KOLUMNE #13: Zieglerstein zu Staub, dann Sand Sand Sand

M6SERVICES, STELLA DE CADENTE UND KARL ZIEGLER ZUM THEMA OHNMACHT

Modus:
Recht simpel. „Another Zieglerstein in the Wall“ ist on pause, „Zieglerstein zu Staub, dann Sand Sand Sand“ debütiert. Drei Kolumnist:innen, drei Kolumnen: M6services schreibt den Auftakt, Stella De Cadente bezieht sich auf ihn und Maestro Karl Ziegler hat — und das mag das einzig Beständige sein — das letzte Wort. Wie stark auf die:den Vorgänger:in Bezug genommen wird, hängt von der:dem Nachfolger:in ab. Vorbemerkung: Das Thema „Ohnmacht“ wurde gewählt, weil es in der Engführung zur aktuellen Rubrik „Sehnsuchtszustände“ die Vorläuferin, die Grundlage der Sehnsucht sein kann: andererseits ist Ohnmacht ein elementarer Zustand menschlichen Daseins, der sowohl individuell wie überindividuell ausgeleuchtet werden kann. Das macht den Begriff geeignet für eine Betrachtung, die sich nicht bestimmten Genres verpflichtet.

M6services: DAS JAHR DER GEWALT
Böötchen, Würzburg, den 15. November 2023

Im Verlag Rotscheibe haben wir beschlossen: wir möchten uns mehrteilig, denn auch dort haben wir eine Kolumne
(„Literaturmetropole“), mit dem Verhältnis von Literatur und Gewalt, Gewalt in Literatur auseinandersetzen; der erste Teil dieser Reihe ist mittlerweile erschienen. Abseits der Referenzen habe ich das Bild eines Mineurs entworfen, der sich einen Weg sprengt, wo zuvor keiner gewesen. Dass das Bild auch jetzt, beim Schreiben, noch in meinem Kopf ist, erkläre ich mir damit, dass es rezent ist, dass es etwas aussagt über mein Verhältnis zur Ohnmacht, über das Verhältnis von Gewalt und Ohnmacht. Wenn Ohnmacht ein zeitloser Zustand ist, in dem ein Subjekt den Verhältnissen sich unterworfen weiß oder fühlt; dann ist Gewalt ein Moment der Verzeitlichung, in dem sich dasselbe aus der Erstarrtheit löst. Das Fruchtbare an der Ohnmacht ist ihre Umfänglichkeit, sich auf alle Beziehungen in der Wirklichkeit relativieren zu können. (Noch die vermeintliche Natur kann dem Menschen seine Kontrollosigkeit aufzeigen, der Sturm ist der Bote des umhergeworfen-Seins) Das Fruchtbare an der Gewalt ist ihre Verruchtheit, ihre Tabuisierung, ihre Verschleierung durch Herrschaft und das Herrschende; überspitzt gesagt: ist, sie zu verteidigen, sie zu rechtfertigen, ja sie kontinuierlich zu rehabilitieren. Als einzige Möglichkeit, sie den Monopolist:innen situativ abzuringen und sie in etwas zu wenden, das nicht rein zerstörerisch ist.
Sich bewusst zu machen, dass sie zur Überschreitung der Unfreiheit notwendig ist, denn der Akt der Selbstverteidigung — und der Befreiung aus ihr — ist schon (Gegen-)Gewalt. Das scheint alles recht selbstverständlich, und doch muss man hierbei sehr vorsichtig vorgehen; um ein Beispiel zu geben: Gewalt in Liebesbeziehungen geht an sich nicht, aber gewaltvolle Handlungen in performativen Akten der Sexualität können unter bestimmten Voraussetzungen luststeigernd sein, für alle Beteiligten. (Vermutung: Befreiung vom Tabu, von der Scham? Literaturhinweis: Josephine Apraku, Kluft und Liebe, 2022)
Im Feld der Politik, der politischen Kämpfe, ist es dann so, dass Gewalt sich gegen diejenigen zu richten hat, die das Monopol usurpiert haben, es verstetigen, und in diesem System Machtverteilungen organisieren und damit die Formen von Hierarchien und Herrschaft, zuletzt diejenigen Diskriminierungen hervorbringen, die wir kennen (oder noch nicht kennen). (Ergänzend ist zu schreiben, dass man sich das nicht vereinfacht vorstellen darf als Schema oder als linearen Prozess; dieser Absatz verfolgt lediglich Licht an einen Ort zu bringen, an dem es sofort wieder erlischt, da man sozusagen den Grund des Menschen kennen müsste, um mit Sicherheit die „Naturgesetze“ von Gesellschaft zu kennen; Schreiben zumindest macht es möglich, Verschleierung in der Schwebe zu halten, temporär)
Wer sich daraufhin an „den Staat“ erinnert fühlt und das hier als Aufruf zu Krawall und Straftaten liest, geht unweigerlich fehl. Weder bedeutet Entmonopolisierung der Gewalt oder Befreiung von Ohnmacht, eine Wanne anzuzünden oder den Präsident des Arbeitgeberverbandes zu entführen. [1] Es geht in der Sache um die Voraussetzungen zu einem widerständigen Leben, einer Haltung. Und allein das ist schon schwierig genug: sich zu den Dingen, zu seiner Zeit zu verhalten, wird mit kleineren oder größeren Repressionen bezahlt. (Ob man die Letzte Generation ausstehen kann oder nicht — der Prozess, der jene ereilt, ist unverhältnismäßig, also gewalttätig. Und der Widerhall an Empörung, an Widerstand dazu ist erschreckend gering. Doch die blauen Quetschungen unserer humankapitalistischen Meritokratie wirken noch weitaus subtiler, dazu reicht eigentlich schon die Schlagzeile: „Kulturbetrieb votiert für staatliche Förderung des unabhängigen Journalismus“, eine Art Hyperbel des allgemeinen Förderunwesens — dazu https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/journalismus-1951424)
Daher impliziert Widerstand strukturelle (Gegen-)Gewalt. Seine Vorläuferin wiederum ist die Kritik. Anders formuliert: es ist wichtig, seine Fesseln zu kennen und wer sie angelegt, wer den Schlüssel dazu hat. Die Rehabilitierung der Gewalt ist auch eine des Individuums und vermag im Moment der Kritik Ohnmachtsgefühlle zu lindern. Die letzten Verschleierungsmechanismen in Wissenschaft, Politik und Wirtschaft, ja in der Totalität der Wirklichkeit sind nie greifbar (und diese Einsicht fehlt offenbar jeder:m Verschwörungstheoretiker:in), der andere wichtige Gedanke lautet, dass man sich nicht stellvertretend für Schieflagen und Unterdrückung verantwortlich macht, weil sie systematisch entindividualisierend wirken. So do not put the blame on You! Gesellschaftliche Spaltung ist für Monopolist:innen mit das nahrhaftigste, was die kriegen können. Und das mag das abschließende Paradoxon sein: sich entindividualisiert und gleichsam isoliert zu sehen. Das als eine potentielle Wurzel von Ohnmacht, sozusagen eine doppelte Gesellschaftsschelle, der sich niemand entziehen kann.

[1] Diese RAF-Replik kam mehr zufällig; jedoch auch durch die Zusage Karl Zieglers zum geänderten Modus der Kolumne; ich darf wohl auszugsweise aus seiner Mail zitieren: „[…]ja, warum denn nicht. Machen wir das doch so… eigentlich hatte ich vor, einen Stoff zu den Geschehnissen des 7. April ’77 aufzubereiten][.]“ Vielleicht kommt Karl Ziegler jetzt doch noch dazu, und wer sich interessiert, tippt den 07. April 1977 in eine Suchmaschine.

Stella De Cadente: KOLUMNENKARAWANE
Wir haben drei Begriffe und den Versuch, sie grob zusammenzubringen, d.i. sie auszuziehen, aufeinander zuschubsen, wieder voneinander loszureißen, in einer anderen Stellung erneut ineinanderzuschieben und solange raus und rein bis irgendwas zwischen ihnen passiert, das langfristige Konsequenzen haben könnte. Kurzum, wir wollen die drei, um mit M6services Worten zu sprechen, “fruchtbar” machen. Zwei von ihnen werden im Rahmen unserer Kolumne definitiv intim, während der dritte vielleicht nur vom Stuhl aus zusieht. Denn der dritte gibt die Perspektive, aus derheraus, und den Anlass, dass wir überhaupt eine solche Kolumne schreiben. Der dritte nämlich ist die Sehnsucht, das Thema der aktuellen Ausgabe – SEHNSUCHT NACH WAS – Die beiden anderen, Ohnmacht und Gewalt machen sich immer nur im Doppelpack vor der Kamera frei. Ganz ihrer Art gemäß kann ich mir nun die Sehnsucht vorstellen, wie sie von ein wenig abseits aufs Geschehen blickt, eben auf die von uns gesponserte Zusammenkunft von Gewalt und Ohnmacht, und sich wünscht dabei zu sein, sich aber nicht traut etwas zu sagen, oder einfach aufzustehen und mitzumachen. Sie berührt sich stattdessen verträumt und peinigt sich auch ein wenig selbst, gleichzeitig die Begründung für ihre Passivität stark machend*1, dass sie eben nicht so direkt wie die anderen beiden zur Kolumne geladen worden sei. M6services begründete die Anwesenheit der Sehnsucht im Raum damit, dass Ohnmacht sehnsüchtig machen kann. Dem werde ich im Folgenden widersprechen müssen.

– TRIFF EINE ENTSCHEIDUNG – Gebären, zuschlagen, sterben lassen, schlucken, liegen bleiben, aufstehen und gehen.

There’s blood in the streets its up to my ankles
An manchen Tagen läuft man in der Stadt rum und tritt ständig in unter der Sonne noch glitzernde Blutflecken, wie man an manchen Tagen ungewöhnlich viele Pudel sieht. Ich stolperte letztens raus, nachdem mich M6services delivery erreicht hatte. Ich habe da nicht weniger als sechs Blutlachen gezählt. Folgende Fragen kamen mir: Woher diese Wut? Müssen wir immer nicht nur beten, sondern gleich auch noch predigen? Warum lieben wir die Fruchtbarkeit?
Nachdenklich machte ich kehrt. Ich kannte mal eine junge Frau, formulierte ich im Kopf vor, die hatte zwei Brüder. Die Mutter war sehr zurückhaltend oder tot, der Vater aber ein deprimiertes Arschloch, ein Säufer. Jeden Monat, da die Tochter ihre Tage bekam, schrie der Vater sie unter Aufbringung all seiner Säufer-Wut an, und lud die Brüder dazu ein, dass sie widerlich sei, dass sie bloß nichts im Bad hinterlassen solle! Passierte es aber doch, dass im Badezimmer Blut war, und das passierte selbstverständlich, schlug er seine kleine Tochter ins Gesicht.
Einleuchtend sind M6services Positionen. Doch es drängt sich mir der Verdacht auf, dass hier ein Zeigefinger erhoben wird. Dass hier ideal zwischen Recht und Unrecht unterschieden wird. Nun, das finde ich in jedem Kontext gewaltig gefährlich, zugleich unzureichend und langweilig. Unzureichend, daaus der Perspektive des ‘es sollte’ sich die wilde Welt, in der wir leben, sicher nicht verstehen lässt, wie schon Schopenhauer an Kant verurteilte (vgl. Schopenhauer, Die Grundlage der Moral). Die Welt lässt sich ganz im Gegenteil über das ‘es sollte’ reduzieren, simplifizieren, ein wenig erträglicher machen, für die besonders Sensiblen unter uns. Langweilig ist der Blick durch die Brille der Ideale, da wir gezwungen sind, sehr viel Schönes, Neues, Eindrucksvolles, das wir aber der Logik unserer Ideale nach als ‘falsch’ bezeichnen müssen, zu ignorieren. Aber gefährlich wird das ganze, wenn wir aus einer solchen Reduktion eine Ethik abzuleiten versuchen*5! Wenn wir sagen wollen, “Tue dies, lass jenes sein’, ‘Diese Gewalt geht an, jene muss bestraft werden’, wer sind wir dann anderes als Pfaffen, die Handel mit Ablassbriefen treiben? Wer sind wir dann anderes als Faschistinnen? Denn nie wurde ein Faschmismus ohne feste moralische Grundlage propagiert. Lasst uns stattdessen, ich lade die Leserin, und vor allem auch die wenig geneigte Leserin unbedingt dazu ein!, lasst uns so unmoralisch als möglich an dies Thema herantreten! Immerhin ist die Moral nicht nur die ärgste Feindin jedes Vergnügens, sondern vielleicht auch – jeder Erkenntnis?

Blood in the streets it’s up to my knees
Sieben, es sind sieben Lachen. Es scheint mir eine denkwürdige Art der Ermächtigung, infolge jahrelanger Erniedrigung einfach auf offener Straße das Tampon rauszuziehen, und hier und da Blutlachen zu hinterlassen. Sodass sich jedem Blick und Tritt aufzwingt, dass es nicht einfach Blut ist, was da jeden Monat fließt, sondern schleimiger, innerer Tod, Angst, Todesangst. Die monatliche Erneuerung des sicheren Wissens unserer Vergänglichkeit. Sowas wissen nur Priester, Hexen! Immerhin, das monatliche Bluten ist die Erfahrung totaler Ohnmacht, allerdings einer Ohnmacht, die man gezwungen ist zu verstecken, zu leugnen, zu kontrollieren. Dieser Umgang mit Ohnmacht erweist sich monatlich als unfruchtbar. Aber es ergibt sich gleichzeitig eine bemerkenswerte Schnittstelle von Individuum und Kollektiv: die Ohnmacht hat zwischen den dicht gedrängten Leibern des Kollektivs keinen Platz, zwischen Binden, Tampons, Schmerztabletten, zwischen verkrampftem Lächeln keinen sterben lassen, schlucken, liegen bleiben, aufstehen und Platz, um Luft zuholen und sich bemerkbar zu machen*4. Sie wird nicht zugelassen und da wo sie nicht zugelassen wird, ist sie einfach – nicht da.

Blood in the streets it’s up to my thighs
Kann Ohnmacht überhaupt fruchtbar sein? Nur als Einzelne kannst du in ihr ertrinken. Jemand*2 sagte mal: Konzentrier’ dich auf sie, vermehre sie, vertraue dich ihr an, Gramm für Gramm, Rippe für Rippe. Horch’ hinein: verdränge ich dabei die unbeschreibliche Angst*3, die jeder gesunde Menschenverstand (denn den verkörperst du doch!?) empfindet, die jedes Subjekt (denn ein solches nennst du dich doch!?) empfinden muss, das dabei ist, sich zu entgrenzen? Jeden Fluchtweg versperren, rückhaltlos, selbstvergessen. Und dann? – THE KIND OF KNOWLEDGE THAT CHANGES THE KNOWER – Es ist billig,*4 Konstellationen aufzusuchen, welche zu Handlungen befähigen, die das eigene, d.i. das individuelle Ohnmachtsgefühl lindern. Genau das tun eben Feiglinge, beispielsweise indem sie sich einer kleinen barrierefreien Zeitschrift anbieten, in einer Kolumne oder ähnlichem, Kritik an etwas zu üben. Üben wir uns darin, Kritik zu üben, lindern wir immer wieder kurzfristig unsere existenzielle und zugleich politische Pein – hier und heute, da stimme ich zu, dargestellt von einem ästhetischen und moralischen Monopol – wie die Ibus mich immer wieder für 1, 2 Stunden von dem monatlichen, unglaublich schmerzhaften Gefühl befreien können, unterzugehen. Mit diesen Übungen, Einnahmen helfen wir unwillkürlich dem Kollektiv dabei, Ohnmacht zu ersticken, was ein Kollektiv natürlich ganz unwillkürlich, weil wesenhaft tut, und damit vielleicht – ganz unwillkürlich!– seine Grenzen zum Monopol verwischt, selbst zu einem Glied des Monopols wird.

Yeah, the river runs red down the legs of a city
Wieso aber eine Erfahrung ersticken, die unserem Dasein so unmittelbar zu eigen ist? Die Ohnmacht während der unfruchtbaren Tage deutet zur schöpferischen Gewalt des Gebärens. Zusammenpressen, auf der Töpferscheibe endlos drehen und führen, Mulden machen, zurechtstutzen, eingrenzen, angaffen, benennen, all das, ja, all das ist Gewalt, ber das wirklich gnadenlos Gewalttätige am Gebären ist doch: Etwas zwingen, zu sein. – ZWING MICH NICHT ZU SEIN – ist das… Todessehnsucht?

Trennen wir die Begriffe, ein genüsslicher Akt der Gewalt für den Schreiber: Sehnsucht kommt daher, als imaginierte, oder sogar nur behauptete! Ohnmacht. Sehnsucht ist ein peinliches Gefühl, das durch Zögern gekennzeichnet ist. Eine Leid erzeugende Mangelerfahrung wird hier künstlich in die Länge gezogen -*1 MASO -und wie das alles? Mit Gründen, ja, mit guten Gründen! Über deren Validität sich gar nicht streiten lässt! Beispiele findet man auf materieller Ebene nicht weniger als in der Sphäre psychischer Dispositionen. Ohnmacht zeichnet sich im Gegensatz dazu aber aus durch die totale Abwesenheit von Gründen, Hoffnungen, oder auch nur Werturteilen, die das Jetzt im Vergleich mit einem Früher oder Später ablehnen könnten. Die Ohnmacht ist somit in der Tat ein zeitloser, weil dissoziativer Zustand. Ein totaler Zustand – RIDE SHOTGUN PLAYIN’ THE CHICKEN GAME – ein Zustand frei von den Wirren, Finten, langweiligen Idealen der Zeit, in der du lebst, sowohl politisch als auch persönlich gesprochen. Klingt es da nicht mehr als verständlich, einer Sehnsucht folgend, Ohnmacht verwirklichen zu wollen? Wie aber geht das zu?

Blood is the rose of mysterious union
„Gewalt in Liebesbeziehungen geht an sich nicht”*5, schreibt M6services mit vor Rechtschaffenheit geschwellter Brust. Nennt er dafür einen Grund? Nein. Ideologie, Moral, kurzum: Gott.Ich kann also ebenso frei heraus entgegenhalten: nur wo Gewalt ist, kann überhaupt von Liebe die Rede sein. Gewalt über dich haben, dir ohnmächtig zu Füßen liegen. Heutzutage kommt nach dieser Anmerkung das “Wort” BDSM vermutlich fast genauso schnell über die Lippen wie das Wort ‘toxisch’. Aber, wie ging das nochmal mit der Ohnmacht: Sich dem Andern überlassen, und zwar mit Ungewissheit darüber, was das heißt! Was alles passieren mag! Jede BDSM-Praktik kann doch aus dieser Perspektive nur nebensächlich sein! Keine existenzielle Unterwerfung, kein Loslassen findet da statt; ja, falls überhaupt Angst*3 aufkommt (was ja immerhin gar nicht Sinn der Sache ist), ist sie einzig und allein Schmerz, die Angst vor Schmerz. Nein, es ist eine ästhetische, formorientierte Szene, mit klaren Instruktionen und Grenzen, nicht gefährlicher als ein Friseurbesuch (der allerdings sehr gefährlich werden kann, wenn der Friseur die Instruktionen missachtet…ja, vielleicht ist der Friseurbesuch sogar ein intensiveres Ohnmachtserlebnis! Immerhin, hier gibt es kein verdammtes Safeword). Keineswegs liegt hier eine Verbindung zur äußerst gefährlichen Liebesbeziehung oder spontanen körperlichen Intimität vor – ER KANN MICH TÖTEN UND ICH IHN – denn der Dom hat während der Sessions keine Macht, sondern vertraglich zugesprochene Kompetenzen. Ich las ein paar Fälle, da eine Domina ausversehen einen ihrer Kunden über die Wupper geschifft hat. Diverse Grenzgängerpraktiken können natürlich schiefgehen, vor allem wenn es sich nicht um professionelle Doms handelt, sondern die eine geile, die du auf Tinder kennengelernt hast, oder den langjährigen Partner, der verzweifelt versucht die Beziehung zu retten, aber frag dich selbst, ist das dieselbe Art von Ungewissheit deinerseits, und Gewaltbereitschaft auf der anderen Seite? Wenn ich einem fremden Menschen in der U-Bahn meinen Arm und ein Messer hinhalte und sage: Schneid’ sie auf! DAS ist Ohnmacht. So weit muss man vielleicht nicht gehen, aber wir brauchen sicher keine Studios und verrauchten Clubs, um sowohl unsere gewalttätige, als auch unsere dissoziative, der Ohnmacht zustrebende Seite kennenzulernen, auszuleben; denn beide sind im Ich, beide
in der Handlung, beide im Gefühl. Anders gesagt, wir aber das wirklich gnadenlos Gewalttätige am Gebären ist brauchen die “Verruchtheit’ der Gewalt keineswegs, sie ist gerade nicht, was Gewalt fruchtbar macht. Sie ist vielleicht sogar eine Finte, eine wirkungsvolle Ablenkung von dem, was draußen, was in jeder Begegnung passiert. Um in M6services Sprache zu sprechen: ein weiterer Coup der “Monopolistinnen’, uns alle zu eichen, und zwischen uns einen alles in allem unbefriedigenden, uninspirierten Konsens zu erzeugen, eine Unaufmerksamkeit, ein Desinteresse an dir und mir.

Ich kenne eine junge Frau*2, die seit ihrem 16. Lebensjahr jeden Monat, wenn sie anfängt zu bluten, die Fingerspitze eintaucht, und sich einen kleinen roten Punkt auf die Stirn setzt, ähnlich einem Bindi.

Blood on the rise, it’s following me
Es dämmerte bevor ich zurück im Schutz meiner Höhle war: im Dunkeln ist Blut einfach schwarz. Mir trat deutlich vor Augen, dass mein wirrer Appell ins Leere zielen würde, und ein seltsames Gefühl überkam mich, ausgehend von meinen Finger- und Zehenspitzen, ein körperliches Gefühl von Freiheit und Hüllendasein während ich die Haustür aufschloss, Freiheit die also geknüpft schien an totale Willenlosigkeit. Was aber, wenn auch kein Anderer da ist, wenn zuhause niemand wartet, der mir seinen Willen aufzwingen, mich leere Hülle füllen wird – der total leere Raum? – NATURAL VACUUM – Geht das, alleine ohnmächtig werden? Wer legt denn dann meine Füße hoch? Die Sehnsucht hat sich aus der Ferne befriedigt, Ohnmacht und Gewalt haben schnaufend voneinander abgelassen. “Das..war…unglaublich!” – Aber die Ohnmacht liegt nur da, auf dem Rücken, und starrt an die Decke, abwesend. Gewalt schmiegt sich mit seligem Lächeln an Ohnmachts Brust: “Oh, Babyy!” Sehnsucht mit Papiertüchern hantierend, schüchtern: “Also… ich wäre bereit für Runde 3!”

Karl Ziegler: DEZEMBER 2023
Als mein Wecker mich heute im Morgengrauen langsam aus dem Schlaf holte, hatte ich noch den festen Vorsatz, aufzustehen. Ich habe mich am Abend früh vom Schreibtisch losgerissen, und in mein Vitamin D hatte ich dank einiger strahlenden Wintertage und den süßen Supplementen festes Vertrauen – ich drehte mich um und sah das nächste Mal um
10 auf meine Uhr. Vor dem Fenster den totalen Wolkenbruch, beschloss ich, das Haus einfach nicht zu verlassen, nicht für den einen Termin am Mittag. Seitdem starre ich also Löcher in die Decke, erinnere mich an Erlebnisse für die Weihnachtskarten und schlürfe dünnen Kaffee, der mich auslaugt und erschöpft. Eigentlich hatte ich bis zum Vorabend noch das Gefühl, dass wieder eine manische Phase angebrochen wäre — nach zwei Tagen Termine abhetzen, Mund fusselig reden, Deadlines ausreizen . Allerdings, wenn ich heute die Kolumne fertigstelle, bin ich vielleicht wenigstens den Mühen der Sonne, trotz der tiefen Wolkendecke aufzugehen, gerecht geworden…
Ohnmacht ist also das Thema, über das ich schreiben soll, das ich frei wie ich mag auslegen darf. So will ich zur Sache kommen, denn im Grunde liegt es mir nicht, mich erst philologisch über die Begriff auszulassen, das haben meine
Vorredner bereits zur Genüge getan. Auch will ich hier mit Texthervorhebungen durch Kursivierung oder Majuskeln geizen, mir kreisten über ihren Texten schon fast die Augen von. Schließlich muss ich auch Bötsch’s Präludium dahingehend um meine Ansicht ergänzen, dass streng genommen der Leser das letzte Wort hat. An ihm liegt es, was er hieraus macht, ob er meiner verbitterten weißen Misanthropie folgt, sich dem emanzipatorischen Plädoyer von De Cadente anschließt oder in Bötsch’s Analysen verliert — und dann mit einem Leserbrief seine Gunst und Ablehnung kund tut. Eine leichte Form der Ohnmacht empfinde ich schon in diesem Akt des Frei- und Loslassens — d.h. dem Schreiben und Veröffentlichen an sich —, wenn es nicht mehr in meinem Kontrollbereich liegt, was die Menschen mit meinen Gedanken anstellen.
Ohnmacht umfängt mich jeden Tag, den ich wie heute verschlafe und mich hinterher frage, »woran etjelejen hat«; wenn ich wieder ein Verhalten zeige, dass ich eigentlich schon lange ablegen wollte. Ohnmacht empfinde ich vor dieser Schwäche des Menschen, dieser Fehlbarkeit und Bedeutungslosigkeit, die sich mir jedes Mal wieder aus der Verdrängung in den Verstand hämmert, wenn ich in die Sterne blicke: Wir sind nichts als etwas kumulierte niedrige Entropie in einem riesigen Universum, und wir scheitern schon daran, uns freundlich gegeneinander zu verhalten, uns gleich und offen zu begegnen. Ohnmacht ist, letztes Jahr im März ohne Unterlass die Nachrichten verfolgt zu haben und heute einzusehen, dass es alles die gleiche ewige Scheiße ist, dass niemand sauber ist und wir — sollte es in die Militärdoktrin der liberalen Falken passen — ohne Bedenken nächstes Jahr Waffen an den Irak liefern. Ohnmacht ist, wenn ich einigen der besten meiner Freunde, denen ich vieles zu verdanken habe, machtlos dabei zuschaue, wie sie zu Grunde gehen: Weil sie nicht miteinander kommunizieren, weil sie dieser Endlichkeit unseres Daseins nicht gewachsen sind, weil sie nur Mensch unter Menschen sein wollen und doch den Schatten hinterherjagen, die ihnen unsere Gesellschaft nachts in die Träume pflanzt. Insofern ja Herr Bötsch, Ohnmacht kann sich auf alle Beziehungen in der Wirklichkeit »relatvieren«, doch wie daraus eine intrinsische »Fruchtbarkeit« erwachsen soll, ist mir schleierhaft? Emerson begleitet mich zwar jeden Tag mit seinem Ausspruch »Auf den Trümmern unserer Verzweiflung bauen wir unseren Charakter«, doch meint das meinem Verständnis nach die Überwindung der Ohnmacht, ihre Zerschlagung; und das – die nächste Kräuselung meiner Brauen — kann, muss aber keineswegs durch oder mit Gewalt geschehen, auch wenn Zerschlagung dies implizieren mag. Diese mit immanenter Passion betriebene Bezugsetzung von Gewalt und Ohnmacht in den Texten meiner Vorredner ist mir nochmals genauso schleierhaft: In der Vorbemerkung taucht das Wort Gewalt nicht auf, warum also diese Überstrapazierung? Ebenso kann man zu Ohnmacht Verlust, Krankheit, Mut oder Wunsch assozieren; Gewalt kann ein Auslöser für Ohnmacht sein (der Terroranschlag) oder eine Folge dieser (Der Mob entzündet die Tempel der Terroristen). Ohnmacht kann — einem Totalherbizid gleich — ein Totalisator für die Werte und Haltungen sein, so lange, bis auf dem bereinigten Nährboden nur noch das keimt, was wir uns als Konsequenz suggerieren (und das sind meist starke Emotionen wie Hass oder Liebe, Gewalt oder Gier). Ohnmacht kann jedoch auch ein permanenter Nebel sein, und ob ich in ihn hineinrufe oder schieße, er verschluckt jegliche Regung. Erläuterungen der Gestalt, dass Unverhältnismäßigkeit gleich Gewalttätigkeit ist, sind meinem Intellekt dann auch zu hoch: Gandhis Gewaltlosigkeit war unverhältnismäßig, also gewalttätig, und seine Gegner waren ob dieser Haltung ohnmächtig und noch gewalttätiger?! Wollen wir jetzt jegliche mit Nachdruck ausgeübte Handlung unter dem Begriff »Gewalt« subsummieren, damit ein weiteres Wort zu Zwecken der Effekthascherei missbrauchen und die Nuancen — dank derer Sprache unser mächtigstes und zugleich praktikabelstes Kommunikationsmittel ist — weiter verwischen? Cool…

Worüber ich mich nicht auslassen will, sind die von De Cadente ausgeführten Schilderungen und Belichtungen der weiblichen Menstruation. Offensichtlich bin ich ein alter weißer Mann, und ich erdreiste mich nicht, über etwas zu reden, zu dem ich nichts sagen kann. In Anbetracht des Umfangs dieser Thematik und ihrer allgegenwärtigen Schwere, bei gleichzeitiger Begrenzung des Leides auf einen via Geburt abgeurteilten Personenkreis, ist diese Verknüpfung des Begriffes Ohnmacht allerdings wohl die treffend stärkste von allen dargebrachten. Vielleicht wäre ein monatlicher Sonderurlaubstag für menstruierende Frauen — während die männlichen Kollegen gleichzeitig zum Leidensausgleich einen 12 km Durchschlagemarsch in ihrer Freizeit zu absolvieren haben – in Anbetracht der gesellschaftlichen Tabuisierung das bessere Mittel; als die AuQängung kostenloser, öffentlicher Tamponspender ala »Sieh her, in der Firma stellen wir dir alles zur Verfügung, damit du mit diesem Problemchen fertig werden kannst, und jetzt stell dich bitte nicht so an«…

Ich stimme De Cadente insofern zu, dass wir diese Welt nicht über ein »es sollte« verstehen können; doch jedes moralische Fundament in Frage zu stellen, weil Faschismus auf einem »moralischen Fundament« basiere, ist das Unsinnigste, was ich seit langer Zeit lesen durfte. Erstens: Ich halte generell nichts von jeglichen Faschismus- und Nazi-Vergleichen; die Begriffe sind unterdessen so fern von Ihrer Bedeutung — die auch nicht Totschlag-Zuschreibung zur Denunziation und Aburteilung derer, deren Haltung einem nicht passt. Zweitens: Kommunismus, Aristrokratie, selbst Demokratie werden auf einer »festen moralischen Grundlage propagiert«; letztere auf dem Mantra der Verfassung. Die Verurteilung des Faschismus selbst und seiner moralischen Basis ist doch selbst eine Moral, oder irre ich da? Die Zuschreibung von Recht und Unrecht entspringt in erster Line der simplen praktischen Tatsache, dass es auf dieser Welt nicht eine Handvoll Einsiedler gibt, die nichts voneinader wissen; sondern viele Menschen, die auf engem Raum miteinander klar kommen müssen und sich besser nicht über den Haufen schießen sollten. Natürlich existieren Pushbacks und Wuchermieten trotz des Grundgesetzes, doch dieses deswegen abschaffen zu wollen ist so unzweckmäßig wie der solipsistische Einsiedler, der selbst vor Rupert Riedls Nashorn nicht die Flucht ergreift. Merke: Es ist nicht verboten, darüber nachzudenken, den Nachbarn unmoralisch über den Haufen zu schießen; und es nicht zu tun, verwehrt vielleicht einiges an Erkenntnis, erspart aber auch den Preis, den diese Erkenntnis kostet. Und wo ist hier bitte wieder die immanente Ohnmacht?

Ich möchte ohnehin bezweifeln, das es eine gesellschaftliche, umfängliche Art der Ohnmacht gibt: Sie ist ein idividuelles Gefühl, setzt bei jedem ab einer individuellen Grenze ein, wie jeder Mensch einen ganz individuell harten Schlag braucht, um in die nämliche Ohnmacht zu fallen. Es gibt sicher Frauen, für die ist Menstruation nicht mit Ohnmacht verbunden, weil sie genetisch gepriesen sind und ihre Mittelchen haben (sicherlich eine billige Ausflucht, doch individuell gesehen keine illegitime, nach meinem Dafürhalten); es gibt sicherlich Menschen, die bei einem Anschlag keine Ohnmacht empfinden, weil sie ohnehin nur auf ihre individuelle Südstaatenflagge und den .357 Mag. im Holster vertrauen. Die Ohnmacht vieler Menschen (Frauen, Erdbebenopfer) vor dem gleichen Ereignis macht diese Ohnmacht noch nicht zu einer kollektiven: Der Mensch ist dem Menschen auch in der Krise oft genug ein Wolf, und es sind nach Glück im wesentlichen Arroganz und Schläue, die den invaliden Sozialhilfeempfänger vom hochdekorierten Kriegsgewinnler unterscheiden, obwohl beide eine zeitlang im gleichen Graben lagen und sich unter den Granaten wegduckten. Erinnert mich an den Film »Forrest Gump«: Der Protagonist müsste eigentlich permanente Ohnmacht erleben; weil er es aufgrund psychischer Gründe nicht tut, kommt er so weit, wie er eben kommt. In dieser Hinsicht stimme ich also zu, dass es im »Wesen« der Gesellschaft liegt, Ohnmacht zu unterdrücken, weil sie der Spezies Mensch in der Form einfach nicht gegeben ist, wie ich eben auszuführen versuchte.

Auch muss Ohnmacht nicht »zeitlos« und »dissoziativ« sein?! Die nämliche Ohnmacht tritt durch einen Schock, ein Absacken des Blutdruckes ein und endet meistens genauso schnell, wie sie gekommen ist. Eher würde ich sagen, dass Ohnmacht ab einem bestimmten Punkt oft in Sehnsucht übergeht: Der Tod eines Angehörigen wirft einen um, doch irgendwann sehnt man sich vielleicht zwar noch zurück, ohne aber von Erinnerungen und Emotionen gelähmt, generell bestimmt zu sein. Ich verliere mich in der Wortklauberei…

Was ich abschließend wohl schuldig bin, ist die Offenlegung meines eigenen Umgangs mit der Ohnmacht: Hätte ich einen robusten Workaround, hätte ich meine Depressionen überwunden, sämtliche Verzweiflung zerschlagen. So schwanke ich zwischen Nihilismus und Hedonismus, Manie und Leere — wohl solange, wie da irgendwo noch ein Licht am Horizont ist. Manchmal wünschte ich auch, ein bisschen mehr wie Forrest Gump zu sein — um dann festzustellen, dass ich mir auch gleich wünschen könnte, Rockefeller zu sein.

Was auch immer Sie sich für Ihr Leben wünschen; ich wünsche Ihnen ein gutes und gesundes neues Jahr. Nehmen Sie sich kein Beispiel an diesem Scherbenhaufen.