Der Geist der Nacht

Ich bin der Geist der Nacht, der darauf wartet, dass die Sonne untergeht, damit er endlich auf die Bühne springen kann, um in die erschrockenen Gesichter der Zuschauer dieses Schauspiels zu blicken, das den Namen 21. Jahrhundert trägt. Ich bin das Adrenalin, das durch meine eigenen Adern pumpt und mich antreibt. Mein Blut kocht. Die Haare stehen elektrisiert zu Berge und schreien ihr Lied. Allerdings nur die kleinen Härchen, die niemand sieht. Die auf dem Handrücken und den Schultern. Sie sind so licht, dass man gar nicht bemerkt, dass sie da sind, bis man sie sich abrasiert und feststellt, dass man nichts mehr spürt, wenn man sich warme Luft über die Haut föhnt. Die anderen Haare versuchen, keine unangenehme Aufmerksamkeit zu erregen, während Professor Heise in die fokussierten Gesichter unzähliger Erstsemestler schaut, die sich aus verschiedensten Motivationen zu einem Studium der Informatik entschieden haben Theoretiker, Hardwarebastler, Softwareentwickler, Geldverdiener. Mein Vater sagt, Informatik ist was Vernünftiges und hat Zukunft. Professor Heise fragt, welche Laufzeit der MergeSort-Algorithmus hat, als ich gerade überlege, vergleichende Literatur zu studieren, einfach um meinen Vater zu ärgern. Diesen Plan werfe ich allerdings sofort über den Haufen. Sollte ich meinen Vater wirklich ärgern wollen, würde ich in die Linke eintreten und mich für die Wiedereinführung der Vermögenssteuer stark machen. Die dürre Hand eines Strebers meldet sich und eine unangenehme Schleimerstimme ertönt: „Die Laufzeit des MergeSort-Algorithmus bei einer Eingabe der Länge n liegt in Groß-O von n log n.“ Ich muss die unangenehme Schleimerstimme als die meine identifizieren. Der Geist der Nacht schämt sich zutiefst und verbietet mir für den Rest der Vorlesung jegliche Meldung.

Eigentlich bin ich cool. Das weiß nur keiner und ich bin müde geworden, es zu beweisen. Das wäre auch ein lässiger Spruch, um ihn dem Mädchen zu sagen, das zwei Plätze neben mir sitzt. Sie würde antworten: „Ach, es gibt Beweise?“ Und ich stünde daraufhin auf und, und, und, verdammt, keine Beweise. Mir fällt ohnehin auf, dass das Mädchen strickt. Selbst die Girls unter den Nerds sind Nerds. Könnte man Stricken als sozial-anarchisches Statement werten? Ein halb fertiger Schal, der zugleich stolz und rebellisch „Ich bin anders!“ durch den Hörsaal postuliert? Ich glaube kaum. Wahrscheinlich ist das Mädchen einfach schlecht erzogen und weiß nicht, wie man sich benimmt, wenn man in einem Hörsaal sitzt und es einen Professor gibt, der nicht ignoriert und Studenten, die nicht vom Klackern zweier Stricknadeln abgelenkt werden wollen. Wenn überhaupt dieser halbfertige Schal „Ich bin anders!“ postuliert, dann nicht so, wie James Dean anders war, eher wie John Lennon.

Die dürre Hand eines Strebers erhebt sich, Professor Heise nimmt sie dran. Ich will gerade sagen: „Die da strickt.“, als sich die kleinen Härchen auf meinem Handrücken und Schultern kaum merklich räuspern. Es gibt etwas viel besseres als die Wiedereinführung der Vermögenssteuer. „Ähm, Entschuldigung, hat sich erledigt.“, erklingt wieder die unangenehme Schleimerstimme. Ich lehne mich zu dem Mädchen rüber: „Eigentlich bin ich cool.“ Aber das Mädchen mit dem Ökokomplex beachtet mich gar nicht. Glück gehabt, Vater.

Vierdimensionale Räume kann ich mir schlechter vorstellen als sechsdimensionale Räume. Sterne explodieren. Goldstaub rauscht durch das Schwarz und legt sich auf die Berge. Bist du in Ordnung, James? Wie war die Vorlesung? Erdbeben beben. Berge bersten. Ein Berg birst. Seine gigantischen Brocken rasen durch die Luft und erschlagen alles, was ihnen begegnet. Alles wird erschlagen. Ich fliege durch die Sterne. Ich rase und rase immer schneller. Die Formen um mich herum zerfließen. Ich fliege durch alles hindurch. Ich bin ein Fels. Alles zerschmettert, wenn ich es berühre. Berühre. Ich berühre nicht. Ich zerschmettere. James, bist du in Ordnung? Was ist los? Wie war die Vorlesung? Nichts kann meinen Sturz stoppen. Ich stürze nach vorne. Ich falle, in welche Richtung oder Dimension auch immer. Ich fliege durch das Schwarz. Es bleibt an mir haften. Ich wollte anhalten, doch jetzt muss ich schneller werden. Das Schwarz haftet an meiner Haut. An meiner Seele. Es dringt durch meine Poren. Es ist in meinen Zellen. Es brennt. Der Schmerz zerfrisst mich über das Maß, das ich ertragen kann. Ich will schreien, doch das Schwarz kriecht durch meine Luftröhre und erstickt meinen Atem. Kein Hauch rinnt meinen Hals mehr empor. Was ist los, James? Was ist los?

Wie war die Vorlesung? Mutter zerteilt das Stück Braten auf ihrem Teller. Die Soße bedeckt nicht den Rand des Tellers, kein Tropfen. Die Gabel und Messer hält sie in ihren Fingern, sodass sie ihre Handflächen nicht berühren. Vater würde fragen, wie die Vorlesung war, aber es ist Mutters Aufgabe, mich das zu fragen. Ich sehe ihm in die Augen. Er schaut kalt in die meinen. Auf meinem Tellerrand befindet sich Soße.
Ich stehe auf und verlasse das Zimmer. Es fühlt sich alles wie in Zeitlupe an, aber flüssiger. Als könnte mich nichts davon abhalten. Die Türe zu öffnen, hinauszugehen und sie hinter mir zu schließen. Ich fließe und es fühlt sich gut an, aus dem Zimmer zu fließen. Ich gehe einfach weiter, den viel zu langen Gang entlang. Er ist nicht zu lang, als dass ich ihn nicht hinunterlaufen könnte. Ich öffne die nächste Tür und gehe hinaus in den Winter. Der Winter ist kalt, aber die Luft ist klar. Ich friere in meinem Langarmshirt, doch meine Lungen atmen. Es kommt mir vor, als hätte ich noch nie geatmet. Ich gehe die Treppe hinunter. Meine Haut friert, doch meine Lunge sagt, es ist okay. Tut mir leid, Haut, das muss so sein. Ich laufe die Allee entlang und der Kies knirscht unter meinen Schuhen. Die Bäume links und rechts von mir scheinen nicht zu enden. Ich will die Allee verlassen, doch ich kann nicht nach links und rechts.
Die Bäume enden nicht. Sie enden nicht. Ich dachte, ich habe das Haus verlassen und es wird nun alles gut. Doch die Allee zieht mich in eine Unendlichkeit. Es ist keine gute Unendlichkeit. Ich kenne sie und sie macht mir Angst. Ich will rennen, doch ich beginne zu schweben. Meine Füße verlieren den Boden und der Raum verändert sich. Wie in ein schwarzes Loch werde ich zurückgezogen. Der Raum wird eng und verzerrt. Nur das Haus hinter mir wird immer größer und größer und zerbricht jede Realität wie einen Spiegel. Ich schreie stumm, während sich die Tür wieder öffnet und mich ins Schwarz zieht.

Ich schrecke auf. Ein paar Gesichter drehen sich zu mir herum. Professor Heise fährt monoton fort, monoton zu sein. Das Mädchen neben mir schaut zu mir herüber. Sie sieht mich an, als wüsste sie, dass etwas nicht in Ordnung ist. Ich schaue kurz auf mein Pult, dann wieder zu ihr und ich merke wie ihr Blick mein Herz langsamer werden lässt. „Ich weiß, das klingt vielleicht ein bisschen komisch“, sage ich schließlich leise zu ihr, „aber würdest du mit mir rausgehen?“„Und wohin?“ „Egal.“ Ihre Augen sind besorgt und konzentriert. Sie überlegt kurz und nickt. Als wir den Hörsaal verlassen, habe ich noch ein bisschen Angst, dass ich immer noch träume. Dann schaue ich in die Augen des Mädchens. Sie sind echt. „Und, was machen wir jetzt?“, sie lächelt und ich stehe ein paar Sekunden da und kann nicht antworten.

„Mein Name ist James.“
„Mein Name ist Madeleine.“
„Ich studiere Informatik.“
„Ja“, sie lacht, „das tun wohl die meisten hier.“

Wir schweigen ein paar Sekunden. Es ist kein peinliches Schweigen, eher diese vier, fünf Sekunden, wenn man ausatmet.

„Woran erkennt man einen extrovertierten Informatiker?“, fragt mich Madeleine.
Ich zucke mit den Schultern.
„Er schaut beim Reden auf deine Schuhe und nicht auf seine eigenen.“

Wieder ein paar Sekunden Stille. Es ist keine peinliche Stille, eher diese sieben, acht Sekunden, wenn man etwas entscheidet. Mir fällt ein Tattoo auf Madeleines Arm auf. Es sind lediglich die Worte „This is my poetry“.

„Wofür steht das denn?“, frage ich sie.
„Das ist der Anfang von einem Gedicht, das ein guter Freund von mir geschrieben hat.“, antwortet sie, „Willst du es hören?“
Ich nicke.

„This is my poetry
What am I about to say?
I’m on this stage right now
My feet could start to tremble
These words could break and perish from the day.

Listen, pal – I bet you that they will
Like rotten hay
that’s carried out from only gust
It’ll die away on crumble peat
Maybe another flower
will blossom from this dust

Shout it if it means to you!
These words may waft over some fools
If it means to you then you shout
what from your heart may sprout

Jasmin is the most wonderful on earth
There’s loving kindness in her eyes
Though to you stranger I can’t hide
There’s loving kindness in her eyes“

„Hey Madeleine, was würdest du jetzt am liebsten machen? Ähm. Okay. Das ist jetzt komisch, Entschuldigung. Also, vielen Dank für das hier. Du hast mir echt geholfen. Aber du willst wahrscheinlich auch wieder in die Vorlesung.“
„Ja, so langsam wäre das nicht schlecht.“, Madeleine lächelt, „mach’s gut, James.“
„Oh, eins noch.“
„Ja“
„Deine Augen sind echt.“
Ich glaube, Madeleine hat sich über ihre echten Augen gefreut, als sie sich umdreht. Ich setze mich an einen PC im Computerraum und google „uni würzburg exmatrikulation“. Während der Drucker vor sich hin rödelt, um das Formular auszudrucken, gehe ich zum Getränkeautomaten vor und hole mir eine Cola. Ich fülle das Formular ganz ruhig aus. Nicht, dass ich mir Zeit lasse, um ganz sicher zu sein. Ich bin mir nicht sicher, aber darauf kommt es nicht an. Wenn man Mentos in eine Cola wirft, legt sich unter der Fontäne aus Kaliumbenzoat, Kohlendioxid und Aspartam bestimmt etwas Wunderbares.