Meine Schuld?!
Stille. In mich gekehrte Stille. „Bin ich ganz alleine schuld? Ich mein es geht doch nicht. Doch irgendwie tut es das. Warum habe ich es zugelassen? Hält das Gefühl für immer an oder geht es irgendwann weg?“ Nun sitze ich hier an einem Freitagabend im Supermarkt, bei diesem unnatürlichen, grellen Licht in Handschellen und ertrage die Fragen des Polizisten, der mir gegenübersitzt. Sein Blick zeigt eine Mischung aus Ehrfurcht und Mitleid. „Hören Sie mir überhaupt zu?“, seine Stimme lässt mich wieder zuhören. „Wie viel Uhr haben wir?“, meine Gegenfrage, ehe er „19:06 Uhr“ antwortet. Doch erläutern wir alles in Ruhe. Ich werde Schritt für Schritt zum Anfang kommen.
„Alexa, wie viel Uhr haben wir?“ – „Es ist 18 Uhr und 32 Minuten.“ Netflix läuft nebenbei, ich schaue hin und wieder hin auf den Fernseher. „Was habe ich nur falsch gemacht? Warum kann es nicht so sein wie in den Serien? Man liegt mit jemandem im Arm und alle Probleme dieser Welt sind wie weggeblasen.“ Ich schaue neben mich und sehe einen Menschen. Die braunen Haare liegen auf meiner Brust, die Augen geschlossen. Der Mensch schläft, doch ich kann es nicht. Vor zweieinhalb Stunden haben wir angefangen miteinander zu schlafen, danach ist der Mensch sofort eingeschlafen und mir flossen meine Tränen an meiner Wange entlang, um auf die Bettdecke zu tropfen, wie der Anfang eines Regentages. „Einkaufen! Ich muss noch einkaufen, morgen ist ein Feiertag“, schoss es mir in den Kopf. Also löse ich seine Arme und lege sie auf die warme, leere Stelle des Bettes, an der ich gerade noch lag und stehe auf und ziehe mich an. Ein kurzer Blick noch zurück, ehe ich aus dem Haus gehe. Ich gehe direkt zum Milchregal und überlege was ich außerdem noch brauche. Mit einem Male fallen mir die ganzen Menschen auf, wie sie beschäftigt im Laden umherlaufen, sich niemand um den anderen schert, oder nur ängstliche Blicke austauschen, um weiterzugehen. Kennst du diesen Moment, an dem du nicht mehr realisierst, warum alles gerade passiert und dir alles zu viel wird? Man möchte nur noch schreien. Aber meist schreit man nur in seinem Kopf.
Bei mir sind es die Menschen. Es sind so viele und es scheinen immer mehr und mehr zu werden. Eine Frau streift meine Hand im Vorbeilaufen und ich kann nicht mehr. Ich lasse alles fallen und schreie und schreie und schreie: „Geht alle weg, verpisst euch!“ Ich nehme ein paar Dosen aus dem Regal und werfe sie einfach drauf los. „Bitte beruhigen Sie sich doch!“, meint ein Mitarbeiter zu mir. Doch ich kann nicht mehr. So lasse ich meine Gefühle, über Tage angestaut, einfach raus. Ich realisiere es geht nicht einfach weg, es ist für immer da. Da kommt auch schon die Polizei, meine Statur ist eher schmächtig, so konnten beide mich ziemlich schnell packen und mir Handschellen anlegen. Einer kümmert sich um die anderen im Supermarkt, während der andere mich ausfragt und wir auf den Rettungsdienst warten. Ich höre ihm nicht wirklich zu, kehre zu meiner inneren Stille zurück. „Hören Sie mir überhaupt zu?“ „Wie viel Uhr haben wir?“ „19:06 Uhr. Und erklären Sie mir jetzt woher die Blutergüsse auf Ihrem Gesicht kommen?“
Seit zwei Tagen fühle ich mich komisch. Es tut mir weh, wenn ich an vorgestern denke. Aber jeder sagt doch immer, dass so etwas nicht geht. Jeder sagte mir doch immer, wenn so etwas ist, soll man glücklich sein, dass es überhaupt passiert ist. Doch ich fühle mich scheiße. Ob man sich immer so fühlt? Es klingelt. Es ist 16 Uhr und ich will keinen mehr sehen. Wer klingelt denn jetzt schon wieder. Ich mache die Türe auf und vor mir steht diese Person. Sie umarmt mich sofort „Oh, Baby es tut mir so leid“, sagt das Individuum und streichelt zart über meine Wange. „Ist schon ok, ich weiß es war nicht so gemeint von dir“, entgegne ich ihm, ehe es versucht mich zu küssen, doch ich weiche aus. „Jetzt stell dich nicht so an wie eine Pussy, es hat noch niemandem geschadet“, das Geschöpf nimmt meine Hand und zieht mich in mein Schlafzimmer. Wir setzen uns aufs Bett. Ich werde ein wenig amüsiert angeschaut: „Ich wollte es nicht, ok? Wirklich alles wieder gut?“ Wie kann ich denn nicht verzeihen, wenn ich so angeschaut werde und solch liebe Worte an mich gerichtet sind. „Ja, wirklich!“ – „Dann küss mich doch.“ Ich küsse die Lippen und sofort werde ich gestreichelt. Ich zucke beim Streicheln erst zurück. Ich will es nicht. „Bitte nicht!“, sage ich, doch es kümmert niemanden. „Komm schon willst du mich nicht glücklich machen?“ – „Ja, doch schon!“ – „Na komm, ich will dich jetzt und wäre wirklich traurig wenn du jetzt nicht willst.“ – „Aber bitte nicht wieder so.“ Ein Körper setzt sich auf mich und fängt wieder an mich im Gesicht zu schlagen: „Los jetzt du Hure, mach schon, es ist das einzige was du überhaupt halbwegs kannst!“ So tue ich was von mir verlangt wird. Während ich weiter beschimpft und niedergemacht werde, fühle ich mittlerweile dabei schon nichts mehr und lasse es über mich ergehen. „Sei nicht so eine Pussy“, bekomme ich ständig zu hören. Ich glaube man stumpft einfach ab mit der Zeit. Am Ende bekomme ich wieder eine Entschuldigung. Dann legt sich das Geschöpf auf meine Brust und schläft ein. „Muss es immer so sein? Wir mögen uns doch, oder?“ Auch wenn ich es nicht verdient habe. Tränen laufen an meiner Wange entlang und tropfen auf die Bettdecke. „Wie der Anfang eines Regentages“, schießt es mir in den Kopf. Doch nach Regentagen kommen ja auch irgendwann wieder Sonnentage. Also meistens jedenfalls. Ich schalte Netflix ein und mache eine Serie an. Nach einiger Zeit frage ich: „Alexa, wie viel Uhr haben wir?“
Es ist Mittwochabend, wir haben 22 Uhr und so will ich alles nicht. „Nun mach schon du Nutte!“, höre ich noch, ehe ich eine Hand mit voller Wucht an meinem Auge spüre. Sofort strömen mir Tränen aus meinem Auge. „Jetzt heulst du auch noch, oder was?!“, werde ich angeschrien, ehe mein Kopf zwischen die Schenkel gedrückt wird. „Gott, wie erbärmlich du bist!“ Ich tue meinen Dienst und weiß nicht, ob es richtig oder falsch ist.
„Sei nicht so eine Pussy. Es ist 17 Uhr an einem Mittwochabend, da können wir schon trinken!“, sagt sie zu mir. Wir lernten uns am Anfang des Semesters durch unser gemeinsames Studienfach kennen, weil ich ein T-Shirt unserer gemeinsamen Lieblingsband anhatte. Ich war interessiert, doch beschränkte sich unser Kontakt bisher auf Freundschaft. Dabei entsprach dieses Individuum genau dem, was ich immer bei anderen Suche. Offen, kreativ, kümmert sich um andere. Hat aber auch Spaß im Leben und genießt die Momente. Doch im Gegensatz zu den meisten, kann ich meine Gefühle hinten anstellen. Mir geht es darum, andere glücklich zu machen und nicht mich selbst. „Ok, aber nicht so viele, bitte“, meine ich. Ein paar Drinks später gehen wir zu meiner Wohnung. „Komm schon, du willst es doch schon seit wir uns kennen“, bekomme ich in mein Ohr gehaucht, ehe wir uns küssen.
„Hi, ich bin Nicole.“ – „Ich bin Adam“, stelle ich mich vor. „Sorry, ich mag dein T-Shirt. Disturbed ist auch meine Lieblingsband“, sagt sie zu mir, ehe alles begann.