KOLUMNE #15: Schleichen, Scheitern & Schreien

– zur Entstehung von KLW #15 –

Christian Weiglein

Würzburg, 24. Mai 2025

Vorrede

Die KLW befindet sich seit ihrer Gründung fortlaufend in Prozessen des Umbruchs, teils durch personelle Wechsel, teils durch inhaltlich-kuratorische Änderungen oder aber als Reaktion auf externe Einflüsse. Diese Prozesse spielen sich für reine Leser:innen der Zeitschrift weitgehend im Hintergrund ab und bleiben oftmals unbemerkt. In den folgenden Absätzen soll ein (persönlicher) Einblick in ausgewählte Entstehungsprozesse der vorliegenden Ausgabe erlebbar gemacht werden. In Anlehnung an die Rubrik bildete die Dichotomie Streben ↔ Erosion die Leitplanken während Konzeption und Niederschrift der Kolumne. Es ist natürlich wie im echten Leben: Leitplanken ohne Schleifspuren vermitteln eine falsche Sicherheit und die Bankette[1] fehlen. Ich bitte Sie deshalb, liebe Leser:innen, gemeinsam mit mir anzuecken und abzugleiten – sofern Sie sich in Ihrer momentanen Lage dazu überhaupt befähigt sehen.

Hinweis: Die wiedergegebenen Schilderungen stellen die subjektive Sicht des Autors dar. Eine redaktionelle Bearbeitung ist nicht erfolgt. Etwaige Antworten, Anmerkungen und Beschwerden bitte jederzeit per Mail an autorenseelsorge@literatur-wuerzburg.de

Schleichen

Für den Beginn der Arbeit an Ausgabe 15 ist aufgrund der knappen personellen Ressourcen innerhalb des Kollektivs zuvor das Erscheinen von KLW 14 notwendig. Ob es hinreichend ist oder zusätzliche Gründe für die Produktion eines weiteren Hefts vorliegen sollten, hinterfragten wir nicht. Eine für die künstlerische Richtungsfindung notwendige Positionsbestimmung findet zunächst kaum statt, sie ergibt sich im Prozess oder nicht.[2] Als unabhängige Zeitschrift befinden wir uns an der Basis des Literaturbetriebs, was das Fehlen der für eine Übersicht nötigen Flughöhe zumindest plausibilisiert. Muss sich die Genese und der Inhalt von KLW 15 überhaupt legitimieren?

□ Ja □ Nein □ Vielleicht

Es gibt hierzu innerhalb und außerhalb des Vereins KLW e.V. verschiedene Auffassungen – mehr dazu später.

Vor dem Erstellen der Ausschreibung liegt das Thema der Rubrik nur diffus vor, meistdurch wenige Stichworte in verschiedene Bedeutungsrichtungen behelfsmäßig abgesteckt. Die Redaktion umkreist Wortfelder auf Kriechwegen, bahnt sich erste kleine Schneisen durch das ihr vorliegende Sprachmaterial und bemüht sich dabei, die Spuren anschließend wieder zu verwischen. Diese Bewegungen finden diskret und tonlos statt – es gilt, keine Textidee durch übereifriges Anklingen-Lassen zur Resonanz zu bringen. (Der Resonanzfall ist der Vielfalt der Texte abträglich, weil er das Spektrum verengt.) Der Aufruf zum Einsenden von Texten erfolgt in Worten und Wendungen, die die im vorigen Absatz benannte Orientierungslosigkeit mal bewusst und mal unbewusst reproduzieren.

Man kann wohl argumentieren, dass die Redaktion ihre kuratorische Arbeit hierdurch fahrlässig unterlässt oder gar von Beginn an sabotiert und der dadurch entstehenden inhaltlichen Beliebigkeit erst im Aussortieren der Einsendungen wieder (und dann letztlich unzureichend) entgegentritt. Andererseits drückt sich in der beschriebenen Herangehensweise ein ehrliches Verlangen nach externen Impulsen aus. Die noch farblosen und biegsamen Blätter der künftigen KLW 15 stecken wir auf leisen Sohlen in die Zwischenräume der potentiellen Autorenschaft. Die Ausgabe gibt sich ihren Schreibenden bedingungslos und scheinbar grundlos hin; wir beobachten von fern und sammeln anschließend, was abfällt. Insofern hat die Redaktion nicht einfach keine sondern das Gegenteil einer Agenda: Streben nach Form durch den Willen zur Formbarkeit. Um- statt Einkreisen. Schleichen als Haltung.

Scheitern

Wie immer ist die Sichtung nach Ende der Einsendefrist wundervoll und beklagenswert zugleich. Es finden sich für jeden individuell zwei, drei, vielleicht vier Texte, die wirklich gut sind, die mitreißen und kurz das Selbst vergessen lassen. Sie können jedoch den riesigen und von keinem anderen Text genutzen Raum zwischen sich kaum überbücken. Ja, die Wunde klafft. Lesen Sie einmal die Rubrik hinsichtlich der nicht behandelten Bedeutungsmöglichkeiten des Wortpaares ›Turm und Trümmer‹. Lassen Sie sich von den eng bedruckten Seiten nicht darüber hinwegtäuschen, dass die KLW auch in Ausgabe 15 wieder mehr Fehlstellen als Literatur aufweist.[3] Mögen Sie Metaphern? Haben Sie schon einmal renoviert? Die KLW renoviert halbjährlich und stets völlig unzureichend. In unserem Bad kleben ein Dutzend neuer Fliesen an der Wand und alle tragen andere Farben und Muster, Einzelstücke von echten Menschen gemacht. In den Ecken liegt der mit unhandlichem Werkzeug gewaltsam abgeklopfte Schutt – wir haben nicht zu zimperlich agiert, die Daumen strahlen blau und auch einige leidlich gute Kacheln gingen nebenbei zu Bruch. Das Wort »scheitern« stammt, sofern man duden.de/rechtschreibung/scheitern Glauben schenken darf, aus dem 17. Jhd., »gebildet zum landschaftlichen Plural Scheiter von Scheit, eigentlich = in Stücke (Scheite) gehen«. Die Idee ›Turm und Trümmer‹ hängt gleichsam fragmentiert aus den vorliegenden Seiten und dazwischen ist Raum für Noch-Ungesagtes. Zwischen der einen und der anderen Seite passt noch eine dritte, fremde Seite hinein. Oder es passen zwei oder drei hinein. Ich gehe jetzt seit Wochen mit der Schere in die Trafiken, Cafés und Bibliotheken der umliegenden Städte und Dörfer, schneide dort heraus, was zu ›Turm und Trümmer‹ mir entgegen springt – und dann stopfe ich es zwischen die Seiten meiner KLW 15, stopfe alle Artikel, Geschichten und Geschnipsel einfach unsortiert hinein, bis meine KLW 15 schwer und übervoll endlich aufplatzt und alles Getürmte und Zertrümmerte in einem fanatischen Chaos sich über mich ergießt ihr Schwall mein kärglich geplätteltes Bad flutet und uns zusammen zur Vollendung führt. (Seitenrascheln: »Bitte, bitte, bitte, mach mich ganz.«)

Aber: Die freie Literaturszene erfüllt teilweise absichts- und meist folgenlos auch eine gesellschaftliche Aufgabe: Raum bieten für Texte, die sich (noch?) nicht ohne Weiteres einer wirtschaftlichen Verwertung im Sinne eines kommerziellen Verlagsprodukts (Buch, etc.) zuführen lassen. Folgenlos deshalb, weil ihre inhaltlich- diskursive und stilbildende Macht aus Mangel an Ambition, Geld und Absatzmarkt nur wenig über das eigene Milieu hinweg wirkt. Mit einer Erstauflage von 176 Stk. handelt es sich auch bei Ausgabe 15 nicht um ein der Masse zugängliches Medium. Hier drängt sich noch einmal die Frage nach der Legitimität auf: Warum trotzdem und warum so? Keine oder eine andere Ausgabe 15 sind möglich. Wir könnten wohl mehr und besser, ja. Wir könnten die nachfolgende Ausgabe 16 einem sozialen oder politischen Thema widmen, eine inhaltlich und poetologisch klarere Positionierung einfordern, die kuratorische Arbeit nicht als Sammeln von Wahrnehmungs-Widerspruchs-Wirklichkeiten sondern engagiert-gerichtetes Herausformen begreifen, im Dauerlauf an der Szenenspitze mit der Turbowahrheit auf unseren wehenden Fahnen. Haben wir unsere Schreibenden durch die uns eigene Orientierungslosigkeit auf Holzwege geschickt, wo sie sich aufreiben, in Stücke gehen?

Schreien

Szenario: Du bist KLW 15, nicht metaphorisch, nein, in Cellophan und Druckerschwärze. Kein ganz frisches Exemplar, vielleicht etwas verknickt und schmutzig, denn du liegst schon seit zwei Wochen in einem dieser Büchertauschregale eines Würzburger Stadtbezirks, wo die Redaktion dich aussetzte. Gerade wirst du durchgeblättert, viel zu schnell, um wirklich gelesen zu werden; eine Passantin fragt dich, »Was soll das?« oder sagt »Aha.«; du bleibst stumm und wirst zurück ins Regal zwischen zwei Groschenromane gesteckt. Später lässt jemand die Schranktür auf und in der Nacht schläft eine Taube über dir, du hältst sie warm. Am Morgen befeuchtet Sprühregen deinen Rücken, löst die Bindung an und unwillig wellst du deine Seiten. Dann wirst du gepackt, aus dem Regal gezogen, dein Rücken bricht (nicht weiter schlimm), zwischen Fingerspitzen in ein Haus getragen, erster, zweiter, dritter, vierter Stock, wirst auf die Heizung gelegt, getrocknet, dann wieder Nacht. Am Morgen: Finger streicheln die Ränder deiner Seiten, folgen deinen schon leicht verwischten Zeilen, ein Kaffeefleck ziert dich. Dein Gegenüber ist so empfindsam wie du, abgewetzt, müde, schlurft mit der Zahnbürste im Mund nochmal zum Schreibtisch, versinkt kurz in dir, man könnte meinen: ein labiler Charakter, man könnte meinen: ein echter Mensch.

Und das ist alles und es ist genug, eben weil es alles ist, weil genauso Leben ist: diffus, zögernd oder hastend, im Wesentlichen ungerichtet und manchmal echt scheiße oder verdammt schön. Und genau darum geht es in KLW 15: Schreibende und Leserschaft dem überlassen, was da ist, den Texten, aber vor allem: sich selbst überlassen, sich aufreiben lassen; bis aus den Stücken, in die sie gegangen sind, etwas anderes wird oder nichts wird. Wir tragen 176 Ausgaben zweieinhalb Kilometer durch die Würzburger Innenstadt zu Lesungen, in Kneipen und zur Post. Es ist fast Sommer jetzt, echt heiß oder Gewitterregen, ich schwitze und ich hab es so fucking satt, wenn du fragst »Wieso?« und »Wozu?« und »Wird die KLW als Teil der freien Kulturszene zum Mitläufer einer selbstgerecht-elitären Verantwortungsdiffusions- Gesellschaft, wenn sie die ihr vorliegenden Wahlergebnisse/Klimaprognosen/etc. nicht explizit zum Thema macht?« und plötzlich schreie ich, atme hastig, schreie lauter, immer lauter, schreie rasende Verzweiflungsschreie, die Atem nur noch stückchenweise zulassen, huste, atme und schreie Staccato, bis irgendwann einhundertfünfundsiebzig KLW 15 verteilt sind, nur meine eigene noch übrig, vollgestopft mit Schnipseln aus allen Trafiken, Cafés und Bibliotheken der umliegenden Städte und Dörfer. Und ich gehe in mein Bad mit Schutt und ein Dutzend Fliesen, bin heiser, kein Ton mehr kommt aus mir, die Tür verrammle ich fest. Du klopfst an die andere Seite und fragst: »Liest du mir was vor?« Aber du hast das nicht verstanden. Kein Ton mehr kommt aus mir. Du musst das alles, alles selber tun.


[1] Abgängige Randstreifen oder Festmahl mit Sektempfang?

[2] Zu Problemen der Positionsbestimmung wird auch auf den exzellenten Beitrag ›VERTIGO‹ von Stella de Cadente in der Kolumne zu Ausgabe 14 verwiesen.

[3] Unsere statistischen Analysen zeigen: Auch die bedruckten Seiten sind überwiegend weiß.