Ein paar Monate nachdem ich aus England zurückkam, während ich gerade einen Kaffee kochte, oder auf meinem Handy einen Artikel las, dachte ich einmal an Jay. In England an der Uni hatte ich ein Seminar bei Jay belegt über „Family Memoirs“. Ich dachte an Jay, an sein Gesicht, das Gedrängte seiner Statur, die karierten Hemden und braunen Cordhosen, seine zärtliche Art. Ich rief dieses Bild aus der Erinnerung auf, aber so, als hätte ich in der Zwischenzeit die Augen geschlossen und dabei den Entschluss gefasst, ihn noch einmal zum ersten Mal zu sehen.
Denn jetzt betrachtete ich mein inneres Bild von ihm und dachte, wusste, sagte zu mir selbst: Es ist etwas an ihm, das auch an mir ist, nur spiegelverkehrt.
Seitdem, seitdem ich ihn erkannt habe, suche ich in jedem Gesicht, das ich im Internet sehe, auf Listen von Juries, Mitarbeiter*innen, Gästen, Stipendiat*innen, Redaktionen. Suche nach Zeichen. Nach Momenten in den Gesichtern von Frauen, die anecken, nach dem Unweiblichen im Weiblichen, das die Transgression markiert. Und ich finde sie, finde sie überall, finde in jedem Gesicht eine Lippe, die zu schmal, einen Kiefer, der zu hart, eine Stirn, die zu hoch ist. Sehe, wie auf eine sehr direkte Weise niemand die Vorstellung seines Geschlechts erfüllt, wie alle nur ihre eigene Form der Abweichung sind.
Ich laufe über den Nordfriedhof, während ich an diese Dinge denke. Es hat den ganzen Tag geregnet und ich bin allein zwischen den langsam trocknenden Büschen, den Grabplatten mit Herzchen und Engelfigürchen. Die Soldaten der Roten Ruhr Armee sind nicht aufgetaucht, aber da ist noch die Skulptur einer Frau, zum Gedenken an die Opfer des Grubenunglücks von 1925. Die Leiche eines jungen Mannes liegt ihr zu Füßen, Trauer hat ihr Gesicht verzerrt, ihre Züge sind so spitz, dass man sich an ihnen schneiden könnte.
Und hinter den Bäumen ragt der Hammerkopf der Zeche Minister Stein über den Stadtteil hinweg. Er ist immer da, immer zu sehen, als hätte er sich im Himmel verkantet, hat er alles im Blick, der Hammerkopf. Er könnte fallen, denke ich, fallen wie ein Urteil, das gesprochen wird.
Er ist die Garantie an die Arbeiter*innen, dass die Arbeit nie ganz aufhört, dass ihre Körper nie ganz ihnen gehören.
Ich habe angefangen, Jay eine Mail zu schreiben. Ich schreibe Jay, Ich war ein erasmus student from dortmund, ich schreibe Jay, ich hatte viele Dinge noch nicht verstanden, die ich jetzt zu sehen beginne, ich schreibe Jay, ich benutze jetzt she/her pronouns ich schreibe Jay, dass ich nicht weiß, warum ich Jay schreibe.
Die Medizin sagt mir, wie ich mich über meinen Körper fühle, sie sagt, und legt dabei die Hände in Falten, dass ich unter Geschlechtsdysphorie leide. Ich schaue die Medizin an, sie nickt mir verständnisvoll zu. Geschlechtsdysphorie, das haben Leute normalerweise nicht, ich verstehe, normalerweise haben Leute Geschlechtseuphorie, ich nicke zurück. Aber in den Gesichtern der Leute, in denen vieles zu sehen ist, kann ich keine Euphorie erkennen. Vielleicht sollte ich die Medizin fragen, hier auf dem Friedhof ist ja niemand, Entschuldigung, aber, würde ich einsetzen, wie euphorisch sind Sie denn über Ihr Geschlecht?
Ich setze mich auf eine Bank, die Zeche liegt mir im Rücken. Ich schaffe es, sie für einen Moment zu vergessen und denke an die Dinge, die ich jetzt zu sehen beginne, das heißt, die Kanten, die jetzt überall hervorragen, wo sonst glatte, runde Flächen waren. Und an die Hormontherapie. Daran, dass sie schenken, aber nicht ungeschehen machen kann. Geben, aber nicht nehmen.
Sie gibt Haare, aber nimmt keine. Sie gibt Brüste, aber nimmt sie nicht. Sie bricht deine Stimme, aber kann sie nicht zusammen fügen. Sie gibt dir die Erfahrung, auf der Straße beleidigt zu werden, auf der Straße Komplimente zu bekommen, aber nimmt dir nicht die Mauer im Hof deiner Kindheit, gegen die du immer und immer wieder den Ball geschossen hast.
Ich hole mein Handy raus, ich habe eine SMS von meiner Mutter. Sie schreibt: Hoppy ist tot.
Dieter „Hoppy“ Kurat führte nach seiner aktiven Karriere eine Kneipe in Holzwickede, an der Grenze zu Dortmund, in der Nähe des Flughafens. Ich besuchte ihn in dieser Kneipe, für ein Schulprojekt, ein Buch mit dem Titel „Fußballlegenden aus dem Ruhrgebiet“. Ich war 13, ich hatte Fragen vorbereitet, sie waren chronologisch an seiner Biographie, seiner Karriere orientiert.
In meiner Erinnerung sitze ich mit ihm an einem massiven Holztisch, die Kneipe war noch geschlossen, Tageslicht fiel herein. Ich habe mit einem Tonbandgerät alles auf eine kleine Kassette aufgenommen und meine Mutter hat mir später mit dem Transkribieren geholfen. Das ist alles.
Aber jetzt berührt mich der Kitsch, wenn ich daran denke, wie Hoppy erzählt hat, dass sie als Kinder die Trümmer vom Platz räumten, bevor sie spielten, wie sie versuchten, die Fläche wieder zu glätten, manchmal stelle ich mir auch vor, dass sie um die Trümmer herum gedribbelt sind. Das war bevor er beim BVB spielte, beim FC Merkur, in der Nordstadt, dessen Platz ich jeden Tag, wenn ich an der Lortzingstraße aus der Straßenbahn aussteige hinter dem Netto sehen kann.
Hoppy hatte eine Erinnerungswand in seiner Kneipe, die Kneipe heißt, jetzt fällt es mir wieder ein, Hoppys Treff, und die Wand war voller SchwarzWeißFotos, Zeitungsartikel und bunter Wimpel von Vereinen aus ganz Europa. Wir saßen am Ende des Interviews vor dieser Wand und machten ein Foto und Hoppy legte seinen Arm um mich und ich meinen Arm um Hoppy, diese männliche Geste des füreinander Einstehens, wie sie die Mannschaften vor dem Spiel manchmal aufführten, aber sie schien nicht ganz zu funktionieren, unsere Körper waren so unterschiedlich, sein Körper alt und breit und meiner schmal und verunsichert. Aber wir machten das Foto, obwohl es uns nur halb gelang, unsere Körper mit den Armen zu verschränken, und ich nahm es mit in mein Buch. Auch gegen meinen Großvater hatte Hoppy gespielt. „Der hatte ein Motto“ sagte er mir. „Gewinnen oder Blut am Pfosten“.
Im Sport gehört unser Körper uns und tut, was wir ihm sagen. Wir führen den Ball eng am Fuß und lassen mit einer Körpertäuschung die spitz zulaufenden Stollen des Verteidigers ins Leere grätschen. Und da ist keine Vorstellung von Geschlecht, die wir nie einholen können; wir, der Ball und unser Körper sind eins. So dribbeln wir zwischen den Trümmern.
Wieder Zuhause mache ich mir einen Kaffee, oder lese einen Artikel, lese von trans Schülerinnen, die gesetzlich verpflichtet sind, am Sportunterricht für Jungs teilzunehmen. Dies könnte in Zukunft mit sogenannten „Genitalkontrollen“ sichergestellt werden. Als Begründung werden „Sicherheitsbedenken“ angegeben.
Ich schließe alle Tabs und öffne den Entwurf meiner Mail an Jay. Lieber Jay, schreibe ich, kennst du Jay Hulme? Er ist Lyriker und schreibt viel bei Twitter über mittelalterliche Kathedralen. Sein Interesse für diese alten Gebäude begründete er einmal damit, dass ihre Architektur ihn an die Körper von trans Menschen erinnert, ihre verschiedenen Teile, aus verschiedenen Epochen, in verschiedenen Stilen, aus denen sich eine Gegenwart zusammensetzt, die von niemals beabsichtigter Schönheit ist.
Dieser Gedanke von Hulme hat mich daran erinnert, dass ich mich schon immer für das Sichverändern von Orten interessiert habe. Anders: Wenn ich sage, ein Ort sei schön, oder laut, oder komisch, dann setze ich immer eine Grundexistenz von Ort voraus, die Welt wäre dann eine Ansammlung von Orten, die einfach da sind. Dabei sind sie erst geworden, und waren so wie sie heute sind niemals vorhersehbar. Noch anders: Orte sind nicht wie Körper, Orte können verschwinden. Als ich aus Leeds wiederkam, war ich bei einer Wohnungsbesichtigung in der Nähe der Westfalenhütte, einer ehemaligen Stahlfabrik. Gegenüber von dem Haus, in dem ich die Wohnung ansah, war eine drei Meter hohe Mauer aus rotem Ziegelstein, voll von Efeu und Graffiti. Die Wohnung lag im dritten Stock, so konnte ich hinter die Mauer schauen. Nur war hinter der Mauer nichts. Ich sah aus dem Fenster, ein Makler erklärte mir, dass man viel vorhabe in der Nordstadt, hier solle sich vieles ändern. Ich wusste in dem Moment nicht, dass die letzten Fabrikhallen erst vor wenigen Wochen abgerissen worden waren. Da war nichts, nur lehmfarbige Erde, ein paar Steine, ein paar Pfützen. Jetzt soll ein neues „Wohnquartier“ auf dem Gebiet der alten Westfalenhütte entstehen. Ein Ort wurde ein Nichts wird ein neuer Ort werden.
Lieber Jay, oder verändert sich nur der Blick? Vor einiger Zeit habe ich an dich gedacht, ich rief mir dein Bild vor Augen. Und sah dich plötzlich ganz anders. Der Text deines Körpers war wie neu. Ich hatte meinen Blick verändert, jetzt sah ich den Körper des trans Manns, und sah auch die Schönheit dieses Körpers.
Ich speicherte den Entwurf, wissend, dass ich die Mail nicht würde abschicken können.
Die Transition kann geben, aber nicht nehmen. Sie gibt dir einen Ort, aber nimmt nicht die Ortslosigkeit.