Rücken eines Yaks auf den nächsten Gipfel zu schicken! Eine leere Drohung, gewiss, die noch dazu in der Sprache der Bergbewohner einen poetischen Klang besitzt, nicht so meine dem Sinn nach konstruierte Übersetzung. Jedenfalls, um dem dringenden Antrag eines europäischen Gefängnisses auf Überstellung des Gefangenen Kant gerecht werden zu können, und vor allem, um gegenüber den europäischen Kollegen nicht unhöflich zu erscheinen, erinnerte man sich, wie ich später erfuhr, der oben dargestellten kindlichen Schellte und setzte sie für mich, dem europäischen Gefangenen, in die Wirklichkeit um. Denn ein echtes Gefängnis gibt es dort einfach nicht. Wohin also mit mir? Man dachte wohl, wenn ich wirklich etwas verbrochen hätte, dann müsse man mich wie ein ungezogenes Kind behandeln. Also sperrte man mich auf dem Rücken eines Yaks in Decken ein und schickte mich auf den nächsten Gipfel. Die Aussicht dort oben war grenzenlos! Die Nächte gaben den Blick ins Universum frei, auf die Sterne über uns.“