Gebrochene Spiegel

Sie zieht mich durch enge Gassen in einen Schacht, durch einen Brunnen, der Saum ihres Gewandes, ein Schenkel glänzt im Schweiss, es durchbohrt meinen Kopf, die Schläfen trocken

ich wache auf und die letzten Traumtentakel ziehen sich tintespritzend zurück. Kurz noch unter der Oberfläche schweben, dann prustend hoch : schrecken : – Scheibe vor mir, pissgelb : ein Albtraum, schonwieder …

Hoffentlich haben sich keine Füchse an der Satteltasche zu schaffen gemacht : alles noch da. Aus dem Rucksack ein paar Farmerriegel : esse langsam. Brösmeli mit der Fingerkuppe aufpicken : kauen : schlucken : kauen, den Bissen immer zwanzig Sekunden im Mund behalten. Heute Rum oder einen Energydrink zum aufputschen? Oder Mische? Darf nicht gierig werden : – das alte Beef Jerky aus dem Selecta bewahr ich mir für später auf : beware of the jerks

Die Moto Guzzi hat ein wenig Öl verloren über Nacht, ein schwarzer Spiegel mit Regenbogenschleiern am Boden : wie Coca-Cola … mag nur der Vergaser nicht versagen! Die Schrauben für das Standgas etwas runterschrauben : so.
Hab ich alles? : aufsteigen, Choke rein, zünden : – ! : – !, nichts. Nochmals zünden, links geht was, rechter Zylinder stottert sich durch die Kälte ins Leben : schnurren lassen. Choke raus und ab.

Wiesen sind keine mehr, da wachsen Sträucher und das Gras ist hoch. Ein Reh rennt weit vor mir über die Strasse. Ich habe Glück : die Landstrasse ist an den meisten Stellen gut befahrbar. Nur einmal muss ich absteigen und ein verrostetes Autochassis einige Meter weit in einen Graben schieben. Knochen liegen herum : Hunde, da wohl ein Bär (so weit westlich schon?) und … homo sapiens.
Eine böse Sonne beisst sich durch die Buchengipfel.

Durch Basel und auf die Autobahn 3 : – auch das ist schön: keine zeitsparenden Abkürzungen mehr! –, andere Übriggebliebene (gibt es sie (noch)?) müssen die alten Militärbarrikaden schon freigeräumt haben. Meine Beretta sollte ich wieder einmal testen : ein paar Zielübungen … auf alte Plakatsäulen mit abgeblätterten Aufrufen zum Kampf lässt sich immer gut schiessen, und – vielleicht würde ich doch noch zu einem anständigen Schützen werden? Frisches Reh oder Wildschwein … nicht immer dieser Doseneinheitsbrei.

Unter dem Fressbalken bei Würenlos durch; wurde damals dem Erdboden gleichgemacht : Wut kocht hoch – wofür das alles? Dass ich jetzt allein durch diese Welt taumeln und straucheln darf? Wenigstens hatten sich alle die Kriegstreibenden und Zelotinnen und Generale gegenseitig nach Walhalla gebombt : auf dass diesseits der Milchstrasse nichts mehr gedeihen soll. Auf den Mars hatten wir es – Narziss sei Dank – auch nicht geschafft, trotz ödipal-geforderter Milliardäre. Hoffentlich würde es noch ein paar tausend Jahre gehen, bis hier wieder so etwas wie Zivilisation möglich würde. Wenn es denn andere gab, ausser mir armen Mannsgoggel. Und, look on the bright side : Waldkatzen! Wölfe! Bären!! Und Bäume. Sträucher. Früchte. Wobei man die ja nicht essen kann, danke Kernspaltung. Wann hatte ich zuletzt das Dynamoradio probiert?

Zürich kommt in Sicht.
Weit komme ich nicht hinein : lasse den Töff unter einem Vordach stehen. Merke mir den Ort und trage ihn zur Sicherheit auf der Karte ein. Also : Helm, Handschuhe und Lederhose lass ich bei der Guzzi, Rucksack und Satteltasche nehm ich mit. Der Primetower liegt weitverstreut über hunderte Meter. Glas und Stahl : auch das schmilzt. Die Hardbrücke hat schon bessere Zeiten gesehen. Wo war hier nochmal der Schiffbau? Da gibt es vielleicht Benzingeneratoren, oder zumindest Getränke in Flaschen : und wenn ich ganz grosses Kismet haben sollte, Konserven.

Natürlich alles schon geplündert.
War sowieso eine dumme Idee … sollte mich an die kleinen Orte halten. Muss wohl die Nostalgie gewesen sein, die mich hierhin getrieben hat.

Das Zentrum umgehen, um nach Wiedikon zu gelangen. Oben auf dem Uetliberg steht verrostet das schaurige Mahnmal. Von da hatten sie ihre Mörser und anderes Pandorisches geschossen. Jetzt tanzt dort feixend ein grünspanes Skelett : Freund Hain strahlt mir zu … später hoch wandern? Oben würde das Radio vielleicht etwas empfangen …

Dort, wo die S-Bahn fuhr, ist immer noch eine Blockade. Ich muss auf Panzer, unter Stacheldraht und durch ausgebrannte FLAKs klettern, um über den Bahndamm auf die Friesenbergstrasse zu kommen. Skelette mit Helmen und SIG Sauers im Anschlag halten vaterländisch die Stellung. Wie oft hatten wir hier auf den Bus gewartet … – bin doch wieder in die alt-aggressiven Akronyme abgerutscht!

Das Haus ist noch da : ganz überwachsen : Efeu, der Apfelbaum im Garten in voller Blüte.
Wer hätte gedacht … einen mitnehmen, als Erinnerung?

Die Tür geht erst auf, als ich mit dem Brecheisen nachhelfe : der beste Schlüssel der Welt …
In der Küche die Nespressomaschine : das waren noch Zeiten. Muss an George Clooney denken : was die Promis wohl gemacht haben, als es so weit war? am Comersee eingeschlossen und sich mit Kokain betäubt? gebetet? versucht auf die SpaceX Rakete zu kommen, die auf halbem Weg zum Mars mit all ihren very important Insassen explodierte? – aber Bialetti auf offenem Feuer schmeckt auch.

Im Wohnzimmer: das Sofa zerfetzt, eine Fensterscheibe ist raus. Die Explosionen oder ein Tier? Im Regal noch die Fotoalben. Soll ich? …

Zuerst eine Runde drehen. Im Esszimmer steht nicht mehr viel. Im Keller riecht es verdorben, schimmlig und feucht : aufpassen wegen Ratten! Ein paar Tierknochen (hoffentlich) liegen herum. Die Waschmaschine : was würde ich geben für frisch riechende Kleider! Seen und Flüsse sind auch nicht mehr, was sie einmal waren … danke Pharmaindustrie. Hinten im Heizraum zwischen ausgelaufenem Öl tatsächlich Gummistiefel : und noch gut! Sofort mitnehmen. Abstecher ins Seeliger Moor gefällig? Ob da noch was lebt?

Alex fällt mir ein. Ein Kater mit Chuzpe : – welche Katze hat die nicht? Die Stelle im Garten, wo er begraben liegt, würde ihm jetzt sicher gefallen mit dem hohen Gras. Ich hoffe, die Wurzeln des Apfelbaums haben ihn erreicht.

Im ersten Stock die Bettgestelle : wie offene Brustkästen. Vielleicht hatten hier noch ein paar Verstrahlte geschlafen, kurz bevor sie das Zeitliche segneten. Von innen verbrennen … ich trete langsam ein. Das meiste hatten ihre Eltern wohl mitgenommen, als sie die Stadt verlassen haben … – ich hoffe, sie haben die Stadt verlassen – … meine Rievkah …, dass auch du – ich nehme ein Bild von uns zusammen im Bruno Weber Park mit. Im Regal noch Bücher, die Eltern hatten bestimmt keinen Platz dafür auf der Flucht. Alles französisch … Molière, Balzac, Proust : soll ich? Hab selbst keinen Platz. Aber das hier? Eine kleine Montaigne-Ausgabe, das muss mit! Ich lege das Foto von uns zu den Kannibalen ins Buch und gehe nach unten. Sehe kurz in ein Fotoalbum; als die Tränen kommen, schnapp ich es zu. Darf nicht verzweifeln.

Warum sollte ich nicht? Eine Flasche Rum hab ich noch im Rucksack, in irgendeiner Apotheke finden sich bestimmt ein paar Schlafmittel : vielleicht sogar Temesta oder Valium. Ein letztes Mal auf all das anstossen! Doch würde ich mich sicher im Schlaf erbrechen und wieder aufwachen : nein verdammt! Die paar Jahre gönn ich mir noch : es gibt noch so viel zu sehen, was sich nicht zu sehen lohnt! Immerhin gibt es Bücher. Und Landschaften. Und Lieder aus dem Gedächtnis singen.

Ich könnte zum Sammelpunkt-Laden runter und mich dort ein paar Tage bei Science-Fiction und Comics verschanzen … oder hier übernachten? Nein, zu emotional : muss weiter. Zurück ans Dreiländereck? Was habe ich mir nur gedacht – eine Nacht? Ich gehe wieder nach oben, in das alte Zimmer, rolle den Schlafsack aus, zünde ein paar Kerzenstummel an : Fotoalben durchsehen. wir in Dubrovnik : Cavtat : Bibbona : Florenz : Alex … verdammt, verdammt, verdammt das alles.

Mache vorsorglich für den Montaigne Platz in der Satteltasche, stelle dafür schweren Herzens den zerlesenen Anton Reiser ins Regal neben Candide; danke für die guten wütenden Stunden : rest in resentment, friend.

Das neue Buch in klammen Pfoten, lese quer aus der grossen Bäderreise : die peniblen Angaben über den täglichen Urin und Stuhl, das war noch Verantwortung für die Nachwelt. Gespräche mit Rievkah fallen mir ein : wie sie mir den Pyrrhonismus erklärt, die Etymologie von cura und curiositas, ihr bübisches Haar, die feinen Mulden am unteren Rücken : die feinen Haare an den Armen : die Bücher in unserer Bibliothek …

Je ne voyage sans livres ni en paix ni en guerre.
C’est la meilleure munition que j’aie trouvé à cet humain voyage.

Die letzten Schlucke Rum aus der Petflasche und unruhiger Schlaf. Dunkelgraue, eingefallene Gesichter, pfeifende Kugeln, brennende Zigaretten unter Helmen, um ein gutes Ziel für die Scharfschützen abzugeben. Lieber Kopfschuss als verbrennen. Lichter über Basel und die Johanniterbrücke stürzt ein : Rievkah …

hoch : es webt der Nebel am Mond herum, Schiffchen links rum, dann Steilkurve rechts runter, und es wogt der klamme Gipfel hin und her vorm Fenster. Augen wieder zu : ein Glück, klingen keine Kirchenglocken mehr : zumindest davon bleib ich verschont.

Angelaufenes Metall. Kondensstreifen tanzen am Sechseck herunter. Riecht nussig : alter Kaffee, dafür heiss. Die Ravioli dürften jetzt lauwarm sein. Nehme die Konserve mit dem nassen Tuch vom Rost und ziehe den Deckel ab. Erinnerungen an Sommer in der Jugend, das Kraftwerkinseli, erste Küsse : Joints rauchen, Dosenfood, Biere saufen : Musik aus billigen Lautsprechern : betrunken mit dem Velo nachhause fahren. Hätten wir damals gewusst : schnell essen und packen.

Was soll ich hier noch? Suche nach Tabak und finde ein paar Krümel in der Tasche meines fadenscheinigen Militärmantels. Drehe die Fäden in ein Stück Schutzpapier aus einem Fotoalbum und rauche die paar Sekunden, die es hergibt. Stelle die leere Konserve auf eine Astgabel und gehe zehn Meter zurück. Die Beretta 93R entsichern, Schulterstütze raus und in die Achsel, rechte Hand an den Griff, linke an die kleine Halterung : zielen über Kimme und Korn : langsam den Abzug andrücken : abdrücken : – : –, nichts passiert, scheisse. Soll ich alles auseinanderbauen und reinigen? Italienische Technik … die scheiss Beretta hatte ich eh nur genommen, weil sie ein grosses Magazin und Stützen hatte und Salven schiessen konnte; ein Vorteil, wenn man ein so schlechter Schütze ist wie ich. Ich werfe das dumme Ding in ein Gebüsch, ein guter Jäger werd ich nimmermehr. Weg mit all dem Ballerballast.

Den Montaigne in einem Plastiksack zu den andern Büchern in die Satteltasche : gehe den ganzen Weg zurück, ohne mich umzusehen.

Die Guzzi steht noch da, wieder ist was ausgelaufen, zum Glück hab ich noch den Zwanzig-Liter-Tank hintendrauf : wenn der leer ist … : alles aufladen und als Geisterfahrer auf die Autobahn.

Etwas stimmt nicht : als ich gestern ankam, war die Strasse noch frei. Jetzt stehen da drei Militärtransporter verkeilt und : !“ ducken! Der Schuss hallt vor mir nach : drücke mich an den Tank der Guzzi, der rechte Zylinder hat etwas abbekommen ? – fährt noch : ruckelt kurz : fange mich : wer zum Teufel … !“ ein zweiter Schuss : hab keine Wahl – Vollbremse und Lenker rumreissen : schlittern, komme wieder hoch, und fahre Richtung Stadt zurück. Höre Gebrüll : von Menschen? Im Rückspiegel knieende Figuren, Gewehrläufe zeigen auf mich : absteigen und rennen? Nein, weiter in die Stadt rein, sie zwischen Häuserblocks abhängen. Warum musste meine scheiss Beretta gerade … : ein Wagen fährt an, wie hatten die … ? !“ Knatternder Husten aus dem Töffmotor, der Zylinder raucht, etwas klirrt, der Rückspiegel : Scherben … verliere die Kontrolle : knalle gegen die überwucherte Brüstung der Autobahn.

Linke Schulter : Schmerz rast : Rhododendron : Stiche : Fuss kalt : Eibe : Blätter : sehe durch gebrochenes : Gebrochenes im Mund : gebrochenes Visier : Splitter im Mund : sehe mein zerschnittenes Gesicht im zerbrochenen Rückspiegel