Was uns übrig blieb

„Ich erwache in der Muschelhilfe.“

(Ron Winkler, Karten aus Gebieten)

Ansammlung I

Jetzt bin ich offiziell obdachloser Flüchtling, dachte Anis. Das war wohl zu viel des Guten. Alles und insgesamt. Erst wurde er fast rausgeworfen wegen Rauchens im Zimmer und jetzt wegen Frauenbesuch. Dieses eine Mal. Das erste Mal seit so langer Zeit. Eigentlich hatten sie sehr gut aufgepasst. Keiner hatte etwas gesagt von den Menschen, die am Eingang saßen. Dann kam ein Brief. Es war kein böser Wille, hatten sie gestammelt am Telefon, nur deutsches Wohnheimgesetz oder so. Wer konnte das schon sagen.

Ansammlung II

Sommer. Eine große Anzahl asylsuchender Menschen zeigte sich auf dem Volksrasen. Viele sind durch Freiwillige oder Organisationen bereits in Teams organisiert, manche würden sagen, integriert. Man erkennt sie erst auf den zweiten Blick oder an der Sprache. Aber auch an unterschiedlicher Ernsthaftigkeit. Einem Spaß. Anders die Individualsportler von fernher. Sie faszinieren mich durch ihre Gesten und ihr sportliches Gehaben ungemein, hatte Ferdi einmal zu Leila gesagt. Während hiesige Sportler selbstsicher und routiniert ihr eigenes Training machen, stur zu Boden schauen, schwitzen, erkennt man Menschen von weiter weg oft durch einen umherwandernden Blick, völlig unkoordinierte Verausgabung, wilde Energie, fand Ferdi. Er spürte Verachtung gegenüber den Gesten europäischer, überbordender Selbstsicherheit, die in Fußballspielen und Actionfilmen gelehrt wurden. Alles so anstrengend. Ferdinand wurde zwar von allen liebevoll Ferdi genannt, hatte aber mit der geselligen Ameise aus der Trickfilmserie weniger Gemeinsamkeiten als ihm jeder zunächst andichtete. Auch der gemütliche Stier wollte nicht recht zu ihm passen. Ferdi fand Tier-Analogien auch schrecklich und einfach. Das Gleiche dachte er über Horden und Cliquen. Er hatte sich stets geschämt einer festen Gruppe von Menschen anzugehören, falls dies automatisch einmal passiert war. Überwiegend in seiner Jugend. Es hatte immer etwas Feiges, Ängstliches gehabt. Seit jeher, dachte Ferdi. Unflexibel waren Cliquen, sagte er. Du bist doch völlig daneben, hatte ihm eine seiner Exfreundinnen einmal dazu gegeigt. Ferdi war kein bornierter Typ. Er war wohl eher sensibel und empathisch. So hatte er Mitleid gehabt mit dem Menschen fremder Herkunft, als er ihn alleine auf dem Volksrasen sah. Mitten auf dem riesigen Rasen, einen Fußball jonglierend. Er hatte ein paar wilde Moves mit dem Ball gemacht. Spielte hier und da einen imaginierten Gegner aus. Hielt den Ball hoch. Alles völlig überzogen und hektisch, nach hiesiger Sicht, sagte Ferdi. Dabei blickte der Mensch ständig um sich. Vielleicht auf der Suche nach Beifall, dachte er. Vielleicht auch wollte er die Spieler, die eifrig in spontanen Teams auf den roten Tartanbahnen nebenan spielten, kopieren. Oder beeindrucken? Vielleicht dienen Volksrasen in seiner Heimat der Talentsichtung und er hoffte auf etwas? Solche Dinge wusste hier wirklich kein Mensch. Ferdinand erzählte Leila auch von der Begegnung mit Anis. Sehr detailliert. Überhaupt erzählte er oft von den Sommernachmittagen auf dem Rasen. Es stellte sich aber heraus, dass Leila diese Person vermutlich kannte. Anis. Man konnte es anhand einer Beschreibung, dünne Gestalt, sehr schöner breiter Mund, orangene Fußballstutzen, ein olivgrünes Trikot, in diesem Moment aber auch nicht genau sagen. Leila hatte das alles vermutlich schon mal gesehen. Als Ferdi ihn drei Wochen später wieder traf, lud er ihn ein in sein Team, den Anis. Seine Fußballkünste waren nicht schlecht. Er konnte immer wieder Leute ausspielen. Spielte nicht zu eigensinnig. Sie unterhielten sich nach dem Spiel. Er kannte Leila tatsächlich aus dem Wohnheim. Leila hatte organisatorische Funktionen und tauchte hin und wieder dort auf, machte Bürokram. Sie lachten über diesen Zufall. Andererseits ist diese Stadt aber auch nur ein kleines Kaff, hatte Ferdi gesagt. Anis verstand das Wort Kaff nicht. Eine small town war dann doch wieder etwas ganz anderes und sie nickten nur. Ferdi war wie immer sehr freundlich und aufgeschlossen. Als die Sonne unterging tauschte er sein Trikot sehr langsam gegen ein leicht ausgefranstes Ringel-T-Shirt. Anis und Ferdi verabredeten sich für die kommenden Tage auf dem Platz.

Zusammenfegen I

Kann sich ein fremder Mensch denn zuallererst über die Liebe integrieren, fragte Leila beim Abendessen. Kann man sich den Gegebenheiten hiesiger Liebe anpassen, den Umständen oder der Motivation? Die Fragen, die sie Ferdi während des Kauens eines belegten Körnerbrotes stellte, hatten es in sich. Sie hatte sie geübt. Leila hatte sie mehrmals geübt. Deshalb war es Absicht gewesen, während des Kauens. Ferdi konnte Leila manchmal nicht verstehen. Ihre Mitteilungslust war meist größer als seine. Vor allem beim Abendessen. Und Ferdi machte sich nicht besonders große Mühe, gerade weil das Begreifen nicht immer möglich war. Wie bei allen anderen auch. So wusste er keine Antwort auf diese doch recht seltsamen Fragen.

Zusammenfegen II

Immer noch Sommer, dachte Leila, als sie zum Wohnheim radelte. Es stand ihr schon nach Herbst. In Brasilien hatte gerade ein furchtbarer Rechtsaußen in der ersten Wahlrunde gewonnen. Er hasste Schwule, Demokratie und Reservate. Er wollte die Militärdiktatur. Leila hasste ihn. Leila hasste es, wenn Ferdi sich keinerlei Gedanken über so etwas machte. Du machst es dir sehr leicht, sagte sie dann immer. Das stimmt nicht, antwortete Ferdi darauf. Und tatsächlich stimmte es nicht, dass Ferdi sich nicht den Kopf über die Welt zerbrach. Es waren eben andere Dinge. Leila. Zum Beispiel. Lokalpolitik. Müllprobleme und Vegetarismus. Ferdi musste jetzt auch mehr arbeiten als Leila. Das Zimmer in der WG, in der beide wohnten, war seit Januar teurer geworden und Ferdis Bafög reichte nicht aus. So Sachen eben. Nicht ganz fair, sagte Ferdi da nur.

Die Jungs lernten nach dem Fußball sehr viel voneinander. Gingen manchmal etwas trinken. Einmal versuchten sie sogar einen Kinofilm. Nach einer Viertelstunde schon saß Anis nur noch da und grinste und stopfte sich ein Gummibärchen in den Mund. Ferdi deutete ihm überzeugend, dass es kein guter Film war und sie verließen das Kino. Sie kauften sich ein Bier und setzten sich auf die Treppen draußen. Anis erzählte viel. Manchmal etwas von Spanien. Manchmal etwas von Frauen. Ferdi hatte Anis gefragt, ob er denn glaube, dass man in anderen Ländern anders liebe. Keine Ahnung, sagte Anis.

Was Leila anging. Natürlich sprach sie Anis beim nächsten Mal an. Nach ihrer Unterhaltung. Sie bestellte Grüße von Ferdi, der keine Grüße bestellt hatte. Aber das sagte man eben so. Anis sah auch sehr gut aus, was seinen Körper und sein Gesicht betraf. Jedenfalls äußerst passabel, sagten Leilas Freundinnen. Hast du denn zu Hause auch Fußball gespielt, fragte Leila. Ja, aber nicht mehr in den letzten Monaten, sagte Anis. Und ob er denn vielleicht Lust hätte in einer Mannschaft zu spielen, Leila kannte da jemanden aus einem Team. Nein, gerade nicht. Beide lachten schon, obwohl es ja eigentlich gar keinen Grund dafür gab.

Zusammenfegen III

Anis war Ferdi ein wenig ans Herz gewachsen.
Anis war Leila ein wenig ans Herz gewachsen.
Auch Anis machte sich Sorgen. Es waren generell nicht dieselben Sorgen wie Leilas oder Ferdis. Sehr interessant, sagte Leila, wenn sie darüber sprachen. Sie konnte sich gegen eine gewisse Faszination nicht wehren und erkannte in Anis dann doch so etwas wie einen Gleichgesinnten. Vor allem abends. Oder nachts, bei einer verspäteten Tasse Tee und manchmal einer Zigarette.

Zusammenfegen IV

Immer wieder unternahmen sie etwas zu dritt. Einmal gingen sie ins Stadion, Fußball. Es kommt natürlich vor allem uns Jungs entgegen, dachte Ferdi. Wie schön, wir drei, sagte er. Aber auch Leila fand Fußball ganz gut. Anis erzählte etwas von einer bedeutenden Mannschaft bei sich zu Hause. Ein Manager — man wusste nicht was der Manager hierzulande bedeutete, es war ja kein großes Team, vielleicht ’Vorstand’ oder ’Abteilungsleiter’ — hatte sich mit dem Verkauf von Putzmitteln übernommen und den Verein finanziell mit reingezogen. Es gab nur noch die billigsten Spieler. Eine langweilige Erzählung, fand Ferdi. Leila freilich interessierte sich stark. So war das eine zeitlang. Und Ferdi musste für wenige Monate nach Bremen.

Anis kannte sich aus. Hatte sich viel umgeschaut. Eigentlich wie zu Hause. Er hatte ein nettes Mädchen kennengelernt. Sie waren mehrmals zusammen an den großen Fluss gegangen. Was für eine schöne Frau, sagte Anis zu Ferdi. Er brachte ihr mal ein kleines Buch mit Kinderversen ans Ufer worauf sie unheimlich stand. Einmal liehen sie sich eins dieser großen Tiere zum Aufpusten von einem netten Pärchen, das neben ihnen lag. Dann trieben sie damit den Fluss hinunter. Beim Zurücklaufen hielten sie ein bisschen Händchen und küssten sich am Platz. Nach einer Zigarette. Eine Woche später bekam Anis einen Brief.

Da war Ferdi schon in Bremen. Er könne ruhig, sagte Ferdi, für eine Weile in sein Zimmer ziehen. Wir suchen dir dann was Neues, meinte Leila. Es gab nicht viele Möbel und Leila half beim Umzug zusammen mit einem eher unbedeutenden Freund und einem von den Sozialdiensten. Sie mussten nur einmal fahren und Anis kochte abends für alle. Auch für die anderen in der WG. Leila verzog sich irgendwann in ihr Zimmer und versuchte, Ferdi zu erreichen. Ruf mal an, der Umzug war easy, sagte die Mailbox. Ich bin jetzt noch mit ein paar von der Arbeit auf ein Bier, telefonieren morgen, sagte Ferdi ein halbe Stunde später ins Nichts. Leila saß da schon wieder in der Küche mit Anis und den anderen.

Leila besuchte Ferdi in Bremen. Anis hatte eh Residenzpflicht, interpretierten alle. Sie waren mit Bekannten trinken. Ferdi und Leila schliefen dreimal miteinander, machten Liebe. Zu unterschiedlichen Tageszeiten. Glaubst du, das mit der Liebe kann man irgendwie umlernen, fragte Leila nach dem zweiten Mal. Ferdi wollte erst wissen, was Leila damit meinte. Die Vorstellung von dem Ganzen. Wie das sein soll, meinte Leila. Auf keinen Fall, sagte Ferdi zuerst. Nach dem umständlichen Zurechtrücken einer stark verschobenen Bettdecke aber: Eventuell, doch. Er war sich da keineswegs sicher und öffnete noch eine Flasche Rotwein mit Schraubverschluss. Überhaupt Liebe, dieses schwierige Thema.

Anis mochte Ferdi, aber Leila mochte er noch mehr. Das stand nach Leilas Rückkehr dann auch sehr bald fest. Es sprach so gesehen auch nichts dagegen. Abgesehen von einer üblichen Trennung. Wobei, eigentlich hat das ja auch seinen Reiz, fand Leila. Und die ganze Sache passe ja sehr gut zu ihr als Person. Sie stehe ihr, gestand sie sich in einer nächtlichen Stunde ein.

Und dann der Herbst. Ferdi brach ein und seine Arbeit ab. Seine Sachen holte er nur rudimentär aus der WG und zog vorübergehend zu einem Freund. Wie sowas immer passieren kann, sagte er dort. Die Kissen, die man ihm lieh, waren unbequem. Zigaretten waren wieder teurer geworden und in der dortigen WG klappten die Dienste zum Abspülen des Geschirrs keineswegs. Offenbar liebten Leila und Anis gleich. Im Sinne einer Art und Weise. Also doch die Gefühle, fragte sich Ferdi. Der Rest der sozialen Aufnahme Anis würde da sehr schnell folgen. Das fand Ferdi ein wenig gut. Er konnte ihn immer noch leiden. Trotz des kleinen Kopfkissens.

Für Leila und Anis war es eine tolle Zeit. Leicht unbequem, auch für sie. In geringen Maßen. Sie waren verliebt. Und alles andere, was dazu gehörte.

Der mittel- und arbeitslose Ferdi flog für einige Wochen irgendwo in der Stadt herum. Immer dort. Mit Freunden. Wenn Liebe kulturell gewachsen ist, braucht das jetzt auch Zeit, machte Ferdi dann mit sich ab. Vielleicht brauchen manche Sachen einfach sehr viel Zeit, und wir sind das nur nicht gewohnt, meinte er gegenüber einem Freund. Zweimal traf er Anis, dem er mit seinem Deutschkurs half. Trotz allem. Das schaffte Leila nicht, das mit der Grammatik. Für Anis ist es wohl etwas Selbstverständliches, sagte Ferdi. Konsequent, meinte er in seiner neuen WG am Tisch bei einem dritten Bier aus dem Kühlschrank. Anis bestand einen Test und Ferdi gratulierte. So war das dann. Und Anis wollte mehr.

Anis wollte eine Frau und wollte Festes. Zum Beispiel ausziehen mit Leila. Nach zwei Monaten. Er wollte es sehr. Und Leila merkte, dass sie das nicht wollte. Anis verstand nicht. Leila wollte es überhaupt nicht. Sie zog es auch nicht in Betracht. Anis hielt sich für einen einigermaßen schönen Menschen. Er würde schon noch Geld verdienen. Das war doch überall gleich gut. Es erschien ihm alles um Leila rum sehr unverständlich und Leila weinte. Wegen Anis. Wegen Ferdi schon nicht mehr.

Sie bildeten zu dieser Zeit dann ein komisches Dreieck. Sie mochten sich, aber wenig von ihnen wollte zusammenpassen. Für eine tiefe Freundschaft reicht es auch nicht mehr. Bei keinem der drei. Aber sollen wir alle drei so versickern, fragte Anis Ferdi bei einem abendlichen Treffen und einem Bier. Und einem Schnaps. Was das soll, mit dem Versickern, fragte da Ferdi. Das ist doch gar keine richtige Metapher, sagte er.

Anis blieb dabei und wollte das nicht ändern. Was bedeutet „Schnaps der Stunde“, dort drüben auf dem Schild, fragte er Ferdi. Prost, meinte der. Sie hatten bereits ein kleines Gläschen mit Klarem vor sich stehen. Ferdi und Anis stießen an.

Das ging noch ganz gut.