Drei Miniaturen

I. Seil im Ohr

Mir wächst ein Seil aus dem Ohr, ich leide. Ja, sagt mein Arzt, das ist ein Tumor, das Röntgenbild lässt keine Zweifel zu: das Seil wächst direkt aus dem Gehirn, ein Glück, dass es einen Weg aus Ihrem Ohr gefunden hat! Kann man es nicht einfach abschneiden? Nein, meint der Doktor, das wäre fatal. Wie fatal, frage ich. Tödlich fatal, sagt er. Dass ich jetzt auf der einen Seite nicht mehr höre, ist das kleinste Übel. Schon bald hängt das Seil bis zu meinen Schultern hinab und alle starren mich an. Als dann das Seil abfällt, wie eine reife Frucht, hebe ich es auf, hänge es an die Wand und wenn meine neuen Freunde fragen, was das sei, dann sage ich: ein Seil.

II. Der Wächter

Einmal betritt der Wächter meine Zelle mit einem Messer in der Hand. Ich liege noch im Bett, es ist früh am Morgen. Mörder, rufe ich und verstecke mich unter der Decke. Als ich nach einer Weile vorsichtig nach dem Wächter schaue, steht er immer noch da und streckt mir das Messer entgegen. Was soll ich damit, frage ich und nehme das Messer in die Hand. Man will, sagt der Wächter, dass Sie ehrlich werden! Ich frage ihn noch, was er damit meint, aber er schüttelt bloß den Kopf zum Zeichen des Beileids. In der Tür dreht er sich noch einmal kurz um, schüttelt aber wieder nur den Kopf und verlässt die Zelle.

III. Eine Gasse

Ein feiner Herr biegt in eine bepisste Gasse ab. Aus einer Mülltonne schlüpfen zwei Penner. Sie verwuscheln seine Haare, brennen Löcher in seinen Anzug, schmieren Asche in sein Gesicht und reißen ihm zwei Zähne aus. Als sie ihm eine Spritze in den Arm rammen wollen, renne ich auf sie zu, um einzugreifen, doch bei näherem Hinsehen merke ich, dass sie an der Verwandlung alle Spaß zu haben scheinen. Zwar bin ich nicht edel genug, aber dennoch hoffe ich mit jedem Schritt mehr, dass sie mich ebenfalls empfangen werden. Ich rufe: Nehmt mich an, samt Körper und Blut, ich gehöre euch!