Hellas oder:
Schreibvorbereitung

Ich reise nach Griechenland. Ich kehre, höchsten Grades
traumatisiert, zurück. Einen Blick auf die Skizzen werfend,
die ich während der Reise gemacht habe, versuche ich zu
entscheiden, welches Genre zu meiner Erfahrung am besten
passt.

— Variante 1: Die Pinie —

Eine weibliche Cis-Frau gerade noch jungen Alters begibt
sich mit ihrer 80-jährigen Großmutter auf eine zwölftägige
Bildungsreise eines großen deutschen Reisebetreibers ans
neue Trendreiseziel Griechenland (hier kleine politische Spitze
einbauen). Erschöpfende Beschreibungen der intensiv duften-
den Flora und der leicht an- und absteigenden Hügelketten
jenseits des mit Körpern gepflasterten Strandes beschreiben
letztendlich äußerst geschickt das Wesen der Großmutter, die
seit wenigen Monaten verwitwet ist (besonders zu erwähnen,
die Kargheit, die trockene Hitze, die eruptive Fruchtbarkeit,
die Standhaftigkeit, siehe Pinie und korinthische Säulen-
stücke, die Brüchigkeit, siehe alle ruinösen Statuen, die Weisheit,
siehe Bibliotheken, die Vitalkraft, siehe Marmorbruchgeräte).

— Variante 2: Verwechslung in blau-weiß —

Crostas Karanthiakos ist ein versierter griechischer Reiseleiter
und Vater dreier Kinder, Costas Karanthiakos ist ein Kantinen-
arbeiter im griechischen Nationalparlament und ein Scharla-
tan. Durch eine Verwechslung werden die gesamten Reiseunter-
lagen für eine 24-köpfige deutsche Reisegruppe für die
Reise „Kreta: Feuer des Meers“ per Mail nicht an Crostas, son-
dern an Costas verschickt, der sich wiederum zu einer Kantinen-
auszeit berufen fühlt und flugs die Reiseleitung über-
nimmt (Spannung aufbauen). Die alten Körper werden tags-
über auf Fahrrädern, abends in Syrtaki-Bars wo immer das ei-
ne Lied läuft durchgeschüttelt (genau beschreiben: Schweiß-
tropfen auf den faltigen Armen), die Gruppe beschwert sich
erst am 4. Tag, als die berühmten Ausgrabungsstätten Idä-
ische Grotte und Diktäische Grotte immer noch nicht besucht
wurden.

Crostas bekommt vom Reisebetreiber Bescheid und versteht,
dass es ein großes Missverständnis gegeben haben muss, eilt
zu Fuß in einer den Marathon noch weit überbietenden An-
strengung von seiner griechischen Insel auf Kreta, findet die
Gruppe, passt den richtigen Moment ab um die Leitung zu
übernehmen (er und Costas gleichen sich nämlich aufs Haar),
führt alle zu allen schönen Orten und vermeidet den Eklat
mit dem Hochstapler, indem er diesem sein Ferienhaus auf
Santorini übergangsweise zur Verfügung stellt. Stilmittel bei
dieser Erzählung: Verwechslungen, Verwechslungen; die Kat-
zen gleichen sich, die Reiseteilnehmer*innen gleichen sich,
die Häuser von Costas und Crostas gleichen sich, die Hotels
gleichen sich, die Fähren gleichen sich…

— Variante 3: Stehende Mühlen —

Wie kann es sein, dass zu Zeiten des Kampfes gegen den Kli-
mawandel marode Windmühlen zum Zeichen eines neu-
en Savoir-Vivre werden? Warum sich eine Küste direkt am
steigenden Meeresspiegel für das weiß getünchte Steinhaus
aussuchen? Warum eine karge, heiße Landschaft zum Schön-
heitsideal erklären?

Schwer zu verstehen, ist es hier doch genauso: auf den weiß-
blauen Trauminseln der Kykladen vor der ostgriechischen
Küste. Funk-Reporterin Kristin Karajans begibt sich auf eine
spannende Reise in die byzantinische Vergangenheit und
multikulturelle Gegenwart und findet dabei vor allem eins
heraus – das hier ein Fleck ist, auf dem es sich leben lässt.

— Variante 4: Skandale und Liebe —

Eine Reisegruppe, griechische Ägäis. Wäre Rolf aus Sachsen
nicht schon in seinen Siebzigern – niemand hätte wohl diese
geballte Menge an Verachtung für eine unschuldige Liebe
zwischen ihm und der 18-jährigen Lena übrig gehabt. So trägt
sich Tragisches zu – auf hoher See und allem.
Vom Stande und von der Bildung einander ebenbürtig, von
Schönheit der Körper und der Geister durchaus auf Augenhö-
he, fehlte der zarten Zuneigung der beiden Fernost-Reisenden
leider nur das ähnliche Alter. Wären es zwanzig Jahre Alters-
unterschied gewesen, ach!, niemand wäre ihretwegen beson-
ders betrübt gewesen. Aber so verzieht Renate, die mitreisen-
de Kupplerin, ihr Gesicht ordentlich in Falten und reist mit ih-
rer Nichte verfrüht zurück nach Mitteleuropa. Rolf bleibt aus
Gram für immer in einer Einsiedlerwohnung in Piräus; Lena
stürzt sich fast von der Fähre in Richtung Italien, belässt es
dann aber doch dabei, in Marburg das Studium der Kultur-
anthropologie und Gender-Studies aufzunehmen.

— Variante 5: Splatter an einem Feiertag —

Es ist Feiertag, ein Septemberlichter Feiertag, daher wollen
heute alle Griechen auf die gegenüberliegende Insel zu ihren
Familien und ihren Affären. Sie sind auf die schwarzrauchen-
den Ungetüme angewiesen, die sie Woche für Woche, Feier-
tag für Feiertag verlässlich über die erstaunlich ruhige, blaue
See befördern. 600 Menschen gehen auf Tinos an Bord der
Naxos Star, einer großen Fähre. Sie wissen noch nicht, dass
sie das letzte Mal die Ägäis sehen, als die Klappe der Fähre
langsam nach oben klappt und der Lichtstrahl auf den ehr-
fürchtig erhobenen Gesichtern kleiner und kleiner wird. Vom
Treppenaufgang strömen plötzlich die Leute zurück in den
Bauch des Schiffes. Erikos steht in zweiter Reihe am oberen
Ende des Treppenaufgangs und muss entsetzt mitansehen,
wie ein Minotauros, fünf Kyklopen und die drei Erinnyen seine
Mutter mitten durch aufschneiden, aufspießen und ∗∗∗. Blut
überall. Nichts als ∗∗∗ und ∗∗∗. Entsetzt folgt Erikos der flie-
henden Menge, stürzt sich die Treppe wieder hinunter. Durch
die Fenster streckt Hydra ihre zehn Köpfe und ∗∗∗. Schreie,
die immer wieder abrupt abbrechen. Bevor er seinen Kör-
per in alle Richtungen spritzen spürt, meint Erikos, ein tiefes
Glucksen aus der Metallverkleidung zu hören. Als käme es
von der Fähre selbst.