(Redaktioneller Hinweis: Die Suche nach Kolumne #5 ist vergeblich. Eine solche liegt der KLW nicht vor.)
Ich bin wieder hier! Zumindest für diese kleine Kolumne. Dem geneigten Leser wird aufgefallen sein, dass es in der letzten Ausgabe erstaunlich still um mich war. Beruhigenderweise hat es keine*n näher interessiert – es ist immer ein gutes Gefühl, zu wissen, dass einen niemand vermissen würde …
Ich könnte jetzt hier wieder in alter Manier anfangen und ganz pathetisch »deepe« Fragen aufwerfen – doch was sollte das nutzen bei diesem Publikum und bei diesem Autor? Ich schrieb unlängst der Redaktion, dass mir zurzeit der Biss fehlt, das Gefühl für Sinn und Richtung. Die Arbeit hat ihr übriges getan, das Leben, all das was uns Angst macht, auch wenn wir nie drüber reden würden (schrieb ich wir? Ja, ich meine mich …). Licht kann nur Nachts leuchten. Die Tage können mich manchmal mitnehmen, oft vereinnahmen mich aber nur ihre Geschäftigkeit, ihr Stress, ihre Härte – ohne dass ich in Ihnen leben würde. Erst die Nacht schafft den Raum für Gefühle und erlaubt den Emotionen, zu sein.
Ich rücke nicht davon ab, die Literatur als Kunstform zu begreifen, welche Leben und Persönlichkeit der Schaffenden und Konsumierenden formt – und sich dafür ihrer Emotionen bedient. Literatur ist Ausdrucksform wie Musik oder Theater, und als solche wirkt sie nicht von alleine, durch ihre bloße Existenz in Form von Buchstaben auf Papier. Diese Buchstaben mögen eine intrinsische Bedeutung haben, aber die Schrift ist nur ein Mittel der Konservierung, wie eine .mp3- oder .mp4-Datei auch. Was zählt, ist der Prozess des Bedeutung-Gebens (Schreiben) und -Nehmens (Lesen), wie in der Musik das Spielen und Hören zählen und eben nicht die Noten oder die Aufnahme. In einem Buch mag diese direkte Verbindung von Autor und Leser »zwischen den Zeilen« liegen, doch halte ich diese oft verwendete Phrase für zu plump. Ich gehe weiter und möchte mich der Interpretation, der Ansicht anschließend, dass die Geschichte nahezu jeden Werkes selbst austauschbar ist, sowohl in den Details als auch im Großen. Die zahlreichen »großen« Romane, die schiere Flut von Literatur auf dem Buchmarkt suggeriert uns, mit immer extravaganteren Klappentexten, dass eine Information, eine Interpretation, eine Geschichte neu, brillant oder disruptiv wären. Doch schon Nietzsche bemerkte treffend, dass nichts auf der Welt wirklich neu ist. Was also einzig zählen kann – und wenn das nicht zählt, dann zählt nichts etwas – ist die Stimme der Autorin, des Autors, die Seelenlage der Leserin, des Lesers. Oft habe ich mich gefragt, warum mich manche Geschichten in den Bann ziehen und andere kalt lassen. Es sind nicht direkt die Geschichte oder ihr Inhalt, es sind der Blick des Autors auf die Welt und seine Fähigkeit, diesen in Worte/Gedanken/Träume zu fassen. Ein Autor, dessen Blick zur Gefühls- und Seelenlage zahlreicher Menschen passt, ist kommerziell erfolgreich – sofern er dazu noch sein Handwerkszeug versteht. Vermutlich passiert es Ihnen auch gelegentlich, dass Sie manche Ihrer Texte als so viel größer empfinden als andere, die dafür vielleicht von Ihrem Umfeld oder der Kritik besser aufgenommen werden. Doch in erstere haben Sie beim Schreiben ihr ganzes Wesen gelegt, Sie empfinden den Text derart anders, weil das Gefühl da war. Sie wissen doch, was ich mit Gefühl meine? Mich hat es »Der Klavierspieler vom Gare du Nore« gelehrt, ein Film den ich zum ersten Mal im Central im Bürgerbräu sah, vor Jahren, als die Wolken die ich sah – wenn ich durch mein kleines Fenster hoch zum Himmel blickte –, noch dunkler schattiert waren als heute. Ein großartiger Film, ich wünsche Ihnen, dass er Sie kennt. Night light turns shadows into people
Bei mir verhält es sich nämlich so: Um mich aktiv mit mir zu konfrontieren, muss ich als erstes passiv werden, mich hinsetzen und abgeben an die Kunst: Erst wenn ich mich übermüdet – darum die immense Bedeutung der Nacht – und voller Zweifel in das Lichtspiel entführen lasse, wenn ich mein Dasein in die Fahrt der Kamera lege, meinen Ausdruck in die Gesichter der Akteure, mein Wanken in die Höhen der Musik. Erst dann, nur das mag das Schreiben zeitweise zu substituieren, wenn es zu schwer wird. Ich nehme Filme sehr ernst – das heißt, die Guten lassen mich sie ernst nehmen, ohne mich vorher zu fragen. Sie sind mir Spiegel und Gesprächspartner. Bücher können natürlich eine ähnliche Wirkung haben, aber sie tun sich naturgemäß schwerer, da ihnen die Mittel der Inszenierung fehlen und sie daher umso mehr aus sich heraus glänzen müssen. Ich kann Sie daher nur ermuntern, den Filmen die Chance einzuräumen, Sie ernstnehmen zu dürfen. Erweisen Sie ihnen dafür nur ein wenig Respekt, beispielsweise indem Sie sich angewöhnen, den Abspann bis zum letzen Logo anzuschauen. Er ist Teil des Films, so wie jede Einstellung bestimmte Teile der Handlung beleuchtet, verdeutlicht er, dass Sie einen Film gesehen haben.
Das Andere auf das ich hinaus will, wenn ich von nächtlicher Emotionalität spreche, ist der Schlaf (beim Wort Schlaf muss ich instinktiv an Chandlers Meisterwerk »The big sleep« denken. Beängstigend, oder?). Der Schlaf und ich, wir sind nie so richtig Vertraute geworden: Er verheimlicht mir zu vieles und ich bringe ihm nicht das Maß an Respekt und Aufmerksamkeit entgegen, das ihm zusteht. Würde ich mich nur an ein Promille meiner Träume erinnern können, ich hätte mehr Geschichten als je ein Verlag drucken könnte. Doch bloß drucken wollen würde sie auch dann keiner, denn sie verknüpfen gewöhnlich die gegenteiligsten und wildesten Erlebnisse, Erinnerungen und Gedanken zu Bildern und Geschehnissen; die mich morgens im süßen Schlummer umgarnen, während sie mich am hellen Tage stirnrunzelnd zurückschrecken ließen. Es ist wie im Lied »Nachbeben« von Alligatoah: Egal wie und wann wir schlafen, irgendwann wachen wir auf. Und manchmal haben wir den Abdruck einer Schuhsohle auf der Wange … Whisper between stacks of money
Eine letzte Referenz dürfen Sie noch erdulden, dann lasse ich sie wieder ihren Tagesgeschäften und -träumen nachgehen. Es ist – Sie kennen mich – ein Verweis auf DIE ZEIT, genauer auf das ZEIT MAGAZIN (ich sage immer gerne »time magazin« dazu, es klingt irgendwie bedeutender …) Ausgabe No1 vom 30. Dezember letzen Jahres. Der ZEIT-Kolumnist Harald Martenstein kehrt an seine frühere Freiburger Universität zurück – »Das Comeback des Jahres«, so die Titelseite – und referiert über Unterschiede und Gemeinsamkeiten im Studieren damals und heute. Eine Passage möchte ich hier unverändert zitieren: »Nein, noch etwas finden viele gut: Man versackt während des Studiums nicht mehr so leicht. Leistungsdruck diszipliniert. Aber warum soll man eigentlich nicht versacken? Ich kenne Leute, die fast zwanzig Semester studiert haben, dann ohne Examen abgingen und kraft ihrer an der Uni lange gereiften Persönlichkeit glückliche Millionär*innen geworden sind, von Scheitern würde ich da nicht sprechen. Bildung ist ein Selbstzweck, wie Sport. Sport muss man auch nicht groß begründen.« Ich muss gestehen, dass ich einen gewissen Optimismus aus diesem Absatz ziehe und auch eine Versöhnung gegenüber einiger meiner Ansichten und den Menschen und Situationen, die sie trafen. Die realistische Möglichkeit, in der kapitalistischen Verwertungslogik der Gesellschaft immer noch einen Platz haben zu können, unabhängig der akuten (Un)Fähigkeit, ist zutiefst beruhigend.
Auf der anderen Seite der Psyche hat mich derselbe Harald Martenstein in derselben Zeitschrift in seiner regelmäßigen Kolumne in meinem fundamentalen Realo-Pessimismus bestärkt: Er zitiert unter der Überschrift »Über das kommende Jahr« die Seuchenschützerin Andrea Ammon mit der Aussage: »Es besteht kein Grund für Optimismus«. Schöne Scheiße. In dem Text gibt er einen Ausblick auf einen möglichen Verlauf von 2022. Seine Art der Schilderung und der Inhalt seiner Prophezeihungen weist erstaunliche Parallelen zu meinem in der KLW veröffentlichten Text »1000 Menschen sterben« auf (er geht in der Eskalation zumindest bis zum »Bürgerkrieg«); wenn er auch unwesentlich weniger drastisch und dafür umso erschreckend realer schreibt. Er lobt 2021 für all das, was es uns erspart hat. Es erinnert mich an das ureigene menschliche Paradox von dem Zaun und dem Gras und daran, wie Josh Hartnett und Ben Kingsley in dem großartigen Thriller »Lucky Number Slevin« von 2007 darüber sinieren, während der Eine den Anderen mit einer Schrottflinte bedroht und der Andere sich gegenüber dem Einen für jemanden ausgibt, der er nicht ist und der nicht mehr ist. Seit ich den Film das erste Mal gesehen habe, rufe ich mir oft die Aussage des Rabbis – Kingsleys Figur – in Erinnerung: »Ich lebe auf beiden Seiten des Zauns. Mein Gras ist immer grün. Merken Sie Sich das, Mr. Fisher.« Ich bin geneigt zu sagen, wir Menschen von Heute mit einer Zukunft im Morgen sollten gut daran tun, auf allen Seiten des Zauns zumindest einen Fuß stehen zu haben.
The rest is silence