Beginnend mit dem Einfall der Sonne wurde der Steinbruch im Sommer strahlend vor Hitze und Helligkeit. Das Geröll brannte, wenn er es berührte, und die Stille sprach vom Tod. Alle Insekten verzogen sich, nichts summte mehr. Nur ein paar Echsen hielten es auf den Steinen aus.
Für ihn bedeutete das, einzupacken, alle Werkzeuge einzusammeln, in den schattigen Wald zu gehen, wo sein Auto stand und den Kofferraum mit seinen Funden zu beladen.
Vor einigen Millionen Jahren war hier ein Riff gewesen, Heimat von Korallen, Fischen, Mollusken und sogar von Zeit zu Zeit vorbeiziehenden Meeressäugern. Dann, mit einem Mal – Stille, die versteinerte. Ein Tsunami, der nicht nur an der Oberfläche sondern auch in den wenigen Metern Tiefe, in denen sich das Riff befand, mit aller Kraft Verwüstung angerichtet hatte. Diese Welle musste so energiegeladen gewesen sein, dass nicht einmal der Wal, dessen große Knochen die Arbeiter des Steinbruchs die Universität hatten rufen lassen, ihr etwas entgegensetzen konnte: Ihn hatte die Welle erfasst und gegen das Riff geschmettert, bevor sie die ganze Verwüstung mit Sand luftdicht überdeckt hatte.
Er fuhr schon seit Wochen hierher und drehte Steine um, bearbeitete größere Brocken mit einem Meißel, brach die hohe Wand des Berges immer weiter auf. Die Wissenschaft war hier fertig, die Arbeiter nie wieder gekommen, das Geröll lag brach: Nun war die Zeit der Sammler und Hobbypaläontologen gekommen, die sich erhofften, von der Wissenschaft Übersehenes, möglichst Spektakuläres zu finden. Bisher hatte er zumindest jedoch kein großes Glück gehabt. Nach einem Gewitter hatte er zwar immer mal wieder etwas gefunden, das ihm die Tage vorher nicht aufgefallen war – der Regen wusch die Meeresbewohner wieder aus ihrem Grab heraus – doch waren auch das immer nur Abdrücke von Muscheln oder schneckenförmige Steinkerne gewesen. Es schien tatsächlich, als hätten die Paläontologen der Universität alles Spannende mitgenommen.
Als er an jenem Tag nach Hause fuhr, war sein Kofferraum beinahe leer. Der schönste Fund war das Skelett einer Koralle, das er daheim ganz aus seinem steinernen Gefängnis befreien wollte. Sonst war der Morgen eher vergebens gewesen.
Er wünschte, er wäre dabei gewesen, als sie den Wal geborgen hatten. Die Überreste des Tieres waren heute im Nationalmuseum ausgestellt, und davor zu stehen gehörte zum Beeindruckendsten, was man hier tun konnte: Das Skelett war beinahe vollständig und von Maulspitze bis Schwanzspitze sechzehn Meter lang, wobei der Kopf allein doppelt so lang war wie ein größerer Mensch hoch. Der ausladenden Kiefer war zahnlos und sah aus wie ein Torbogen.
Auf dem Infotäfelchen zu dem Fossil stand, dass es sich bei dem ausgestellten um das einzig bekannte Exemplar seiner Art handelte und dass es vor zirka sieben Millionen Jahren gelebt hatte. Mehr wusste man nicht.
Wenn er träumte, füllten sich die Leerstellen in seinem Wissens über den Wal auf. Er schwamm durch seltsame Meere, die mal unendlich leer und weit und mal von anderen Wesen bevölkert und von Landschaften durchsetzt waren. Er schwamm, spürte seine kräftigen Flossen das Wasser formen und filterte es mit seinen Barten. Seltsamerweise musste er nie auftauchen, um zu atmen.
Immer liefen diese Träume jedoch Gefahr, zu Albträumen zu werden. Dieser Alb hatte keine Gestalt, sondern war ein Gefühl: Ein Gefühl des Kontrollverlustes über das Wasser, das ihm dann übermächtig erschien und ihn mit sich riss, bis sein Rückgrat an einem Riff zerbrach und er unter Schutt begraben wurde, wonach er zitternd aufwachte, nach Luft schnappend, und leise, um seine Frau nicht zu wecken, aus dem Bett stieg und in den Garten ging, wo ihn die kühle Luft und die Weite des Sternenhimmels zur Ruhe brachten.
Der Prozess des Versteinerns erfüllte ihn mit panischer Angst. Von einer feuchten, luftdichten Masse bedeckt und gepresst zu werden, über zehn-, hunderttausende, Millionen und Milliarden Jahre: Das erfüllte ihn mit einem Gefühl der Machtlosigkeit. Die Fossilisation verhinderte das korrekte tot Sein, weil sie verhinderte, dass nichts von einem blieb. Sie machte, dass für viel länger als vorgesehen Spuren einer Existenz auf dem Planeten blieben. Er wollte nicht, dass Spuren von ihm blieben. Er wollte sich einfach auflösen und verschwinden, sosehr, dass es höchstens eine Generation brauchen würde, bis er völlig vergessen war.
Sein Leben war keines, das Verewigung verdiente. Er, der gerade einmal dreißig Jahre alt war, hatte deshalb schon verfügt, dass er verbrannt und dann, ganz anonym, unter einem Baum bestattet werden sollte. So bliebe mit Sicherheit nichts, das man mit ihm in Verbindung bringen könnte.
Im Garten unter den ewigen Lichtern des Sternenhimmels stehend, dachte er an den Wal im Museum und ihm graute: So ausgestellt, so real, und das nach sieben Millionen Jahren Leblosigkeit.
Dann ging er wieder schlafen.
Irgendwann wollte sein Frau Kinder. Sie hatten schon früher darüber geredet, doch war dieses nun das erste Mal, dass Kinder keine Möglichkeit der fernen Zukunft waren, über die zu reden keine konkreten Aussagen erforderte, sondern zur Tat geschritten werden sollte. Sie sagte, sie wolle welche, und langsam sei es an der Zeit, damit anzufangen, es zu versuchen. Er versuchte, ausweichend zu reagieren, dem Thema seine Dringlichkeit zu nehmen, doch merkte er schnell, dass seit Neuestem für sie Dringlichkeit bestand, die sich nicht einfach so zerstreuen ließ. Er versuchte es mit Floskeln: „Das ist doch Zukunftsmusik!“, „Du willst in diese Welt …!?“, „Dann ist es mit unserer Ruhe vorbei!“. Sie ließ sich nicht davon abbringen, trotzdem sagte er ihr nicht den wahren Grund für seine Unlust Kinder zu zeugen. Er sagte, nachdem seine Floskeln wirkungslos geblieben waren, überhaupt nichts mehr.
In den darauffolgenden Tagen wich er ihr aus, indem er noch mehr Zeit als üblich im Steinbruch verbrachte. Die Körperlichkeit des Steine Auseinanderhauens in der Hitze des Tages und, mit Glück, einige Wesen aus der tödlichen Umarmung des Sediments zu befreien, beruhigte und erschöpfte ihn – erschöpfte ihn so sehr, dass er zuhause, sobald er im Bett lag, einschlief, nur um am nächsten Tag sofort nach dem Aufwachen wieder in den Steinbruch zu fahren.
Trotzdem wachte er manchmal nachts wegen des gestaltlosen Albs auf und ging in den Garten, wo er in den Himmel starrte, der die gleiche Farbe hatte wie der Ozean, durch den er im Schlaf schwamm, ihm aber weit weniger gefährlich erschien. Die Sterne sahen aus wie am Himmel hängen gebliebene Schneeflocken. Und obwohl sie nicht selbst herabkommen konnten, war es doch, als sandten sie hellweiße Kälte.
Er fragte sich, ob diese Unmenge kleiner Sonnen dem Wal bewusst gewesen war.
Eines Morgens fing sie ihn gleich nach dem Aufwachen, als er gerade aus dem Bett steigen wollte, ab. Sie hielt ihn fest, schmiegte sich an ihn, küsste seinen Oberkörper und fasste ihm zwischen die Beine. Erschrocken stieß er sie von sich. Sie sah ihn überrascht an und fragte, was los mit ihm sei. Er sagte, er habe keine Lust und zog sich hastig an, setzte sich ins Auto und fuhr zum Steinbruch, wo er schnell und brutal masturbierte, bis der weiße Schleim auf einen Felsen platschte. Er zog seine Hose wieder hoch und steckte sich eine Zigarette an, während er seinem Ejakulat beim Verdunsten zusah. Nach kurzer Zeit war nichts mehr von ihm übrig. Dann suchte er, bis abends, nach allem, womit sich der Wal seinen Lebensraum geteilt hatte; nach allem, was mit dem Wal untergegangen war. Bevor er wieder heimfuhr, masturbierte er nochmal, dieses Mal langsamer, doch genauso zielführend. Zuhause angekommen entschuldigte er sich bei seiner Frau für sein harsches Verhalten am Morgen und ging mit ihr ins Schlafzimmer. Dort entschuldigte er sich erneut, spielte ihr Scham vor. Sie nahm ihn in den Arm: „Das passiert den besten.“
Am nächsten Tag vereinbarte er einen Termin für eine Vasektomie.