Die Frau trat ins Zimmer. Obwohl sie nicht groß war, zog sie den Kopf ein, als sie durch die Türe ging, so winzig war das alte Häuslein mit dem Bollerofen in der Ecke, an dessen Seite es sich die Katze gemütlich gemacht und sich auf ihrer alten Lumpendecke gemütlich eingerollt hatte. Sie hatte Tränen in den Augen. Nicht Traurigkeit drückte ihre Brust, sondern Angst und Ungewissheit. Wie es ihm sagen? Ihn wecken?

Wäre doch nur der Sohn noch da. Die ganze Nacht hatte er am Bette von Oma Hilde gewacht und ihr aus ihrem geliebten Bergroman vorgelesen, ihre Hand gestreichelt. Dann hatte er sich rasiert und aufgemacht in die Stadt, wo er einen wichtigen Termin hatte.

Die Frau trat ans Bett. Sie beugte sich über den beuligen Körper des alten Mannes und konnte seinen Atem hören, tief bewegte sich die Brust und die Lippen vibrierten beim Einsaugen und wieder Ausgeben der Luft. Er hatte Warzen im Gesicht und war ob der Anstrengungen der letzten Tage nachlässig rasiert, Haare standen ihm aus der Nase und ein Muttermal hüpfte behände hin und her, als er im Traum nach einer Fliege schlug und sie von seiner Stirn verjagte. Die Frau packte ihn bei den Schultern. „Herr Kümmetmann, Herr Kümmetmann… Stehen Sie mal auf!“

Er kniff ein Auge auf, dann auch das andere, schwer gähnte er und die Stirn legte sich in Falten. Er hatte die ganze Nacht die Tageskleidung angehabt und orientierte sich. Die Frau nahm seine Hand. „Kommen Sie mal, hoch mit Ihnen!“ Er zog sich an ihr hoch, sie ließ sich etwas zurückfallen, um schwer genug für ihn zu werden, er war doch immer noch ein stattlicher Mann. Als er auf der Kante des alten Holzbettes saß blickte er ihr in die Augen. Keine Regung war in seinem Blick, nur Ruhe und Gelassenheit, auch etwas Müdigkeit. Sie packte ihn bei den Schultern. „Herr Kümmetmann, Ihre Frau ist gerade gestorben.“ Er schaute die Frau an. Lange schaute er sie nur an. Dann legte er seine Hände übereinander und sagte: „Meine Hilde. Meine Hilde. Meine Hilde.“ Immer wieder: „Meine Hilde.“ Dann saßen sie sich gegenüber. Die Frau überlegte. Überlegte er auch? „Wollen Sie einen Kaffee trinken?“ Ja, das wollte er.

Die Frau nahm seine Hand in die ihre und zog ihn ganz hoch. Dann gingen sie wieder auf den alten, vergilbten Türrahmen mit den Flecken und Kratzern zu, sie beugte sich wieder und gemeinsam gingen sie durch die Tür. Nach wenigen Schritten erreichten sie die entsetzlich steile Treppe mit den winzigen Stufen. Ganz langsam, immer eine Stufe mit zwei Schritten ließ Franz Kümmetmann sich die Treppe des alten Vogelhauses herab.

Durch einen kalten Flur mit meliertem Steinboden ging es in die gute Stube. Mollig warm war es hier, wieder eine Katze, es roch modrig und muffig in dem 100 Jahre alten Häuschen. Eine alte Klappcouch in der Ecke, davor ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen, in der Ecke ein Korb mit Zeitschriften – die Alten hatten immer mit ihrer Lupe gelesen –, ein großer schwarzer Feuerherd mit vielen Platten, daneben ein Ofen.

Die Frau setzte Kaffee auf und gab ihm ihn. Sein Adamsapfel wölbte sich beim Trinken kräftig nach vorne, er strich sich ein Rinnsal Kaffee von seinem kurzen Stoppelbart, leckte sich die Lippen. Die Frau schnitt ihm mit einem kleinen Messerchen zwei dicke Scheiben Brot und zwei noch dickere Scheiben Käse ab und legte sie auf einen Teller vor ihn. Er biss ab.

„Meine Hilde. Wir sind mal mit dem Fahrrad nach Wulfshausen gefahren. Man durfte damals nicht so lange raus und die Polizei ist gekommen. Dann sind wir schnell in den Wald gehupft. Mit den Fahrrädern. Wir waren ja noch jung.“ Er sprach undeutlich, aber seine Augen waren ganz klar. Er schweifte ab. Er konnte es jetzt sehen.

Es war eine glasklare, schneidend kalte Nacht gewesen, doch dem jungen Liebespaar war warm vom Fahrradfahren. Sie fuhren und scherzten und neckten sich. Sie fuhr immer gerade aus und weil er nicht wusste, wohin mit seiner Kraft, fuhr er Schlangenlinie und pfiff dabei ein Lied. Eiernd schleiften die Trafos der Räder an den Reifen und erzeugten ein warmes, wenn auch nicht ganz ausreichendes Licht vor ihnen.

Plötzlich wurde dieser Lichtkegel von einem größeren geschluckt. Das konnte zu dieser Sperrstunde nur die Polizei sein. Sie bekamen einen Schreck, doch wie von jeher wie wenn man die Augen zumacht und das Andere da drüben spürt, überkam sie Abenteuer und Leben, sie mussten lachen und kamen sich vor, als wären sie geradewegs einem Liebesroman zur Hintertür entwischt.

„Schnell, ins Holz!“ raunte er. Sie bremsten quietschend, er sprang von seinem Rad, sie blieb beim geschwinden Absteigen mit ihrem Kleid am Sattel hängen und schrie leise vor Vergnügen. Er schürzte die Lippen und er hielt seine gestreckten Finger davor. „Pschschscht!“ Dann huschten sie ins Unterholz.

Ein Motor heulte auf und kam näher. Grell jagten Lichtstreifen zwischen den Bäumen in die Wälder. Sie lagen nun in einem nassen Graben mit Gräsern und feuchten Blättern, sie bäuchlings in ihrem Kleid und er zu ihrer Seite längsseits halb auf ihr drauf. Sie musste kichern, er nun auch. Sie blickten dem Auto nach wie es drei- oder viermal wendete und sie suchte. Er konnte ihre Brust beben spüren und roch ihre schwitzige Haut und ihr Parfüm, seine Nase lag nun in ihrem Haar.