KOLUMNE #2:
Titanic

Leben wir schon zu lange ohne Krieg, dass wir den Frieden überhaupt nicht mehr wertschätzen können? Sind wir schon zu lange den Fuchteln der Fürsten und Bischöfe entrissen, dass wir wieder anfangen, nach starken Autoritäten zu schreien und uns (Pseudo-)Religionen in unser Leben holen? Wissen wir mit der Freiheit nicht mehr anzufangen, als sie zum Konsum zu missbrauchen? Oder sie uns auf gefährliche Weise zurechtzubiegen, damit wir schließlich alles damit legitimieren können? Es ist eine schwierige Zeit, denn härter denn je wird auf dem Dampfer, der uns alle in finsterer Nacht durch das Treibeisfeld bringen soll, um das Steuer gestritten.

Teil 1: Der Weg ins Eisfeld

Die Religionen haben ihre Zähne verloren; ihre anachronistischen Heilsversprechen offenbaren sich heute mehr denn je als fragile Luftschlösser. Die Naturwissenschaften werden uns nicht retten; das war auch nie ihr Zweck und wird nie ihr Anspruch sein. Es gibt keine allumfassenden Antworten auf unsere existenziellen Fragen; worin liegt also der Sinn, wenn wir aus dem Nichts kommen und ins Nichts gehen? Wir haben keine Schlachten mehr zu schlagen, keine Grenzen und Verfassungen mehr zu verteidigen; zumindest nicht mit dem Seitengewehr unter dröhnendem Mörserfeuer. Der Faschismus wurde in seine Schranken gewiesen, der Kommunismus ist de facto kollabiert. Der (Markt-)Liberalismus hat sich durchgesetzt und schenkt uns seit Jahrzehnten Frieden und ökonomischen Wohlstand. Zumindest hier im Abendland. Zumindest auf dem Papier. Auf diesem sind wir augenscheinlich frei! Doch wenigstens frei von äußeren Einschränkungen. Wirklich, richtig, komplett frei?

Es bleibt ein Makel! Obwohl wir nicht mehr von Glaubens- und Sittenlehren eingeschränkt werden und uns keiner allmächtigen Partei und keinem König, Zar und Führer mehr unterordnen müssen, wissen wir dieses historisch einmalige Geschenk doch nicht handzuhaben. Unser liberaler Westen wird permanent bedroht, und zwar in erster Linie durch uns selbst: Wir scheuen die Verantwortung, die uns die Freiheit auferlegt und tuen nichts zu ihrer Verteidigung. Die junge Generation – zu der auch ich mich zähle – hat keinen Krieg, Hunger oder gesellschaftlich verankerten Hass mehr erlebt. Sie sieht Glück und Freiheit daher als Geburtsrechte an und vergisst, wie viel Blut ihretwegen durch den Rinnstein floß. Die ältere Generation wiederum hatte noch die Lasten der Kriegs- und Nachkriegsjahre zu tragen; die heutige Welt wurde durch ihr Blut ermöglicht und aus ihrem Schweiß geschaffen. Sie hat sich eingerichtet und ist des Kampfes müde. Das Resultat ist erschreckend: Die einen können, die anderen wollen den permanenten Kampf für die Freiheit nicht mehr führen.
Diese Pauschalisierung vereinfacht die Tatsachen vielleicht etwas zu sehr, mag sein. Gesamtgesellschaftlich gibt das Verhalten der Menschen jedoch keinen Anlass dazu, die Schärfe der Formulierung zu mildern: Die Menschen leugnen die Verantwortung oder marginalisieren sie, bis sie gerade noch durch die eigene Moral konform erfüllt werden kann. Die Leugnung der Verantwortung nimmt die verschiedensten Formen an: Viele Menschen nehmen Freiheit heute wohl hauptsächlich als Konsumfreiheit war, als Recht, jederzeit und überall alles erhalten zu können. Die Folgen sind nicht zu übersehen: Die Mehrheit des Westens ist übergewichtig, die Müllberge auf der Welt nehmen zu und der Unterhaltungssektor erweist sich wie eh und je als absolut krisenfeste Branche. Doch ist das ein würdevolller Umgang mit den Errungenschaften unserer Welt? Einfach so viel zu fressen, zu kaufen und seichte Unterhaltung zu konsumieren, bis jede Frage nach dem Sinn und jeder kritische Gedanke vollständig verdrängt sind? Ich lasse die wohl einfach zu findende Antwort hier mal offen …
Andere Menschen flüchten sich statt in nihilistischen Konsum in überholte Sinnsysteme: Sie erheben die starke deutsche Nation oder die biblische Geschichte zu ihrer Maxime. Anstatt sich der Freiheit zu stellen, wird sie bereitwillig gegen den zuvor mühselig besiegten Absolutheitsanspruch von Religionen und politischen Ideen eingetauscht. Die Folgen sind fatal: Als rechte Nationalisten, radikale Glaubensfundamentalisten, nichtsnutzige Junkies und linke Radikale ließen sich hierzulande große Bevölkerungsteile klassifizieren.

In der Philosophie existieren verschiedene Freiheitsbegriffe, zwei komplementäre Begriffe sind die der negativen und der positiven Freiheit. Während die negative Freiheit die Abwesenheit von äußeren Beschränkungen bedeutet und damit die Grundlage für die Erlangung positiver Freiheit ist, bezeichnet die positive Freiheit die ›eigentliche‹, die ›wahrhaftige‹ Freiheit. Nun, was meine ich damit: Die in der westlichen Welt gebräuchliche Definition von Freiheit ist wohl am ehesten mit dem Begriff der negativen Freiheit kongruent: Wenn wir Freiheit sagen, meinen wir damit für gewöhnlich, dass uns niemand vorschreibt, wie wir unser Leben zu führen haben. Der deutsche Staat sichert uns diese Freiheit zu, festgeschrieben in unserem höchsten Gesetzeswerk: dem Grundgesetz. Aber nur weil uns niemand Vorschriften macht oder uns eine Religion oder Überzeugung aufzwingt, sind wir noch lange nicht ›wahrhaftig‹ frei. Wir können noch immer Sklaven unserer selbst werden, unseren Gelüsten unterliegen, Süchten anheimfallen. Ich frage dich: Bist du wirklich unabhängig? Frei von der Beeinflussung durch andere Menschen, frei von der Unterwerfung unter Rituale oder Zwänge? Jeder der raucht, Pornografie konsumiert, übergewichtig ist, streng nach fremden – etwa religiösen – Regeln lebt oder aber gar keine Regeln besitzt sollte sich nun fragen, ob er diese Frage wirklich mit ja beantworten kann. Ich beantworte sie mit nein, aber nicht aus einem der oben genannten, lediglich beispielhaften Gründe …

Teil 2: Intermezzo auf dem Oberdeck

Als Schriftsteller hat man stets mehrere Persönlichkeiten, doch im Bewusstsein der Verantwortung eines in der Öffentlichkeit stehenden realen Menschen, sollte man mindestens eine rationale und verantwortungsvolle haben. Sie ist die, die mahnt, aber nicht schimpft, die mäßigt, aber nicht verstummt. Sie muss letztlich die sein, die den Gedanken der »Erneuerung des menschlichen Geistes durch die Kraft des Wortes« in seiner Schulbuchhaftigsten und Lehrmeisterartigsten Weise verkörpert. Versteht mich nicht falsch: Ein Autor kann zetern und brüllen und labern und kacken gehen; aber das macht nicht den Autor. Das macht jede 15-jährige Tag für Tag auf Insta. Der Autor muss das, was alle denken oder wünschen oder verschweigen niederschreiben können, und das nicht wie ein Psycholge oder Physiker, sondern wie ein Autor.

Ich bin kein Psychologe und kein Physiker und kein Mediziner. Insofern mag meine letzte Kolumne nur das unqualifizierte Gerede eines bockigen und müden Kindes gewesen sein. Ich schrieb sie in überschwenglichen Stunden und aus überaus aktuellem Anlass übereilt in einem – permanent im Überholvorgang begriffenen – Abteilwagen der ökonomisch überalterten DB. Ein mir übliches Übel. Aber wir wollen keine Überflieger sein: Halb im Wahn, halb im Schock gebar diese Fahrt einen polemischen, aber couragierten Kommentar zu einem Thema, in dem ich keinerlei Qualifikation besitze.

Ich sage es also unverblühmt: Gebt dem Müllmann, was des Abfalls ist, und dem Violinisten, was des Rosshaar-Bogens ist. Ich bin Autor, und so mache ich mir meine Gedanken. Der Wert ihrer niedergeschriebenen Versionen? Streng wissenschaftlich höchst begrenzt – ohne Frage. Ansonsten im Auge des Leser – mag man meinen. Fürwahr, da liegt er, aber nur in zweiter Instanz. Zuerst und primär entspringt die Bedeutung eines jeden schriftlichen Werkes und jeder verbalen Performance einem offensichtlicheren – und darum oft ignorierten – Umstand: Der Tatsache, dass jeder Beitrag von etwas neuem ersteinmal direkt auf die riesige Baustelle der menschlichen Gesellschaft geliefert wird. Ob er Teil der Mauer wird, spielt keine Rolle, denn er liegt ersteinmal da und wird von verschiedenen Personen betrachtet. Er inspiriert sie, lässt sie ihn dann womöglich wirklich noch verbauen. Oder auf die Deponie bringen. So oder so: Entweder geht die gelegte Saat ein – dann hat sie offensichtlich nichts getaugt –, oder der erwachsende Keimling öffnet die Augen der Betrachter ein Stück weiter. So können wir alle unseren Beitrag leisten, wenn wir nur die Sinne nicht verschließen, reden, schreiben und beim Säen zugleich etwas unseres überbordenden Egos wegwerfen.

Teil 3: Der Weg daraus hervor

Seien wir also keine bornierten Besserwisser und willenlosen Schachfiguren auf dem Schlachtfeld des Herrn Generalfeldmarschalls. Ich lasse den rationalen Ziegler sprechen, wenn ich sage: Gebt dem Mensch, was des Menschen ist. Er soll sprechen – sich aber kein Wissen anmaßen. Er soll suchen – aber nicht behaupten, fündig geworden zu sein. Wir sollen mündige Bürger sein, wir sollen verantwortlich handeln. Nur so lassen sich Herausforderungen und Krisen meistern, nur so können wir uns wenigstens auf dem Weg zum Überich sehen, nur so können wir wirklich frei werden …

Lassen wir die Kapelle also nicht bis zum Untergang spielen, setzen wir das Whiskeyglas ab, springen einmal über unseren Schatten und fassen uns an die eigene Nase. Es mag sein, dass es keinen höheren Sinn gibt, das am Ende kein Paradies auf uns wartet. Oder doch? Ich kann das nicht beurteilen. Aber ich weiß, dass wir nicht darauf bauen dürfen, dass wir in dem Bewusstsein leben müssen, dass wir nur ein Leben und eine Welt haben. Alles andere sind Spekulationen die uns davon abhalten, im hier und jetzt unsere überfällige Arbeit zu erledigen. Wir müssen für unsere freiheitliche Ordnung kämpfen, durch Worte, durch Gedanken, und in erster Linie durch Taten. Taten an uns selbst, indem wir uns selbst verändern, und nicht die anderen. Denn um mich eines bekannten Zitates zu bedienen: Wenn sich jeder nur selbst verändert, verändert sich die ganze Welt. Dazu gehört auch, selbst zu denken, bevor man den Mund aufmacht; den anderen zu hören, bevor man ihn anschreit. Positiv frei, ›wahrhaftig‹ frei, ein ›wahrhaftiger‹ Mensch kann man nur durch lebenslange, harte Arbeit werden. Lasst uns mit der Arbeit beginnen, oder aber gleich aufgeben und – als logische Konsequenz – freiwillig aus dem Leben treten …

In der permanenten Bemühung, den Weg zum Übermenschen einzuschlagen,

Karl Ziegler.