Heilige (W)orte

Die Kirchenbesuche mit ihrer Großmutter bereiteten ihr als Mädchen besondere Lust. Jeden Sonntag um neun, nachdem sie einen Malzkaffee getrunken und ein Briochekipferl gegessen hatte, durfte sie die mit Handschuhen und Hut feingemachte ältere Dame in die katholische Messe begleiten, neben ihr in der strengen Kälte auf der linken Seite des barocken Kirchenschiffes sitzen, wo die harten, dunklen Holzbänke für die weiblichen Gläubigen bereitstanden.
Sie fühlte sich dabei sehr ernst und erwachsen und kam sich so hübsch mit ihren aufgesteckten blonden Haaren vor, dass sie das Gefühl hatte, der geschnitzte Jesus am Kreuz zwinkere ihr flirtend zu. Den Pfarrer hielt sie ohnehin für einen ständig Verliebten, weil er seine Arme immer so ausgebreitet hielt und den Blick abwechselnd anmutig hob und verschämt zu Boden senkte. Außerdem trug er ein äußerst reizvoll wirkendes Kleid, unter dem hin und wieder weiße Spitzen hervorblitzten.
In der Luft hing der Geruch nach 4711 der Großmutter und zarter Weihrauchduft – etwas Aufregenderes konnte sie sich nicht vorstellen.
Die ganze Stimmung in dieser höhlenartigen, kerzenlichtgetränkten, gold- und dunkelrotdurchwirkten Kirche erlebte sie als zutiefst erotisch und ließ sich jedes Mal heimlich erregen davon. Immer wieder strich sie verstohlen mit der Hand über die samtrot bezogene Kniebank und über den goldbedruckten Einband des Gebetbuches. Bestimmt war der Heilige Geist in Form einer Taube schon in sie gefahren.
Die goldgerahmten Gemälde an den Wänden schienen geheimnisvoll aufregend durch ihren gleichzeitig ekstatischen wie schmerzverzerrten Ausdruck.
Sie ließ den Pfarrer nicht aus den Augen, der so viel von Blut redete und vom Fleisch, das „für euch hingegeben wird“. Besonders begeisterten sie jedes Mal die verschiedenen Formeln in altertümlicher Sprache, die nach einem bestimmten Ritus gesprochen wurden: „Ich bin nicht würdig, dass du eingehst unter mein Dach“ oder „Das ist würdig und recht“ – wie feierlich und wohlgesetzt die Worte wirkten und wie unverständlich zugleich – sie konnte sie immer wieder anders interpretieren. Manchmal dachte sie beim Dach an eine Hundehütte, das andere Mal an einen Obdachlosen, der bei ihr zu Hause sterben wollte, usw. Am meisten fasziniert war sie aber von dem Spruch „Und sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund“. Die ganze Messe hindurch wartete sie auf diesen Satz, der eine tiefe Sehnsucht in ihr weckte und sie zu Tränen rührte, die sie allerdings mit großer Mühe zurückhielt, um die angenehm leidvolle Stimmung noch zu erhöhen.