In der Welt verstecken

Das Handy, das er vor sich auf dem Tisch neben dem Buch, in dem er liest, liegen hat, vibriert, reißt ihn aus dem Lesefluss, was ihn ärgert, und verlangt mit seinem aufleuchtenden Bildschirm nach Aufmerksamkeit, die er ihm reflexartig gibt, was ihn gleich darauf noch mehr ärgert, liest er doch da, dass ein Mail eingegangen ist, von einer Frau, von der er schon seit Jahren nichts mehr gehört hat, und er weiß, dass es damit mit dem Lesen vorbei ist, dass er jetzt erst recht abgelenkt ist, dass er, bevor er das Mail nicht liest, an nichts anderes mehr denken wird können, als an das, was sie will, was in dem Mail steht, was ihr scheinbar so wichtig ist, dass sie ihn gegoogelt hat, um seine Mailadresse herauszufinden, die er schließlich noch nicht so lange verwendet, wie er die Frau schon nicht gesehen hat, was schon knapp zehn Jahre her sein muss, und erst knappe fünf Jahre ist es her, dass er aufgegeben hat, nach ihr zu suchen, akzeptiert hat, dass sie nicht gefunden werden will – zumindest nicht von ihm – und ein neues Leben angefangen hat; ihn somit zwang, auch ein neues Leben anzufangen, was er vor fünf Jahren dann auch tat – samt neuer E-Mailadresse, bedingt durch seinen neuen Arbeitsplatz; beim alten wollten sie ihn nicht mehr, nachdem es ihm schlecht gegangen war –, nur damit nun sie Kontakt zu ihm aufnimmt, was ihn – so viel Weitsicht, wenn auch keinen Durchblick, denn er versteht genauso wenig, warum sie ihm schreibt, wie er damals verstanden hat, warum sie gegangen ist, hat er – nicht nur aus dem Lesefluss gerissen hat, sondern auch, wenn er nicht aufpasst, aus dem Lebensfluss, der bis gerade noch ruhig und stetig floss, reißen wird, ihn in Grübeleien und Ängste und Gefühlsduseleien stoßen wird – ihn, der sich, so fühlt es sich jedenfalls an, gerade erst zu einem ruhigen, gesetzten, wenn auch nicht glücklichen, jedoch wenigstens zufriedenen Mann entwickelt hat; einem Mann ohne grobe Probleme, dessen größter Aufwand im Leben die Steuererklärung ist, der einen Job mit Aufstiegschancen hat, der letzte Woche zum dritten Mal mit derselben Kollegin zu Abend gegessen hat und hofft, das diese Woche zu wiederholen, sich für dieses Unterfangen auch recht gute Chancen ausmalt; ihn, der eine schöne Wohnung mit Balkon hat (in die er die Kollegin diese Woche nach dem Abendessen einladen wird, und sich auch dabei gute Chancen ausrechnet), in einer Straße, am Rande der Stadt, fast schon am Land, wo kleine Vögelchen, deren Namen er nicht weiß, denen er aber trotzdem ein Futterhaus im Winter und einen Brutkasten im Sommer aufhängt, ihn singend wecken; ihn, der den Alkohol aufgegeben hat; ihn, der freitagabends mit alten und neuen Freunden feiern geht oder sie zu sich einlädt und sich an den restlichen Wochentagen meistens zu Hause etwas kocht und das genauso genießt; ihn, der seine Freizeit, wenn er sie allein verbringt, meist mit Büchern füllt, die er verschlingt und abends immer noch Tabletten zum Einschlafen braucht, da er sonst die Nacht durchlesen muss, um nicht denken zu müssen (wobei das eine Verbesserung ist, hat doch früher der Alkohol sowohl die Funktion des Lesens als auch die der Tabletten innegehabt) –, ihn wieder in die Strudel saugen wird, die seine Jugend waren, in die Wirrnis, die seine Erinnerung an diese Zeit darstellt, und die er nicht nochmal durchleben möchte, wie er vor fünf Jahren beschlossen hat, an deren Anfang er ein Wrack war, das in irgendwelche Untiefen gesunken ist, das erst langsam wieder geborgen und, schlussendlich, wieder repariert werden konnte, nur damit nun dieses Mail, das er sich immer noch nicht traut, zu öffnen, wie eine Kanonenkugel angeflogen kommt, um erneut ein Loch in den gerade geflickten Bug zu reißen, nur damit alles wieder von neuem losgehen kann; doch weiß er es diesmal besser, er wird dieses Mail einfach nicht öffnen, sie ignorieren, die Kanonenkugel, ohne Schaden zu verursachen, vorbeifliegen lassen, damit sie irgendwo im Meer versinkt, und sie vergessen, und sie wird es verstehen, ihn in Ruhe lassen, sie wird es richtig deuten, dieses Ignorieren, sie ist ja nicht dumm, sie wird ihm nie wieder schreiben und ihm auch nicht irgendwo auflauern, ihn gar in der Arbeit besuchen, so etwas würde doch niemand machen, abgesehen von ihr vielleicht, denn an sich ist er auch immer davon ausgegangen, dass niemand einfach so, sang- und klanglos verschwindet (wobei, so ganz ohne Sang oder Klang war es ja gar nicht: einen Brief hat sie ihm hinterlassen, in dem sie ihn bat, nicht nach ihr zu suchen, sonst hätte er ja auch davon ausgehen können, dass sie entführt worden war oder ähnliches, womit er besser klar gekommen wäre als damit, dass sie aus freien Stücken weggegangen ist, einfach weg von ihm oder zu jemand anderem wollte, wie er sich eingestehen muss), und doch hat sie genau das getan, warum sollte sie nicht auch hier mit allem brechen, was einem normalen Menschen der gesunde Menschenverstand diktieren würde, was Empathie diktieren würde, schließlich muss sie sich doch im Klaren darüber sein, dass sie ihn verletzt hat und dass sein Meiden nur bewusst geschehen kann, und er sie nie wieder sehen will, genau wie, als sie ihn gemieden, beziehungsweise sich in der Welt versteckt hat, er nach einer Zeit richtigerweise eingesehen hat, dass es nichts nutzt, nach ihr zu suchen. Er steht auf, sieht aus dem Fenster auf den Balkon, wo eine Amsel, die die Samen und Nüsse, die er in das Futterhäuschen gestreut hat, aufpickt, seine Aufmerksamkeit kurz in Anspruch nimmt und ihn sich fragen lässt, wie der Name dieses Tieres mit dem leuchtend-orangenen Schnabel wohl lautet, nur um den Blick von der dürren Winterlandschaft abwendend wieder auf das laut liegende Handy fallen zu lassen und die kurze Rührung, die der dankbar wirkende Vogel in ihm ausgelöst hat, wieder vergessen zu machen und er kann sich gerade noch daran hindern, auf das Handy zuzustürzen, es anzuschalten und zu lesen, was sie geschrieben hat, sondern den Sturz an Handy und Tisch vorbei Richtung Tür lenken, sich seinen Mantel überwerfen und sich aus der Situation entfernen, wie sein Therapeut gesagt hätte, wie ihm jetzt einfällt und ihn ruhiger werden lässt, Atemübungen machen lässt, die er auch von dem Therapeuten hat, sich nach links wenden und in den nächstgelegen Park spazieren lässt, da Bewegung an der frischen Luft und Grün die Laune hebt, wie sein Therapeut immer sagt und sich auf die Suche nach weiteren orange-beschnäbelten schwarz-gefiederten Vögelchen machen lässt, da er selbst gemerkt hat, dass ihn das Tier ruhiger gemacht hat – schon der Gedanke an das Hüpfen des Tieres lässt ihn lächeln und beschließen, zu Hause im Internet in irgendeiner Vogeldatenbank herauszufinden, wie das Tierchen wohl heißt und ob man es anlocken oder selbst finden kann, im Park zum Beispiel, wohin er immer noch auf dem Weg ist, mechanisch, bei Rot stehen bleibend, bei Grün gehend, ohne darüber nachzudenken; er kennt den Weg, geht ihn oft, ist ihn auch früher oft gegangen, zusammen mit ihr; naja, vielleicht wird die Kollegin auch gerne spazieren gehen; dann wäre er nicht so allein, müsste sich nicht darum kümmern, wie irgendwelche Viecher heißen, mit denen man sich sowieso nicht unterhalten kann, die einem nur noch bewusster machen, wie allein man eigentlich ist – denn wie einsam muss einer, der sich nichts, aber auch rein gar nichts aus Vögeln macht, sein, um plötzlich an einem davon interessiert zu sein, sogar seinen Namen herausfinden will? – und sich den Schädel noch dringender einschlagen will, weil sie einfach fort gegangen ist, nur den dummen Brief hinterlassend, ihn wirklich nicht mehr sehen wollend, wo er ihr doch nie etwas getan hat; ganz im Gegenteil: wo er doch – seiner Auffassung nach – ein vorbildlicher Partner war – liebevoll, rücksichtsvoll, humorvoll – und so etwas, so behandelt zu werden, nicht verdient hat. Schon ist das beruhigende, Atem-verlangsamende Grün um ihn herum, aber statt den erhofften Orangeschnäblern sieht er Menschen, die ihn wiederrum beunruhigen, kommen sie ihm doch seltsam bekannt vor und er begreift schnell, Sekundenbruchteile sind lang dagegen, so schnell begreift er, doch die Winzigkeit an Zeit, die vergeht, zwischen dem Sehen und dem Begreifen, reicht aus, um ihn schwindelnd zu machen; er fühlt sich, als wäre sein Hirn auf eine Singularität zusammengepresst worden, einen Punkt ohne Ausdehnung, in dem Zeit und Raum eins werden und der nur aus diesem bekannten Gesicht besteht, das ihm von jedem entgegenkommenden Kopf herunter oder herauf anstarrt, lächelnd, weinend, schmachtend; schlicht in allen Ausdrücken, in denen er das Gesicht schon gesehen hat und er fällt zu Boden, die Singularität explodiert, dehnt sich aus, ein Universum aus diesem Gesicht formend und er schwebt durch dieses Universum hindurch und weiß, er liegt noch immer am Boden, am Kiesweg, er spürt die Steine unter sich, bemerkt erst jetzt, dass er barfuß außer Haus gegangen ist, sieht, dass da kaum Grün um ihn herum ist, schließlich ist Winter, aber die Menschen, die ihm zu Hilfe eilen haben alle immer noch ihr Gesicht; er sieht sie überall, sein Universum ist sie, und er weiß, wäre er doch zu Hause geblieben, in Sicherheit – statt selbst hinauszugehen hätte er, hätte es ihm weiter keine Ruhe gelassen, das Handy hinauswerfen können, vom Balkon herunter; dort hätte es, gesetzt den Fall, den Sturz überlebt zu haben, weiter Mails empfangen können, von wem auch immer, dort hätte es ein Loch in den Boden vibrieren und sich selbst eingraben können; zumindest er hätte Ruhe gehabt –, bräuchte sich nun keiner um ihn sorgen; er will nicht, dass man sich um ihn sorgt, schließlich ist er schon weiter, seit fünf Jahren braucht sich niemand mehr Gedanken darum machen, wie es ihm geht; es geht ihm doch gut, er hat es überwunden, verkraftet, kann es beiseiteschieben, eigentlich, nur heute nicht, und ausgerechnet heute muss er sich in den Park, unter Leute begeben, die ihm die Rettung rufen werden und ihm sagen werden, dass alles gut würde, und die Rettung würde ihn ins Krankenhaus bringen, und ganz schnell wäre er wieder bei dem Arzt, der immer sagt, es gäbe keinen Brief, dass er sich diesen genauso eingebildet, wie er den Autounfall von seiner Festplatte gelöscht hat, den Brief gewissermaßen an der Stelle des Autounfalls gespeichert hat, wo das eine nun das andere überdeckt, weil es um Welten einfacher ist, sich einzureden, verlassen worden zu sein, wie die Wahrheit zu akzeptieren; der sicherlich auch behaupten würde, dass sie ihm nicht geschrieben hat, heute; dass er sich verlesen haben muss, denn sie lebt schließlich nicht mehr, er war ja schließlich dabei, und er würde das Wort „schließlich“ überstrapazieren, als ob alles so logisch, so schlüssig wäre, schließlich muss er das doch wissen, er hat ja das Auto vor zehn Jahren gelenkt, da sind doch die Narben, schließlich ist doch alles ganz klar, schließlich waren wir doch schonmal weiter, schließlich wäre das kein Problem, hätte er die Medikamente nicht abgesetzt, ohne mit ihm darüber zu reden, wer weiß, wie lang das jetzt dauern wird, bis wir wieder so weit sind. Wir – als ob der Arzt etwas damit zu tun hätte. Und – schließlich – fügt er sich.