Aus drei Nächten

I. Die Zofe

Du warst die Zofe des Patriarchen. Der Patriarch war klein, fast ganz kahl, und kämmte die letzten Strähnen über. Der Patriarch schlief mit meiner Mutter. Ich hörte das Stöhnen jede Nacht durch die Seidenwand. Das tat weh, aber ich hielt es aus. Dann trug mir jemand zu, dass du auch zu ihm gehen musst. Zudem würde er dich in die Steinwüste schicken, um die Besorgungen der Sklavenmädchen zu machen. Und das bei deiner Verfassung. Da nahm mein Hass überhand.

Ich ging zum Patriarchen und verschaffte meiner Empörung Luft: „Warum mutest du ihr diese Torturen zu, du widerliches Schwein?“ Der Patriarch lächelte milde. Darauf war ich nicht gefasst. Er legte vertrauensvoll den Arm um mich. Er stank aus dem Mund. „Mein Sohn, du musst wissen, das passiert alles auf die Bestrebungen Dagmars hin!“ Und obwohl mir das gewaltig den Wind aus den Segeln nahm, war ich fast sicher, dass er sich diese Dagmar nur ausgedacht hatte.

II. Heute habe ich Personal da

Ich musste mich anders hinlegen, weil mir der Schwanz wehtat. Auf der rechten Seite gings. So hatte ich jetzt auch meinen kleinen Bruder besser im Auge. Der hatte sich auf den Bauch gedreht und schnarchte ein bisschen. Bei kleinen Kindern ist das noch nett. Er schien so tief zu schlafen, wie mir das seit Jahren nicht mehr gelungen war. Ich machte den Fernseher trotzdem ein bisschen leiser, ich wollte auf keinen Fall, dass er mitbekam, was ich mir für einen Trash ansah. Ich griff mir in den Schritt und stöhnte ein bisschen dabei. Nein, das wäre auch zu heikel jetzt. Wochenlang würde er mich auslachen, wenn er mich erwischte. Der Spott war oft seine einzige Waffe gegen mich. Was sollte er auch machen? Ich füllte meine Rolle als defekter Patriarch so gut aus wie ich konnte, aber manchmal vergriff ich mich doch in den Mitteln, und körperlich konnte er noch immer nichts gegen mich ausrichten.

Als er ganz klein gewesen ist, habe ich mir mal einen Wecker auf drei Uhr nachts gestellt und ihn mir direkt unter das Kopfkissen gelegt, so dass nur ich den Alarm hören konnte. Damals haben wir uns noch ein Stockbett geteilt, ich oben, er unten. Das Bett knarzte wie verrückt, egal wie sehr ich mir auch Mühe gab, wie ein Ninja rückwärts die Leiter runterzuklettern. Da lag er auf dem Rücken, ganz weich und rund noch, mit kindlich offenem Mund. Süß sah er aus in seinem weißen Schlafanzug mit den kleinen Clowns drauf.

Neben seinem Gesicht lag ein roter Edelstein, Jaspis hatte die Mutter den glaub ich genannt. Der sollte ihn beruhigen beim Einschlafen (sogar aus dem Hochstuhl war er mal gefallen wegen seinem nervösen Gezappel). Ich hatte kurz an der Decke des Bruders gerochen. Alles ok heute. Dann hatte ich meine Daumen ganz vorsichtig auf die Augenlider des Bruders gelegt und sie hochgedrückt. Die Augäpfel hatten zuckend in den Höhlen rotiert, jeder für sich in unterschiedliche Richtungen.

Überhaupt beklemmend, mit anderen Menschen in einem Mietshaus zu leben, nur durch dünne Wände und alte Holzpforten getrennt, dachte ich mir jetzt. Vom Treppenhaus aus sieht man so gut wie nie Licht von den Wohnungstüren, was machen die Leute dahinter? Und ich muss mir dieses winzige Zimmer mit einem erwachsenen Mann teilen. Ich liebe ihn, natürlich. Aber wenn er immer da ist? Jetzt raffte ich mich halt doch auf, schön würde das nicht werden, schon klar. Aber ich musste jetzt wirklich ins Bad. Das Kichern und Stöhnen von drüben, aus dem kleineren Zimmer nebenan, in dem unsere Mutter lebte, und von dem uns nur eine dünne Durchgangstür trennte, die nicht richtig schloss, ignorieren so gut es geht. Meine staubige Pritsche fühlte sich ausgeleiert an, als ich mich aufsetzte, natürlich hatte ich dem Bruder das bessere Bett überlassen. Ich streifte ihn mit einem beklommenen Blick; er sah aus wie die bessere Ausführung von mir selbst. Jetzt raus aus der knarzenden Tür. Ich stand auf dem weißen Flur, alles ausgeräumt und weiß und karg, da war ich mal stolz drauf. Warum müssen die Leute ihren Scheiß überall liegen lassen? In die Küche mochte ich gar nicht schauen, das bunte Hippiezeug überall.

Ich roch den Mann schon vom Flur aus, ich musste wirklich dringend ins Bad jetzt und sollte mich nicht zum anderen Zimmer hin umdrehen, das wusste ich genau, ging aber nicht. Die Tür war eine Hand breit geöffnet. Auf dem Bett der Mutter lag ein halbwegs gut gebauter Glatzkopf auf der Seite und wimmerte vor Lust. Die Schemen zweier blonder Frauen wichsten ihn ab. Ins Bad, Tür zu, ok. Das Bad ist grün gefliest und relativ sauber. Aber auch hier hatte er seine stinkenden Sachen verteilt. Ich erleichterte mich in das erste der drei grünen Waschbecken, ich ließ das Wasser die ganze Zeit aus dem Hahn rauschen, aber die Fickgeräusche dämpfte es nicht völlig ab. Ich beugte mich weit vor und roch das fettige Salamibrot, das auf der Beckenkante liegengeblieben war. Warum hatte sie nicht wenigstens den Anstand, die Tür zuzumachen?

Ich arbeitete mich zum nächsten Becken durch und wusch meine Unterhose aus, so gut es eben ging. Wieder Jauchzen und Stöhnen von drüben. Mir reichte es jetzt, ich stürmte raus aus dem Bad, wild entschlossen, ihr die Scheißtür vor der Nase zuzuknallen. Aber das war schon besorgt worden, vermutlich von ihm, dem Einzigen hier mit gesundem Menschenverstand. Durch die geschlossene Tür hörte ich jetzt nurmehr gedämpftes Kichern aus dem Zimmer, und, von weiter hinten, eine ganz geschäftsmäßige Stimme obenauf. „Sehe ich genauso …“

Mir schwand alle Farbe aus dem Gesicht und ich musste mich am Türrahmen festhalten. Das konnte gar nicht sein, völlig unmöglich. Was machst du denn hier? Klar, ich hatte deine blauen Pumps schon vorhin auf dem Flur gesehen, aber die standen da ja immer. Ich taumelte zurück in mein Zimmer. Unsere Mutter hatte die Durchgangstür jetzt geöffnet, der Bruder lag zusammengekrümmt in einer heißen Pfütze auf seiner dreckigen Pritsche und wimmerte leise. In ihrem leidlich zurechtgezupften Leoparden-Bodysuit torkelte sie jetzt zu uns herein und lallte: „Tut mir leid, heute habe ich Personal da!“

„Na, das ist ja nichts Neues!“, brabbelte ich resigniert vor mich hin. Ich beachtete meine Mutter auch nicht weiter, ich war dergleichen wirklich gewohnt. Aber der Gedanke daran, dass du hier zusammen mit ihr wildfremde Typen fickst, während ich fest davon überzeugt bin, dass du zuhause krank in deinem Bett liegst; und ich verzehre mich hier nach dir!

Ich kämpfte den Impuls nieder, mich zum Bruder hin in die Pisse zu legen und mit ihm zu weinen. Schließlich war ich fast Vierzig Jahre alt, und von mir wurde erwartet, dass ich Haltung bewahrte.

III. Zur Rechten liegt Hessen

Wie die Jahre voranschritten, fiel es Jonathan zunehmend schwer, nachts aufzustehen. Der zähe Nebel im Kopf, dazu das Brennen in der Stirnhöhle. Unter Leibschneiden richtete er sich auf. Es war kalt, eine Heizung gab es ja nicht, und für gutes Holz, das die ganze Nacht über durchglühen würde, fehlte ihm das Geld. Die nackten Füße auf den splittrigen Dielen, so saß er einen Augenblick lang auf der Bettkante und vergrub sein Gesicht in den Händen. Der Weinkrampf, der ihn jetzt eigentlich durchschütteln sollte, blieb aus, anscheinend wirkten die Tabletten doch allmählich mal.

Der Deutschunterricht finge heute erst zur dritten Stunde an, das war ganz angenehm. Aber lohnte es sich noch? Den Mathe-Stoff der letzten sechs Wochen hatte er versäumt, man konnte das ohne enormen Kraftakt gar nicht mehr aufholen. Die Schulleitung empfahl bei einer solchen Lücke für gewöhnlich, die Jahrgangsstufe zu wiederholen. Und im Hinterkopf immerzu der bohrende Gedanke: Ich habe mein Abitur seit Jahren in der Tasche, wozu sich jeden Tag zur Hauptschule hinquälen? Aber gar nicht mehr in die Schule gehen, das war der Mutter nicht zu vermitteln.

Nach fünf Fehlzündungen startete das alte Hercules-Mofa, das ihm der Onkel in unverständlichem Großmut geschenkt hatte, schließlich doch. Lange hatte er sich für den Lärm mitten in der Nacht geschämt, aber seit ein paar Monaten war ihm das auch egal. Im Standgas und ohne einen Gang einzulegen, rollte er den steilen Hof runter zum Tor, vorbei an den verdorrten Rosenbeeten. Zur Rechten lag Hessen, wohin er musste. Aber das ging heute nicht, vielleicht würde es nie mehr gehen. Also in die andere Richtung. Im Oberdorf fuhr er sehr langsam, mehr um sich selbst zu schonen als den löchrigen Kolben. Als er am Dorfplatz mit der historischen Viehwaage vorbeifuhr, wäre ihm fast ein Lächeln übers Gesicht gehuscht. Wie oft hatte ihn die Dorfjugend ausgelacht, wenn er in der Nacht von Freitag auf Samstag zur Arbeit gefahren ist, während sie alle dort noch rauchend und trinkend auf den spuckestarrenden Bänken rumgelungert hatten, diese Wichser.

Als er das letzte Haus des Dorfes passiert hatte, schaltete er hoch in den Dritten. Das Haus gehörte seinem Großvater. Der hatte das schon fertiggebaut und vier gesunde Kinder gezeugt, als er noch in seinem Alter gewesen war. Jetzt kamen bis Schneppenbach gar keine Lampen mehr, und um diese Uhrzeit begegnete man auch keinem Auto. Rechts rauschte der Fluss, links oben lag schwarzer Wald, da versuchte er nicht hinzuschauen. Das Mofa dröhnte zwischen seinen Beinen. Er wäre gerne immer weiter gefahren.

Das Wummern der Pflastersteine unter den Reifen ließ ihn hochschrecken. So ein Schwachsinn. Als man sich hier zwischen den Käffern noch über schlammige Feldwege mühen musste, bis in die Siebziger hinein, hatten sie in Hanau schon begonnen, den Scheiß wieder aus dem Boden zu reißen. Bald sah er das vergilbte Geschäftswappen seines Lehrbetriebs unter der trüben Laterne leuchten. Die Luft war angenehm und der Geruch, der aus der Backstube auf die Straße strömte, hatte immer etwas Tröstliches gehabt. Seine Absprache mit dem Nachbarn war nie widerrufen worden, und so parkte er das Mofa im Hof gegenüber, direkt vor dem alten Kuhstall. „Hier hilft ein Mengele-Aufzug“, stand da auf einem Schild aus Blech.

Die Gesellen grüßten ihn knapp, als er zum Hintereingang der Backstube hereinkam. Das war nicht immer so gewesen. Mann hatte sich daran gewöhnt, dass er hier aushalf um sein Studium zu finanzieren, und die Männerkonflikte von früher gerieten allmählich in Vergessenheit. Er hatte sich ihnen gegenüber, das musste er irgendwann einsehen, manchmal aufgeführt wie ein Psychopath, und welcher erwachsene Mann konnte es schon auf sich sitzen lassen, von einem Teenager vorgeführt zu werden. Er war jetzt ohnehin meistens am vorderen Ofen zugange, der schon zum alten Teil der Backstube gehörte, bevor der junge Meister den Betrieb hatte modernisieren lassen, da trat man sich nicht auf die Füße. Hier hatte sich in den letzten 30 Jahren kaum etwas verändert, nur die alten Stikkenöfen waren durch moderne Gärunterbrecher ersetzt worden. Die Verkäuferinnen, die um fünf anfangen mussten und allmählich eintrudelten, flirteten mit ihm und hatten auch sonst Besseres zu tun, als sich in die Angelegenheiten der Männer einzumischen. Sie lächelten nett und waren angehalten, den Verkauf anzukurbeln. Die engen Mieder und hochgeschnürten Brüste taten ihr Übriges.

Nach einer knappen Stunde hatte er die alte Backstube komplett aufgeräumt, alle Bleche geputzt, die Industriespülmaschine dreimal befüllt und den Boden gekehrt. Das konnte er alles noch, und es ärgerte ihn, wie schlampig hier sonst gearbeitet wurde, auch, wenn ihn das eigentlich gar nichts mehr anging. Das Gassenhauer-Brot hatte er schon ausgeschossen; er ging von 290 Grad runter auf 180, damit der Plunder nicht verbrannte. Er schwitze und fühlte sich wohl. Ab und an übersah der Chef seine Arbeit, aber eigentlich konnte er machen, was er wollte. Als er hier angefangen hatte, waren die Haare des Meisters noch schwarz gewesen. Jetzt trug er die weißen Strähnen halblang, wie ein alternder Hipster, der den Verstand verloren hatte. „Du siehst glücklich aus, Michael“, sagte er zum Chef, um etwas Konversation zu machen. Auf das „Du“ hatte er zwei Jahre warten müssen, und vor den Gesellen sagte er bis heute „Herr Schickling“. Der einfache Mann grinste betreten, dann lehnte er sich gegen den Ofen und schloss müde die Augen. „Ich sehe das hier eigentlich nicht mehr als Arbeit …“, sagte er, und es war kaum auszumachen, ob das jetzt etwas Positives aussagen sollte oder nicht. Dann ging der Chef zurück ins Büro um seine Partie Solitaire fertig zu spielen.

Er backte den Plunder fertig aus und drapierte die Bleche sorgsam in die Stikkenwägen. Aprikotieren sollte der Lehrling. Noch schnell den Ofen aushudeln und gut. Im Bad setzte er sich aufs Klo und wusch sich notdürftig mit einem alten Handtuch. Im zweiten Lehrjahr war er für ein paar Wochen absichtlich eine halbe Stunde zu früh gekommen, um dort vor der Arbeit zu meditieren und ein paar Kekse zu essen. Irgendwann wurde das dem alten Meister, Roland Schickling, der außer bei den Lehrlingen im Betrieb nichts mehr zu melden hatte, zu bunt. Er hatte gegen die billige IKEA-Tür gehämmert und gebrüllt: „Oben frisst er es rein, unten kommt es wieder raus!“ Darüber war er damals sehr erschrocken und kam fortan pünktlich. Aber jetzt war Roland vom Krebs zerfressen, da konnte er sich ruhig Zeit lassen im Bad. Als er mit waschen fertig war, wechselte er noch ein paar belanglose Worte mit dem drallen Lehrmädchen Jolene, und wollte schon gehen, aber Frau Pflanz, die hier nach wie vor die Bücher besorgte, hielt ihn auf. Er möge sich die Haare schneiden lassen und nicht so finster aus der Wäsche schauen. Das hatte er immer gehasst, wenn die Leute das sagten, sein Gesicht sah halt so aus. Aber Frau Pflanz trug ab und an hohe Schuhe und schwarze Tangas unter ihren hellen Hosen, da hatte er sich bestimmt hundert Mal einen drauf runtergeholt. „Ja, Frau Pflanz, ich bin halt ein trauriger Typ …“. „Na, du bist mir einer!“, lachte sie, und kraulte ihn ein bisschen am Hinterkopf. Er wurde knallrot und spürte, wie ihm das Blut in den Schwanz schoss. „Ich muss jetzt wirklich los, Frau Pflanz …“. „Du kannst jederzeit wieder Vollzeit hier anfangen!“, rief sie ihm hinterher, als er die schmierige Alutür zum Hinterhof aufdrückte.