Ewig gestrig #2

Entlang von Landstraßen weiter navigiert zu unserem Ziel Buchenegger Wasserfälle. »Guten Tag Herr Just, ich darf nebst einer Vielzahl von Geschwindigkeitsüberschreitungen gerade innerhalb von Autobahn- baustellen vermelden, dass sich unsere gemeinsame Reise dem Ende naht. Wir erreichen planmäßig die Buchenegger Wasserfälle in der Nähe von Oberstaufen in fünfundfünfzig Minuten. Allerdings haben wir ein erhöhtes Maß an Müdigkeit bei Ihnen erkannt und bitten Sie so, eine dringende Pause einzulegen, denken Sie an Ihre Insassen, Familie und Freunde – Navigationssystem Over.«

»Ich bin nicht müde«, entgleitet mir über meinen mit Lippenbalsam benetzten Mund. »Oder sehe ich so aus?«, ich brauche Bestätigung, schaue kurz in den Rückspiegel und dann rüber zu Malice und halte diese Botschaft für vermessen und lächerlich. »Pff, Technik.«

Mit heruntergelassener Hose befinden wir uns beide an einem begrünten, bewurzelten Abhang, der die schmale, betonierte Straße und den daneben liegenden, mit Kies aufgeschütteten Parkplatz begrenzt. Geschützt von unserem schwarzen Sportwagen und dessen niedriger Kühlerhaube erleichtern wir uns, stehend, sitzend, führen unsere dreckigen Finger zum Abwasch kurz durch ein Grasbüschel und vernehmen aus der Ferne einen gellenden, durchdringenden Schrei und ein darauf folgendes Platsch, Plitsch, Platsch – der Wasserfall, ein Sprung, ein Mensch.

Ich streife meine Hände zuerst mit den verhornten Handinnenflächen, danach mit dem Handrücken an meinem kragenlosen bordeauxrotem Hemd ab und bewege mich zum Kofferraum, dort innehaltend lasse ich meinen Blick schweifen. OA – wie ich später erfahre das Oberallgäu – hängt an einem grauen, seelengrauen Nissan Modell »Panzer« – gefährlich nur für die, die außen stehen, die dessen Gas spottendem Geschütz oder den Michelin Gleisketten zu nahe kommen und zerrupft werden – der durch bloße Anwesenheit mit der kraftvollen Energie und Mächtigkeit des Flusses, der fräst und schafft, konstruiert und dekonstruiert, einen F-Vergleich anstrebt und sich zu messen versucht. Es haucht im zügig, frischen Wind ein m mal a. Und schon hängt das Kfz-Schild ein wenig scheps in seiner Verankerung. Während ich die grüne Alpe visuell nach oben begleite, liegt dort weinerlich, bauchlinks auf seinen letzten Tagen der noch weiße Schnee, kristallin, großporig, schwitzend in Schlieren die bleichen Holzpfähle umarmend. Ich öffne den Laderaum des Autos und beginne Proviant von dem häuslich, dem ›gemütlich machen‹ dienlichem und unabdingbar nützlichem Material zu trennen. Vorgekochte Vollkorn- Penne-Nudeln (wir sind ohne Gaskocher angereist), Vespergurken, erdige Karotten, Äpfel der Sorte Topaz und Elstär, Bananen, Erd- und Walnüsse, Kiwis (das Obst Kiwi), Haferflocken (kleinblättrig), Kunspermüsli, Haferdrink, sortiere ich in einen kleineren fünfundzwanzig Liter fassenden, quadratisch konstruierten Rucksack mit breiten Außentaschen; übriges Rüstzeug für Amüsement und geregelten, wenn auch zerknirschten Schlaf, kommt in den großen Wanderrucksack, an dem zusätzlich am Kopfe an Ösen meine Kletterausrüstung verankert wird. Ich bin ein erfahrener Wandersmann und nicht zuletzt auch praktischer, funktionaler Denker, allerdings auch ein fauler Mensch und so verblieben vor der Abreise alle Nahrungsmittel in Glasgefäßen, so wie ich sie in unserem lokalen Unverpackt-Laden in aller Regelmäßigkeit erstehe. Mit einem erhöhten Gewicht habe ich also Rechnung gemacht, angesichts der zu schleppenden Transportlast drückt es mich überraschend tief in den Kies. Vorne Rucksack klein, hinten Rucksack groß, Malice ebenfalls bereit für die ersten zu gehenden Schritte, fertig aufgesattelt, beobachtet meinen trägen Gang und greift vorweg: »Paul, wenn du den kleinen mal abgeben willst, dann sagst du Bescheid.« Ich maule nach den ersten Schritten, seufze: »uffa, uffa!«, wiehere auf, »Ich bin Rodrigo der Packesel«, und wiehere ein wiederholtes mal. Gestikuliere eine Peitsche, die mir den Marsch schlägt, geißele mich. »Oder wir finden einen Sherpa, der uns unseren italienischen hundert Kilogramm Kaffeevollautomaten im shabby look hinterherträgt und zur Stromspeisung der Gerätschaft noch in die Pedale tritt.« – »Stramme Waden sollte er haben«, merkt Malice an.

Bevor wir auf den Wanderweg gelangen passieren wir noch den zweiten, größeren Parkplatz. Dort angebrachte Wegweiser informieren uns über eine Laufzeit von fünfundvierzig Minuten zu den Wasserfällen. Wir betreten den Bergpfad. Es ist die Zeit gekommen für den willenvollen Halbmarathon-Mann, der sich durch das indische Morgengrauen in einem Pendeln zwischen Dies- und Jenseits in Trance schwang, um durch den Smog – mit Elektrolyten und überzuckertem Orangen- und Apfelsaftkonzentrat geschwängert, aufgeblasenen, aufgepumpten Energiehaushalt – zu schreiten, zu siegen und den Lauf durch eine von industrieller und kultureller Bedeutungslosigkeit geprägten indischen Millionenstadt, in der eine/ein jede/r siebte ihr/sein tägliches Einkommen durch den Verkauf von modrig-sumpfiger Grütze in einer gebrechlichen Teighülle verdient, zu beenden. Man jubelte ihm zu, von Straßenrändern, von den Flachdächern der Einkaufszentren, von sieben Menschenleben bewegenden Motorrädern und den grün-gelben Rikschas und aß sein Pani puri. Sie haben eine Universität, sie haben die neun Nächte des schwindelerregenden Tanzes. Sie spielen die Trommel. Er kann die Trommeln hören, er musste die Trommeln hören. Ich höre die Trommeln. Der Weiße rannte. Man gebe mir dieses Gefühl.

Weite breite Straßen. Er in Gedanken an 2004 in Athen.
2004, 5000 m, Silber in Athen, brüllt er.

Olympia 2004 in Athen, da war er noch etwas.
2004, 5000 m, Silber, in Athen, grölt er.
Sanderstraße 2019, da findet er sich wieder.
Heute ist er der Allesschonmaldagewesen, gibts schon,
Rationalist und Zeitzeuge, wie jeder, wie jede.

Bergab bleibe ich wiederholt an Nudelholz-dicken Wurzeln hängen, verliere das Gleichgewicht, erlange es zurück, orientiere mich an Malice, versuche jeden einzelnen Schritt nachzuahmen, sie kennt den Weg, ein gar nicht komödiantisches Schauspiel, wo sie hintritt, trete auch ich hin und wie sie tritt, so trete ich auch. Sie redet, ich schwitze, atme ein und aus in erhöhter, erregter Frequenz. »Also wie gesagt, ich nehme dir den Kleinen auch mal ab«, erwähnt sie zwischen »das letzte Mal als wir hier waren, da haben die Jungs sogar Bierkästen bis zu unserer Insel getragen«, – Wow, südbayerische, gorillaähnliche Geschöpfe – und »die größte Herausforderung kommt noch, da kannst du dich dann entscheiden, ob du den Weg über den Baustamm nimmst oder durch den Fluss watest, aber du wirst selbst sehen.« Es wird flacher und wir erreichen eine silbergraue Brücke mit Gitterrostboden. Keine Steigung, keine Neigung, null Grad oder hundertachtzig auf denen ich stabil stehe und bitte, ein wenig wurzeln zu dürfen. Malice gewährt mir die Zeit zum Durchatmen. »Nun, wenn du mal nach rechts blickst, dann und da eben weiter kommen die Wasserfälle, nach links, naja, da ist nicht viel, das können wir uns aber auch kurz mal anschauen, wenn du willst.« Ich winke ab. »Links zwo drei vier, geradeaus, den direkten Weg zum Lagerplatz erbitte ich, alles andere gefährdet unsere Mission, ähm, wie lange denn überhaupt noch?« – »Da hoch«, Malice zeigt auf eine durch Erosion offengelegte, von Bioturbation zeugende Wand, die sich vor uns fünfundzwanzig Meter aufbaut. Und auf ihr bequem gemacht hat es sich ein Gemisch aus Laub- und Nadel-Bewaldung, wetterfest und stramm im Stand. Ich atme zweimal tief ein, aber schnell, fast abrupt und einmal lang aus, reproduziere diesen Rhythmus, denke an den Halbmarathon-Mann – er hätte es auch so gemacht – und begeben uns auf die Etappe bergauf. Gitterrostböden in treppenförmiger Aufmachung bestücken den zu erklimmenden Erdwall, so rolle ich Treppenstufe für Treppenstufe und Fußballen für Fußballen, mein Gewicht von Bein zu Bein schrittweise ab. Wir unterlaufen an einer inoffiziellen Weggabelung einen den offiziellen Wanderweg eingrenzenden Zaun aus metallischen Rohren und rutschen langsam einen kleinen festgetretenen Trampelpfad entlang wieder bergab. Das Rauschen des Wassers wird schärfer, lauter. Ein Geräusch, das harmlos aussieht, immer während Erfrischung und Abkühlung suggeriert bis die Welle oder Strömung dich mitreißt. Zwischen einer Baumfamilie schauen wir hervor und das Licht erblickt uns in seinem Zenit. Wir stehen auf einer Seite des Wasserfalls, der von einem verwehten, gestürzten, entwurzelten Baum überbrückt wird, und setzten uns auf das Stück des Baumes, das bis auf sicheren Boden reicht. Nach der Peitsche kommt das Zuckerbrot. Es wird lunchiniert mit einem Topaz Apfel, den Malice mit ihren Händen zu zwei fairen Hälften entzweit. »Du bist aber stark«, lasse ich Malice in unserem Slang wissen (du bisch aba stronk).

Kleingruppen strömen hinter uns an den Wasserfall, auf den Baum, lassen sich in schläfrig, schlüpfrigen Posen von Begleiter:innen ablichten, um Fotos in einer Welt zu teilen, die nicht meine ist. Lassen diese im Internet kursieren, in sozialen Netzwerken, um zu erhaschen, was den Menschen kurzzeitig an eine besondere Qualität in einzelne Erfahrungen glauben lässt. Momente der Sucht, der Abhängigkeit, der Widerwärtigkeit des Lebens. Bilder suggerieren, diese Qualität erlebbar gemacht zu haben und für Ewigkeiten zu konservieren, doch verschwinden so schnell wie es jemand kaufte oder jemand nachahmte in der Quantität. Dann muss eben ein neues her! Ihr Heuchler …

Fortsetzung folgt …