KOLUMNE #4: K̶r̶i̶e̶g̶
Mensch und Frieden

Am Karfreitag setzte ich mich nach dem Frühstück in den Wagen und fuhr raus in das Dorf, in dem meine Großeltern gelebt hatten, in dem meine Mutter und ihre Brüder aufgewachsen waren. Meine Onkel leben noch heute dort; auch das kleine, nach heutigen Maßstäben wohl winzige Haus meiner Großeltern stand zwar noch, war aber inzwischen verkauft. Jedes Mal, wenn ich daran vorbeifahre, versuche ich, mir das Interior ins Gedächtnis zu rufen: Die kleine alte Küche, das Wohnzimmer mit den zahlreichen Teppichen, mit den alten Heizkörpern und Luftbefeuchtern, den engen und kalten Flur mit der Toilette mit Druckspülung, das verwinkelte Obergeschoss. Wir hatten das Haus nie durch die Vordertür betreten, sondern immer von Hinten über die Terrasse. Die heutigen Besitzer haben das Fenster der Küche zugemauert; Karfreitag sah ich, dass es diese Asozialen unterdessen geschafft hatten, die Brandsteine nach zwei Jahren wenigstens zu verputzen. Das früher aufgeräumte Grundstück ist heute zugemüllt mit Kinderspielzeug, gehacktem Holz, einem Autoanhänger, irgendwelchen Säcken; durch die matten Scheiben des Bienenhauses sieht man, dass dort, wo mein Großvater seine Bienenstöcke hielt, noch mehr Unrat steht, noch mehr Müll. Ich erinnere mich, wie sich meine Großmutter vor Jahren über neue Nachbarn echauffierte, die einige Häuser weiter eingezogen waren; den genauen Begriff, den sie verwendet hatte, gebe ich hier bewusst nicht wieder. Konkret hatte sie damals etwas an dem Zustand des

Vorgartens auszusetzen, mein eigener Eindruck war schließlich nicht ansatzweise so negativ gewesen wie der ihre. Wenn ich dieses Ereignis aber als Referenz heranziehe, dann schmerzt der Gedanke ungemein, sie müsste heute ihr Haus und Grundstück sehen.

Als ich den Wagen unter den Buchen geparkt hatte und ausgestiegen war, bereute ich, keinen Pullover über das Hemd gezogen zu haben. Am Vorabend noch brauchte ich kein Unterhemd, um mir die Windjacke durchzuschwitzen; an dem Tag aber wollte mich die Sonne wohl daran erinnern, welchem Ereignis wir eigentlich gedenken, und verzog sich immer weiter hinter dichte Wolken. Auf der Rückbank lag – dankenswerterweise – noch der dicke Wintermantel, ich zog ihn an der Softshell statt über, den Hut etwas tiefer in die Stirn und schritt langsam an der Halle vorbei in das Rauschen der Eichen und Kiefern hinein; die quietschende Gittertür hieß mich willkommen. Auf dem Weg entlang der Gräber traf ich niemanden an, auch fiel mir sonst nicht viel auf; mein Blick war leer, genau wie meine Gedanken – wenigstens für einen kurzen Moment. Dann stand ich in der hinteren Ecke unter den hohen Fichten auf dem kleinen Platz aus Granit, bedeckt mit einer feinen Schicht aus Moos und Nadeln, und ging auf die Knie – alleine, nur begleitet von dem Wind und seinem Spiel. Vor der Tafel waren zahlreiche Kränze, Gestecke und Vasen aufgestellt, derartige markierten auch in der hintersten Ecke der kleinen Rasenfläche die neue Ruhestätte. Ich studierte die Namen auf der Tafel, doch der letzte Eintrag war noch von 2020; ich besah die Namen auf den Bändern, sie sagten mir jedoch nichts und auch meine Mutter kannte, als ich sie ihr gegenüber später erwähnte, keinen davon. Eigentlich hätte ich noch ein Licht angezündet, doch seit einiger Zeit war die Laterne, die immer vor der Tafel zwischen den Blumen gestanden und die ich immer bestückt hatte, verschwunden, sodass ich die letzten Male keine Kerzen mitgenommen hatte. Stimmen drangen in mein Ohr, leise und verweht; ich blickte über die Schulter und sah ein Paar mit Kind weiter vorne, wo der Hauptweg bergan abknickt. Ich riss mich los, ging ihnen langsam entgegen, grüßte und der Mann, der in meine Richtung lief, grüßte zurück, während Frau und Kind bereits vorher nach links den Hügel hinauf abgebogen waren. Ich blickte ihnen nach und rückwärtsgewandt an ihnen vorbei, hin zu der Reihe am Hang, wo bis zum letzten Jahr die Grabstelle meines Großvaters gewesen war. Inzwischen ist sie schon wieder neu vergeben. Ich schritt voran, langsam, ließ die hohen Bäume hinter mir, die Familie mit ihren Gedanken und Ritualen alleine. Vom Weg aus konnte man das Dorf überblicken, die Häuser mit Rauch aus den Schornsteinen, die bewaldeten Hügel an seinen Flanken, den kahlen Buchenwald mit einigen grünen Fichteninseln.

Auf halbem Weg zum Ausgang blieb ich an einem kleinen Platz stehen, wand mich nach rechts, einem weiten Feld zu – zahlreichen Reihen eiserner, massiver und fest betonierter Kreuze. jedes von ihnen, jeweils etwas weniger als hüfthoch, trägt auf der Vorder- wie auf der Rückseite jeweils einen Namen; die darunter notierten Daten beginnen zu ganz unterschiedlichen Zeitpunkten, aber enden alle in der zweiten Hälfte der Vierziger Jahre. Es sind Namen von Frauen mit Doktortitel, Männernamen im höchsten Alter, Namen von Menschen, die nie erwachsen werden konnten; jeder nur gebückt lesbar unter der Patina aus Moos und Grünspan. Am Rande dieses Platzes vor dem Feld ist eine Tafel aus Bronze in das Pflaster eingelassen, die Worte der Aufschrift beschäftigen mich jedes Mal, wenn ich stehen bleibe – ich bleibe jedes Mal stehen, wenn ich dort bin. »Wenn du doch Mensch erkanntest, was zu deinem Frieden dient« Es ist der Ruf, Schrei und Seufzer der Geschundenen, Gebrochenen und Vertriebenen an die Nachwelt, an diejenigen, für die sie den Preis des Lebens als Vorschuss gezahlt haben; zu einer Zeit, von der uns bald niemand mehr wird erzählen können. Es ist ihre Mahnung an uns, aber jedes Mal, wenn ich dort stehe und mein Haupt dem Wetter entblöße, stehe ich ganz alleine vor der Tafel, blicke als einziger auf die Kreuze. Ich habe sie nie gezählt und weiß doch, dass es zugleich zu viele und zu wenige sind … Das Wetter hatte sich in dieser viertel Stunde nicht verändert, den Himmel verbarg ein dichter Wolkenteppich, der vom Wind beständig nach Ost-Süd-Ost getrieben wurde. Ich fror leicht, zog die Schultern höher, versenkte die linke Hand tiefer in der Tasche, krallte die rechte fester um die Krempe. Ich überlegte, wie das Wetter wohl vor 80 Jahren am Karfreitag gewesen sein mag und wie diese Stelle damals wohl ausgesehen hatte. Selbst wenn an dem Tag die Sonne vom Himmel gelacht hatte und die Wiese vor mir eine Blumenwiese war, marschierten doch die Armeen der Finsternis über das Angesicht der Erde, im Begriff, jede Zivilisation und Kultur Ruinen gleich zu machen. Als ich da stand und fror, war es so ein Moment, in dem mir trotz ewiger Gedanken die einfachsten Worte fehlten, sie zu formulieren. Ich kannte das Gefühl, habe es schon sehr – sehr – oft gefühlt, doch bis heute nie eine Beschreibung dafür gefunden. so sprach ich – ganz mechanisch und routiniert – im Stillen ein Vaterunser; es war das Eingeständnis meiner menschlichen Unfähigkeit, all das zu greifen, pragmatisch und rational zu fassen. Die Gedanken zogen sich zäh durch mein Hirn, auf der Suche nach einem Funken, aus dem ein Feuer des Friedens hätte erwachsen können; doch wo die Blicke auch hinflogen, blieb mir bloß Resignation und ein kindliches Festhalten an den wenigen Splittern des Glaubens, die in mir ruhen. Glauben im Sinne von Hoffnung, nicht im Sinne von Vertrauen; denn der Mensch scheint alles zu sein, bloß nicht vertrauenswürdig, wenn es um höheres Streben geht, um Begriffe wie »Frieden«. Er ist zu schnell zufrieden, gibt sich mit »Glück« ab, dem kurzfristigen, oberflächlichen Glück; er wälzt Moral, Verantwortung, Frieden ab, auf den Staat, die Kirche, die Gesellschaft …

Mit derartigem im Kopf, und von einer allgemein getrübten Stimmung eingenommen, schritt ich langsam zum Ausgang. Am Tor angelangt, blickte ich zurück, über den weiten, unbelegten Rasen, über die ersten Reihen polierter Steine und grauer Holzkreuze bis zu den hohen Bäumen, unter deren Kronen sich meine Blicke in der Tiefe des Friedhofs verloren. Die Angeln quietschten, der Kies knirschte unter meinen Schuhen und der Wind spielte noch immer mit den Bäumen und trieb die Wolken unerbittlich voran. Für wenige Sekunden brach grell die Sonne durch und erhellte den ganzen Platz,

als wollte sie mich aus meinen Gedanken reißen. Bevor sich die Wolken in meinem Kopf lichten konnten, wurde ihr Licht schon wieder matt. Nein, Frieden würde es auf dieser Erde nie geben, nicht mit diesen Menschen, nicht mit dieser Evolution. Unternehmen, Stiftungen, Kunst, Parlamente, Grundrechte, TikTok … – Nein, nichts davon trägt irgendwie nachhaltig zum Frieden bei …

Als ich den Wagen startete, ging das Radio von alleine an; ein Automatismus, den ich immer gehasst habe. Es war kurz nach 11 Uhr, die Nachrichten liefen, ich lauschte ihnen, regungslos in den Fahrersitz gelehnt, die Finger an der pochenden Schläfe: Fehlende Impfdosen, neuerliche Korruption, Gefechte in Syrien, der Papst auf Instagram. Ich schaltete das Radio aus, kuppelte ein und rollte, im Standgas, ganz langsam, durch die Siedlung. Eine Frau die schrie, ein Kind das lachte, ein Hund der bellte; Autos, die die halbe Straße zuparkten; ein Mann auf einem Fahrrad, er grüßte und ich grüßte wage zurück; ein anderer mit einer Axt und seiner Einfahrt voller Scheite. Nein, sagte ich zu mir selbst, Frieden wird immer eine Illusion bleiben, eine temporäre, relative Angelegenheit – oft nicht mehr als fehlinterpretiertes Glück. Ich überlegte – während ich durch den Ort fuhr, langsamer als sonst –, ob Glück und Frieden, Zufriedenheit und Frieden überhaupt miteinander in Einklang gebracht werden könnten. Wer glücklich und befriedigt ist, ist zwar friedlich; dieser Frieden aber ist nur temporär. Irgendwann kommt das Verlangen wieder, das Glück hat sich verbraucht; der volle Magen alleine wird nicht wieder glücklich machen, mehr wird verlangt werden. Nein, Frieden auf der Welt bleibt unmöglich, solange es Glück und Unglück gibt, sagte ich laut zu mir selbst, während ich das Ortsschild passierte und langsam das Gaspedal zum Boden durchtrat.