Ewig gestrig #1

Wir wählten das Auto zu unserem Fortbewegungsmittel, einen Seat Leon, klein, kompakt, sportlich. Ich war damit nicht zufrieden, nicht meine Art der Etikette, dachte ich. Nicht meine Art des Reisens, schon gar nicht bei einem Ausflug in die Natur, erschien mir so der Kontrast zwischen brachialer, zerstörerischer Technik und verklärter, romantisierter, glorifizierter Natur zu groß, zu offensichtlich. Die Rückbesinnung auf mein Dasein als menschliches Geschöpf, dessen Schwächen und notorische Prinzipienlosigkeit wuschen mein Gewissen rein. So war es nur noch der ästhetische Aspekt – ich war in diesem Auto, klein, kompakt, sportlich – der mir sauer aufstieß. Ich sehe mich nicht gerne in Kraftfahrzeugen, denn ich weiß um meine limitierten Fähigkeiten, solche Maschinen zu führen. Autonomes Fahren würde ich sehr begrüßen, sowie ich eine automatisierte Gangschaltung in jedem Auto mit einem liebevollen Streicheln über die nicht vorhandene, manuelle Gangschaltung begrüße. Wenn während des Fahrens die Gedanken zu meiner Unfähigkeit mal wieder zu viel Platz einnehmen und das Abwürgen, das ungelenke Abdrosseln – oh wie ich diesen Diesel Motor massakriere – Inflation haben, dann um den Kopf aus der Schlinge zu ziehen, gleichbedeutend dem Nicht-Abstellen des Autos auf dem Seitenstreifen, um das Lenkrad meiner Beifahrerin – die ich liebenswert einen Straßenhund nenne, nicht weil sie bemitleidenswert und abgemagert ist, sondern weil sie sich herzlich, offen, unabhängig und agil zeigt – doch nicht in die Hand zu drücken, dann schiebe ich meine Unfähigkeit auf meine schwitzigen Hände, lache und konstruiere Szenarien für den effektiven und praktischen Einsatz von Magnesia am Steuer, in Rennfahrerposition gebettet zwischen Metall, Kunstleder und einer Menge Hartplastik. Nun soweit war es allerdings noch nicht. Wir stehen am Anfang.

Es ist Mitte März. Ein Virus mit pandemischen Ausmaßen hält die Welt und ihre Menschen in Atem, versetzt Menschen außer Atem bis auch künstliche Beatmungsgeräte sie nicht mehr überirdisch halten können. Wir sind jung, ohne Symptome, perfekte Wirte für den Parasit der sich Corona SarsCoV-2 nennt. Den Anweisungen, den staatlichen Weisungen zu Hause zu bleiben, hashtag stayathome, folgen wir nicht. Es zieht uns raus, in Wälder und Berge, ins Grüne und Weite, ins Weg und weit Weg von Corona-Partys und Corona-Liveticker, hoffentlich ungesehen, ungeahnt wie das bittersüße Schlüpfen in unser Klein-Narnia.

Der Seat Leon ist geliehen, dient er sonst als Pendlerkutsche meiner Eltern. Man soll mir drei Tage geben, die ersten sonnigen, warmen Tage des Jahres, frühlingshaft, vitalisierend. Am frühen Morgen brechen wir auf aus Frankens Literaturmetropole, noch ist es grau, die Schornsteinfeger tanzen zu Reggaeton auf den Dächern der Stadt – viel Arbeit heute. Die Stadt ist fußlahm, so lernt sie ein jemensch kennen. Kulturelle Angebote gibt es reichlich, natürlich nicht in den Zeiten, in denen der Virus und der Wahnsinn bestimmen, aber sonst, nur führen Kunst, Kultur, und Politik in dieser Stadt zu keiner Veränderung, keinem Aufbegehren. Die Studentenverbindungen, ob schlagend oder nicht schlagend, aber definitiv saufend, thronen noch immer in aller Gemütlichkeit über der Mergentheimerstraße, saunieren in Stagnation, Konservativität, Männlichkeit und die Gartenstadt war nie eine Gartenstadt. So könnte man sagen, es passiert nicht viel, nur die Schornsteinfeger werden weniger. Meine Begleitperson für den Ausflug hole ich im Denklerviertel ab. Wohnparteien gefüllt mit Menschen die Kunst, Kultur, politischem Engagement und alternativen Lebensstilen nahe stehen, so sagt man. Der Koriander Geschmack in der städtischen Ur-Suppe, so sagt man. Ein Mancher mag ihn, eine Manche nicht. Ich wohne dort nicht. Nach ersten Einparkschwierigkeiten, um meine Warteposition in einer der Nebenstraßen zu dem Wohnblock in dem Malice wohnt einzunehmen, stehe ich angefeuchtet mit dem Auto, wenn auch schräg und hinderlich für andere Verkehrsteilnehmer in einer Parklücke. Im rechten Seitenspiegel beobachte ich aufmerksam, so aufmerksam und diszipliniert, dass ich mir bei einer sekündlichen Unaufmerksamkeit bereits ein schlechtes Gewissen mache, ob Malice die Straße hoch gelaufen kommt oder nicht. Außerdem weiß ich, dass sich mein Herz erwärmen, erröten wird, sobald ihre Erscheinung, ihr leichtes, geschwungen gekräuseltes, blondes Haar den für mich einsehbaren Bereich betritt. Während sich mein Herz ausmalen möchte, wie der weitere Verlauf des Tages und der darauffolgenden sein wird, hält mein Kopf mit all seiner Vernunft pflichtbewusst in einem wettkampfähnlichen Gerangel dagegen, bis sie auch schon um die Kurve schnellt. Bepackt mit allerhand notwendiger Outdoorausrüstung, die sie in den Kofferraum schmeißt, steigt sie zur Beifahrer*innen Seite ein, und zieht die von mir bereits geöffnete Tür nur noch ein Stück weiter auf. Ein freundliches mit einem Lächeln gespicktes „Guten Morgen“ zwitschert sie mir entgegen. Ich antworte indem ich meinen ausgestreckten Zeigefinger hebe und „Moin“ sage – nordisch by nature.

„Verbleiben wir zu zweit?“, fragt Malice mich.

„Unsere inserierte Mitfahrgelegenheit wird von Maria wahrgenommen.

Wir holen sie am Talaveraschlösschen ab“, sage ich.

Unsere Reise beginnt mit Postcards from Italy.

Das Navigationsgerät nimmt einen ersten Kontakt mit mir auf. „Guten Morgen Herr Just, ich begleite Sie heute auf Ihrer Reise in den Süden. Wir folgen mehrheitlich der A7 bei sonnig warmen Wetter und Temperaturen bis zu 18 Grad. Ich wünsche eine angenehme und sichere Fahrt. Bei Rückfragen zum von mir vorgegebenen Kurs stehe ich Ihnen unverzüglich zu Diensten“. Ich blicke rüber zu Malice, nicke hochachtungsvoll und kann mir ein „angenehm, ja doch, sehr angenehm“ nicht verkneifen. Malice grinst und ich mache es ihr gleich. Wir bewegen uns aus der Parklücke heraus, fahren die Fröhlichstraße entlang bis wir in die Brunostraße einbiegen, nehmen die nächste gleich wieder rechts und landen so auf der Hauptverkehrsader des Stadtviertels. Eingereiht in maximal versiegelte, von Investitions- und Reformstau gekennzeichnete Ameisenstraßen, Seite an Seite mit Sündigenden, die nur Umweltzertifikate vor sich her bugsieren, bahnt sich der Dampfer seinen Weg Richtung Klein-Narnia über Wörthstraße und Georg Eydel Straße entlang bis zum Schlösschen, wo Maria auch schon wartet. Ausgestiegen, „Moin Maria“, so begrüße ich sie kurzangebunden wie ich Menschen eben immer begrüße, nicht weil mir Menschen, ob bekannt oder unbekannt, wenig wert sind, nein, sondern weil mir das Leben in sich zu wenig wert ist, um für die ewig kommenden und gehenden Vorgänge der Begrüßung und Verabschiedung zu viel Zeit und Energie zu verschwenden. Maria ist Mitte Zwanzig, Psychologiestudentin im Master, eine zurückhaltende Persönlichkeit, wir werden kein Wort miteinander wechseln. Da sie die Rückbank für sich hat, macht sie sich dementsprechend breit. „Ich gebe dir mal besser nicht die Hand“, lässt sie nach vorne zu Malice verlauten. Wir lachen alle nochmal aus Höflichkeit bevor der Motor ein erneutes Mal gestartet wird. Die Stadt verlassen wir über die Bundesstraßen 27 und 8. Straßenzüge vergewaltigt von den täglichen Ausstoßmengen an Schadstoffen, die ergraute Hauswände und Lungenflügel hinterlassen. Eines Tages gipfelt das noch in einer lokalen Smogwolke, erdrückend, abschnürend, kindermordend. Luftqualität ist Lebensqualität, nur merkt man das nicht, wenn die Luft sowieso immer schlecht ist. Erst wenn „Toni Macaroni“ übersehbar hinter dicken, grau-schwarzen Fäden von Aerosolen verschwindet, dann ist der Aufschrei groß.

Das Auto fährt gut. Auf der Autobahn und autobahnähnlichen Straßen muss ich dafür nicht viel machen. Zeitweise nehme ich die Hände vom Lenkrad, lasse mir die Wasserflasche reichen oder trockne mir meine Handflächen an meiner graukarierten Stoffhose. Ein Übermut, der sich selten rächt.

Fährt man Minute für Minute mehr auf der Autobahn mit mindestens Richtgeschwindigkeit, wird alles gleich, alles verschwimmt, 30 KilometerproStunde sind 130 KilometerproStunde. Kiefern sind Eichen. Klinkerbauten sind Fachwerkhäuser. Autobahnbrücken sind Wildbrücken und eine Taube in der Kühlerhaube ein kurzes, grelles Quietschen der Bremsblöcke. Eine gefährliche Langeweile umgibt Fahrten auf deutschen Autobahnen. Geschwindigkeiten außerhalb meines Vorstellungsbereiches sind jegliche über 30 KilometerproStunde, sind Geschwindigkeiten, die eine bewusstseinserweiternde Blase für den Drift von Gedanken erschaffen, umgeben von Fahrtwind und dem scheinbar schützenden Mantel der Technik. Ein Bewusstsein für das einfache und leichtfertige Handeln ist nicht vorhanden, da reicht auch nicht das Öffnen des Fensters und das Wahrnehmen des Fahrtwindes, der einem doch stärker als bei 30 KilometerproStunde erscheint. Mit dem Ausfädelungsstreifen schwindet das Gefühl der Verantwortungslosigkeit, denn erfolgt das Abbiegen auf die Landstraße noch, dann wirkt bei Tempo 80 alles wieder real und ein Unfall verläuft nicht garantiert tödlich für alle Insassen. Man müsste mit der Schuld weiter leben, dass das eigene Handeln Leben gekostet hat oder wird gar seine restliche Lebenszeit mit dem Blick auf Menschen im Rollstuhl gestraft.

Wir durchqueren Mittelfranken.

„Es tut mir Leid, ich habe gar nicht gefragt oder dich bisher darüber informiert, aber ich habe meine Sachen für das Frisbeespielen mit“, entschuldigt Malice sich wobei sie gleichzeitig bemerkt, dass ich keine Ahnung habe, wovon sie redet.

„Du und Frisbee?“, spotte ich. „Das kann ich mir kaum vorstellen, aber ist cool, klar, warum denn nicht.“ Ich klinge dabei sehr ernst, zumindest beim letzten Halbsatz, denn weswegen auch immer, verspüre ich eine Dringlichkeit Malice nicht zu verärgern. Eine zwischenmenschliche Beziehung, die ich nicht von ihrer sanften, seifenblasigen, acht Lagen Klopapier, Wolke holen möchte. Lass sie dort oben ihre Kreise ziehen, nie mit Regen füllen, kein Quellen, kein Donner, kein Hagel und wenn du dafür Chemtrails abonnieren musst. Während Malice lacht, denke ich angestrengt nach. Erst als Malice die Polizei und Kontrollen erwähnt, da erschließt sich mir die Sachlage und das Bild von knosprig blühendem Grün in Aluminiumfolie gehüllt.

„Ich habe es so tief wie möglich in meinen Schlafsack gesteckt, ist auch sowieso nicht mehr viel, bestimmt kaum strafbar“, so schmunzelt sie ihr Versehen weg. Ich singe schief und zu meinem Gefallen mit extra viel Pathos: „Malice und Ich spielen Frisbee heute Nacht!“ Das Gefühl von „Roadtrip“, Freiheit, Grenzenlosigkeit, das Möglichmachen des Unmöglichen kommt für einen Moment auf. Ich verliere mich im Sonnenschein der durch die Frontscheibe hereinbricht, bis Malice mit einer Hand in das Lenkrad greift, es gerade rückt und mit der anderen Hand die Sonnenblende der Fahrerseite richtet.

„Kabelbinder, Panzertape und einen Leichensack packte ich in meinen Koffer“, stoße ich mit begleitendem lauthals Lachen aus, lege meinen Kopf in den Nacken, genieße mich selbst und meinen Humor. Sichtlich erschrocken, fast ein bisschen erfüllt von Furcht und Angst versucht Malice, nach vorne gelehnt, mir in die Augen zu schauen, nachdem ich meinen Kopf wieder begradigte, und vollzieht prüfende Blicke nach meiner Glaubwürdigkeit, wortlos, dabei lässt sie ihre freundlichen Grübchen und ihre Falten geformt nach einem komplexen Bogendelta um die Augen erscheinen.

„Das hat sich irgendwann mal so eingespielt, also Kabelbinder und Panzertape sind eben nützliche Utensilien und mein Schlafsack, den kennst du ja, der sieht eben aus wie ein Leichensack“, Maria sitzt aufmerksam und überraschend wach auf der Rückbank. „Ja, ich erinnere mich.“ Malice schüttelt kurz mit dem Kopf und bricht dann auch in Gelächter aus. „Gut, dass wir keine unbekannte Person auf der Rückbank sitzen haben.“

Wir schmeißen Maria nicht gefühlvoll aus Anstand an einem schlecht frequentierten Pendlerparkplatz entlang der A7 in der Nähe von Memmingen aus dem Auto. Marie verschwindet. Flüchtig und schemenartig als wäre sie nie dagewesen, nicht vergessen, nicht verdrängt, schlicht weg, nie gesehen, ein Deja-vu, das mir vorgaukelt, mir erzählt von einer Situation in der ich schonmal geglaubt habe, dass es Maria nicht gibt. Ein Pendlerparkplatz, ein zehn Euro Schein, ein hihihi, ein winkewinke, ein fristiges Leben zu Ende gegangen in meinem Leben.

Fortsetzung folgt …