(danke h.w.)
Als wir da an diesem sehr, sehr sonnigen Februartag die Wohnung betraten, sah auf den ersten Blick alles in Ordnung aus. Wir ließen die Schuhe an und ich machte einen ersten Rundgang. Hier und da lagen Dinge wie deplatziert herum, das Bett war nicht bezogen, ein Wäschekorb voller ungefalteter Kleidung stand auf dem ungesaugten Schlafzimmerboden, auf der Wachsdecke über dem Küchentisch lagen Krümel. Legte man die Hand darauf und nahm sie wieder weg, klebten die Fingerspitzen einen Augenblick fest. Das Sonnenlicht fiel staubig durch die schmierige Balkontüre.
Nur der Fleck auf der rohen Matratze, bräunlich, rötlich, undefinierbar, der schaffte mich so sehr, dass ich dachte, jetzt muss ich zurück, raus, raus, aber das ging ja nicht, weil –
Bruder eins setzte sich als erstes an den Küchentisch, mit dem Rücken zum Perlenvorhang, der den Durchgang zum Flur verdeckte und sah rauchend hinaus über den Balkon. Ich stand da so unschlüssig hinter ihm und wusste nicht, wo anfangen, wo aufhören? Wir sprachen kaum. Was gab es zu sagen? Meine Brüder waren ja eh schon hier gewesen, ohne mich. Ich lief mehrfach in jeden Raum, Küche, Schlafzimmer, Wohnzimmer (das Bad ließ ich aus) hinein und blieb dann irgendwo auf halbem Wege stehen, ging wieder raus und wiederholte das ein paarmal, Bruder eins saß da rauchend in der Küche, Bruder zwei und ich tanzten in diesem Zirkel umeinander herum, nie im selben Raum, drückten uns in kleinen Flur aneinander vorbei, tauschten Zimmer-Zuständigkeiten und sahen zu Boden. Ich wollte ihn nicht ansehen und er mich auch nicht, dass weiß ich ganz genau.
Bei meinem fünften ziellosen Rundgang landete ich im Wohnzimmer. Ich war müde, die Zugfahrt aus Berlin hatte mich seltsam geschafft, die Flasche Wein am Abend zuvor noch mehr. Ich wollte mich hinsetzen und sah zwischen Schreibtischstuhl und ausgeklapptem Sofa hin und her, nichts war eine Option, beides war auf gar keinen Fall eine Option. Also schaute ich mir stehend die Bücher im Regal links neben dem Schreibtisch an, strich über die Titel auf den Buchrücken, fragte mich, was sagen deine Bücher über dich aus? Kriminalromane? Spirituelle Reden? Biographien von Päpsten? Und – was würden meine Bücher irgendwann mal über mich sagen? Und wer wird sich die angucken? Genauso widerrechtlich handelnde Geschwister wie wir? Denn, wenn ich eines dieser Bücher aus dem Regal genommen und in meine Tasche gesteckt hätte, wäre das Diebstahl gewesen. Sicher, wer hätte mich anzeigen sollen – nichts hier drin, von Büchern, über Fotos, CDs, Kalender, private Notizen, PC, Unterwäsche, nicht eine einzelne Socke gehörte noch jemandem. Alles da drin war herrenlos. Ich griff blind nach einem Buch und steckte es in meine Manteltasche.
Der Schreibtisch war die größere Hürde. Schreibtische kamen mir, aus Erfahrung, schon immer unheimlich intim vor. Auf meinem lagen immer Fotos, Notizen, aufgeschlagene Tagebücher, Krankschreibungen, wahlweise polizeiliche Führungszeugnisse, Impfpässe, Kreditkarten, Zahlungsaufforderungen herum. Nichts Physisches könnte je so, man verzeihe mir die Theatralik, Spiegel meiner Seele sein, wie mein heimischer Schreibtisch. Ich fühlte mich einen Augenblick sehr voyeuristisch, als ich mit den Handflächen über die Papiere und aufgeschlagenen Bücher auf der Tischplatte strich. Kein Staub. So viel Zeit war seit ihrer letzten Berührung nicht vergangen. Reichlich unerwartet beendete Bruder zwei die unausgesprochene Vereinbarung der gegenseitigen Ignoranz und stellte sich in den Türrahmen. Ich fühlte mich ertappt und nahm die Hände zurück vom Tisch. Er sagte, Ich habe schon etwas für dich gefunden, letzte Woche. Er reichte mir eine durchsichtige Plastikfolie, ein paar Seiten Papier, ein paar Fotos. Danke. Er drehte sich um und ging. Ich rollte die Folie zusammen und steckte sie zum Buch. Ich fühlte, zuerst den Schreibtisch schaffen, überwinden zu müssen, bevor ich weitermachen konnte.
Auf dem Bauch liegend: „Programmieren für Dummies“, aufgeschlagen auf Seite 156, ein paar Stellen gelb markiert. Ein altes Passfoto, von ihm, ich erkannte ihn sofort, die Brille auf dem Bild sagte 80er Jahre (zu Diebesgut gemacht.)
Von mir aufgeschlagen: ein schwarz rotes Notizheft, darin notierte Passwörter, Adressen, dann 31.01.21: 47 kg, Blut im Stuhl. Ungeöffnet: eine Mahnung von der GEZ.
Am unteren Rand des PC-Bildschirms klebend: Ein Foto von Bruder eins.
An der rechten Schreibtischkante, halbgefüllt: Ein Aschenbecher.
Hinter dem Bildschirm: Ein Glas voller Kugelschreiber, daneben: ein Notizzettelblock. Am linken Rand: Eine Brille, nicht zusammengeklappt.
Immer wieder denkend: Blut im Stuhl, Blut im Stuhl, Blut im Stuhl, mein neues Mantra, ging ich in die Küche. Meine Brüder saßen sich gegenüber und redeten über Fußball. Ich setzte mich mit dem Rücken zum Balkon und fing an zu rauchen, legte meine ganze Hand auf die gelbe Wachsdecke und spürte, wie sie anfing festzukleben. Die Tapete vor mir war halb heruntergerissen, es lagen Malerutensilien herum, vielleicht hatte er renovieren wollen. Den intensiven Rauchgeruch wäre er damit aber ohnehin nicht mehr losgeworden. Als Kind war mir das nie so aufgefallen, da hatte der Rauch immer frisch gerochen und war mir, in Kombination mit dem Geruch von aufgebrühtem türkischem Kaffee, immer wie ein sicheres Zeichen von Zuhause vorgekommen, jetzt war er mir unerträglich. Bruder zwei stand, als hätte er meine Gedanken lesen können, auf und öffnete die Balkontüre. Sofort strömte eisige, aber gute, wirklich wahnsinnig gute und gebrauchte Luft in den Raum.
Aber ich wusste, dass tat er nicht wegen des unerträglichen alten Rauchgeruchs, sondern wegen des ihm unerträglichen frischen, den Bruder eins und ich kontinuierlich in den alten mischten. Mir war es gleich. Jetzt gerade war mir das alles gleich. Bruder eins schob eine kleine silberne Zigarettendose über den Tisch, sagte, Die, dachte ich, willst du vielleicht haben. Dann kehrte er ohne Umschweife zurück zum Fußball. Ich nahm sie in die Hände, wog sie kurz darin, drehte sie um, Che Guevara war vorne drauf, fast hätte ich lachen müssen. Ah ja. Als ich sie öffnete, fand ich darin vier filterlose Selbstgedrehte. Einem mir unerklärlichen Impuls folgend, nahm ich eine und zündete sie an. Meine Brüder sahen mich ein wenig fassungslos an, aber ich hatte dazu nichts zu sagen. Ich hatte jetzt gerade zu nichts mehr etwas zu sagen, außer, Blut im Stuhl und ich will nach Hause, nicht wissend wo genau das eigentlich sein sollte.
Aber irgendwie fühlte ich, dass wir noch eine Weile in der Wohnung gefangen waren und plötzlich musste ich aufstehen, die verfickte Filterlose noch in der Hand und auf den Balkon treten, weil mir sonst die Brust eng geworden und der Atem ausgegangen wäre. Kurz zweifelte ich an meinem Verstand, weil ich dachte, was, was wenn wir für immer hierbleiben müssen, weil die Welt aufgehört hatte da zu sein da draußen und es gab nur noch uns Einbrecher hier drin, Voyeuristen die sich den Tod in vier Wänden anguckten. Aber dann beugte ich mich über die Balustrade des Balkons und sah hinunter auf den Spielplatz im schattigen Innenhof, auf dem auch ich als Kind gespielt hatte, allein oder mit Bruder eins. Und da waren Kinder und spielten, kletterten, schrien und lachten, heulten, warfen sich in den Schmutz oder in die Arme ihrer Eltern. Nie hatte ich mich so erleichtert gefühlt beim Anblick fremder Kinder und ich wusste, ihm war es beizeiten genauso gegangen. Sie holten mich recht schnell zurück hinein, sagten, Wir wollen hier fertig werden. Such dir ein paar Dinge aus, dann sollten wir wirklich los, wir sollten wirklich nach Hause fahren. Jetzt. Schnell. Und dachte mir, vielleicht hatten sie ja plötzlich auch diese Angst bekommen, diese Angst, dass wir für immer hierbleiben müssen und ich bin sicher, diese Vorstellung von uns dreien hier drin, Angst habend, nicht mehr rauszukommen – die hätte ihm gefallen.
Ich wusste zwar immer noch nicht wo Zuhause sein sollte, aber ließ mich einfach ein letztes Mal in das wohlige Gefühl fallen, in blindem Gehorsam auf die Älteren zu hören, nahm ein paar Dinge und stopfte sie in die dafür vorgesehenen Müllsäcke. Nicht zu vergessen der eine extra Müllsack für den riesigen Drucker, den Bruder zwei und ich eine Weile schweigend be‑ ‑trachtet hatten, wissend wir wollten ihn beide, aber kamen uns so schäbig vor, alles schäbig in vier schäbigen Wänden, drei schäbige Menschen und ein vierter Schäbiger, den das jetzt alles endlich nichts mehr anging.
Ein alter Spiegel mit Goldrahmen.
Eine getöpferte Kaffeetasse.
Ein schwerer goldener Kerzenständer.
Eine Elvis-CD.
Ein grober Pullover.
Ein Amethyst.
Ein Stick mit Fotos.
Die Klarsichtfolie, mit was auch immer darin.
Das Passfoto.
Und die Bibel.
Bruder eins stand mit dem Rücken zu mir vor der Anrichte im Schlafzimmer, als er sich umdrehte, hatte er eine Taschenausgabe des Neuen Testaments in der Hand. Er sagte, Nimm mal, schlag die erste Seite auf. Ich schlug sie auf, da stand in seiner Handschrift,
Seit 28.06.2016 darf ich ohne Alkohol leben.
Ich musste mich unheimlich anstrengen, Silben zu bilden, aber schaffte es irgendwie, brachte heraus, Ja. Hat er doch immer gesagt. Mir schien das alles völlig unerheblich.
Bruder eins nickte, Hab ihm nicht geglaubt. (Hier funktionierte alles nur noch in Ellipsen, ganze Sätze waren unformbar, unaussprechbar.) Es war leider Gottes nicht unerheblich.