Kirtonische Anekdoten: Der neugierige
Student

Nichts bereitet dem Menschen mehr Unbehagen als das, was er nicht greifen kann. Auf dieser Tatsache basiert das nur allzu menschliche Verlangen nach der Kategorisierung des sich ihm Präsentierenden. Gegriffen, gefasst und etikettiert soll werden. Einhergehend ist das Denken der Masse in klaren Bildern, ungeachtet dessen, ob diese der Realität entsprechen oder nicht. Was nicht ersichtlich, da verschwommen ist, muss scharfgestellt werden. Was nicht verstanden werden kann, muss nicht verstanden werden, sehr wohl aber kategorisiert. Das Nichtzuverstehende trägt hierbei in der Regel das Prädikat schlecht, bzw. böse. Ich verweise erneut auf den ersten Satz des hier Geschriebenen:

„Nichts bereitet dem Menschen mehr Unbehagen als das, was er nicht greifen kann.“

Auch ich versuchte mich im Rahmen einer langen Selbstfindungsphase zu kategorisieren. Auch ich zählte lange zu jenen Wanderern, welche ziellos, teilweise auch komplett orientierungslos durch die Wildnis stapfen und Spektren und Szenen abgrasen. Ich suchte mich. Ich suchte mich in Spektren, ich suchte mich in Begriffen, ich suchte mich in Bildern, ohne zu realisieren, dass was ich suchte, ich selbst bin.

Mich nun weitestgehend gefunden zu haben und zu erkennen, dass nur meine Taten mein Wesen beschreiben können, nicht aber die gebräuchlichen, doch inhaltslosen Phrasen aus dem Bereich des Politischen, ändert nichts an dem Verlangen der Anderen, mich weiterhin in die ihrem faulen Gemüte dienlichen Schubladen zu verfrachten.

Lamentieren möchte ich nicht, sondern als Beobachter des Hässlichen verstanden werden. Dementsprechend interessant war das Aufeinandertreffen mit einem katholischen Studenten, dessen Bestreben mich zu etikettieren groß war. Binnen einer Konversation von etwa zehn Minuten flogen mir sage und schreibe fünf Kategorisierungen um die Ohren – links, neurechts, konservativ, libertär und anarchistisch. Von all diesen Termini, abgesehen vom Begriff des Konservativen, war der Jünger Christi gänzlich empört. Er wollte einfach nur wissen, wie empört er denn nun zu sein hat. Für einen Wähler der CDU und als jemand, der davon überzeugt sei, es handele sich dabei um eine konservative Partei, hätten neurechts oder anarchistisch die wohl verheerendste Wirkung gehabt, obgleich ich ihn damit beglückt hätte, mich nun endlich greifen zu können. Wohl gemerkt: Vermeintlich greifen zu können. Nahezu sadistisch war demnach mein Gedankenexkurs, dem der Herr Studiosus nichtsahnend zustimmte: „Du möchtest also wissen, wo ich politisch stehe. Nun, dann schließe Deine Augen und stelle Dir ein Koordinatensystem vor. Auf der Y-Achse findest du im positiven Bereich den Totalitarismus und im negativen Bereich ebendieser die Anarchie. Auf der X-Achse hingegen findest Du im positiven Bereich den Begriff rechts und im negativen Bereich den Begriff links.“

„Sehe ich.“
„Möchtest Du nun wissen, wo ich politisch stehe?“ „Gerne!“

„Dann öffne Deine Augen. Ich stehe direkt vor Dir und ich stehe für mich!“
Gänzlich enttäuscht war der junge Mann im Anblick des Tatsächlichen, wollte dieser doch nicht die Wirklichkeit erblicken, sondern das Bequeme für sich in Anspruch nehmen.

„Ich merke, Du bist enttäuscht. Darf ich Dich etwas fragen? Worauf fußt Dein Verlangen, mich und meine Standpunkte zu kategorisieren? Fürchtest Du das Nichtgreifbare?“

„Ist es nicht menschlich, das Nichtgreifbare erst einmal abzulehnen?“
„Wohl wahr. Menschlich, da bequem. Menschlich, da faul. Aber macht es das Nichtgreifbare automatisch schlecht? Du bist doch Katholik – ist Gott schlecht, da nicht greifbar?“

Ich möchte diesen jungen Herrn nicht allzu schlechtmachen. Im Gegensatz zu den Herrschaften aus dem Steine schmeißenden Spektrum der Realitätsverweigerer wagte es der katholische Kollege, den Dialog zu suchen und sich diesem auch zu stellen. Die mir entgegengebrachte Offenheit, selbstredend nachdem die Palette der üblichen Begriffe abgearbeitet wurde, gefiel, bzw. gefällt mir. Mit solchen Menschen kann man arbeiten.