KOLUMNE #3:
Über Scheiße, Zeit
und Whisky

Es ist wohl wieder Zeit … Eine neue Kolumne wird erwartet, des Großen soll ich wohl leisten, wenn ich mich auch sehr klein fühle dieser Tage. Die Eiswürfel sind alle und den Whisky, der mir zum Geburtstag geschenkt wurde, den bekomme ich pur nicht runter. Ich strecke ihn also so gut wie möglich mit Limonade und erfreue mich daran, dass diese Mische gar nicht so Scheiße schmeckt wie angenommen, auch wenn sie mit einem wahren ›Whisky Sour‹ – einem Drink der Gentleman der goldenen 20er Jahre – nicht viel mehr gemein hat als den stilvollen Tumbler, dessen Kristall im warmen Licht meiner Schreibtischlampe sanft funkelt. Ein Stück aus einem vierteiligen Set der Serie ›Highland‹ der bayrischen Kristallfabrik Nachtmann, in meinen Besitz gekommen als Geschenk der Deutschen Bahn für 1000 Prämienpunkte. Dafür hätte ich auch einen Regenschirm bekommen (den ich nicht gebraucht hätte) oder einen Gutschein fürs Bordbistro (in dem ich noch nie etwas gekauft habe) oder eine Baumspende an das Bergwaldprojekt (i. H. v. 10 Euro, wohingegen die Gläser einen Gegenwert von 20 Euro haben) oder oder oder …

Nun, kurz gesagt, ein Paar hochwertige Gläser konnte ich gebrauchen und so traf ich meine Wahl. Wenngleich diese Wahl gut war (Nein, ich bekomme keine Tantiemen für Produktplatzierungen, schön wäre es ja …), war es die Wahl meines Drinks heute Abend nicht, denn nach dem dritten mittlerweile geleerten Glas und dem zweiten durchgespielten Satz von Mahlers Vierter beginnt mein Magen zu brennen und mein Kopf zu schmerzen. Die bittere Wahrheit ist wohl, dass ich weit weniger vertrage, als ich den anderen immer versuche einzureden (als ›Ostdeutscher‹ ist man da oft einer gewissen ›Erwartungshaltung‹ ausgesetzt …) und heute zwar durchaus was gegessen, doch nur wenig Wasser getrunken habe. Meiner Erfahrung nach macht das ausreichende Trinken von Wasser gute 40 % des allgemeinen Wohlbefindens aus, sodass man die leidliche und oberflächliche tägliche Frage des »Wie gehts?« gegen ein »Heute schon genug Wasser getrunken?« einwechseln sollte. Das würde einen deutlichen Überraschungseffekt beim Gegenüber hervorrufen, ihn zur Selbstreflexion statt zum Selbstbetrug anstiften, ein Gesprächsthema eröffnen, einen Beitrag zum ›Klimaschutz‹ leisten (Wasser ≠ Milch oder Cola; umso mehr Leitung umso besser) und und und …

Ob Sie jetzt Wasser trinken oder Bier, ob sie sitzen oder gehen, mit dem Freund essen oder mit der Mutter einkaufen: Sie werden sich sicher fragen: Was will der uns denn heute erzählen? Sitzt da, in einer sternenklaren und für den Oktober viel zu warmen Nacht, an seinem Computer und schafft es in über 2200 ZoL nicht ein bedeutendes Wort, nicht einen klugen Gedanken hernieder zu bringen. Hä? Und ich sage: Sie haben recht! Ich habe mich an den Rechner gesetzt ohne Manuskript, mit einem Zettel, auf dem lediglich zwei Worte notiert sind: Zeit! und Regung. Mit diesem – für meine Begriffe minimalistischsten – Material und einer Frage an Sie – ja Sie, die Leserinnen und Leser dieses Wisches – habe ich mich heute entschlossen, wieder zu schreiben. Wollen Sie die Frage wissen, die weniger als richtige verbale Antwortsuche, vielmehr als ein innerlicher Schmerzschrei aus dem Nebel meiner Gedanken auftauchte? Sie lautet: Ist die ganze Menschheit nur noch Scheiße? Und dann, klar und scharf blickte ich von der anderen Seite, von vorne auf das Problem: Sind meine Leser eigentlich Scheiße? Haben die sich eingeschissen oder wurden denen ihre Geschlechtsmerkmale amputiert? Es kann doch nicht sein, dass ich mir den Mund fusselig schreibe, Kontroversen auf den Tisch haue, und nicht mal die Leserschaft einer alternativen pseudo-intellektuellen jungen Literaturzeitschrift sagt was dazu? Ich kriege nicht mal einen Shitstorm, ich bekomme nicht mal EINE Antwort auf eine Kolumne, auf einen Text? Was soll das hier denn sein? Die Kackenden Lappen Würzburgs? Natürlich, eine Literaturzeitschrift ist kein Philosophiezirkel, aber es kann doch nicht angehen, dass dutzende Autoren Monat für Monat ihre Texte tippen, sie einsenden – um dann vielleicht nochmal auf einer Lesung in einer verrauchten Hinterhofkneipe ihr Semesterportfolio für die Kunsthochschule fertig zu bekommen –, doch nicht mal EINEN Kommentar, Leserbrief, Debattenbeitrag zu irgendeinem geschriebenen Satz zustande bekommen.

Was ist denn mit meinen Kommentaren zu den vergangen Ausgaben passiert? Es muss sich doch mal jemand Gedanken über die Bedeutung von Richtig und Falsch (KLW Nr. 1, Anonym, Tun) gemacht haben, oder bin ich der einzige, der denkt? Hat sich denn mal jemand mit den vielfältigen, von Sebastian Schmidt angesprochenen Themen auseinandergesetzt (KLW Nr. 1, Sebastian Schmidt, Was uns übrig bleibt)? Kennt denn jemand »den Fremden« persönlich (KLW Nr. 1, Johannes, Der Fremde)? (Nebenbei: ich kenne ihn auch nicht, würde ihn aber gerne kennenlernen … vielleicht als Anreiz …). Gab es mal ein Gespräch über die Hintergründe der »Muzarka« (KLW Nr. 2, Johannes Jung, Muzarka)? Hat jemand von euch seinen Pornokonsum überdacht nach der Lektüre Bötschs (KLW Nr. 2, Marco Bötsch, Der Druck)? Und und und … Fand denn niemand meinen Protagonisten in »Verkommen« auch nur ein bisschen anstößig? Gehen alle mit mir in den russischen Winter? Und trinken einen auf dem Oberdeck? Gut, dann gebt ihr aber aus! Ich habe es nämlich satt, für satte Möchtegerns in ihren bequemen Sesseln zu schreiben. Was ist denn eurer Meinung nach der Sinn/Wert von Literatur? Mein hochgeschätzter Verleger Bötsch hielt ja meine Zunftrede – wie mir aus sicherer Quelle zugetragen wurde – im Standard vor zig Leuten. Zustimmung? Ablehnung? Oder doch alle nach dem zweiten Bier eingeschlafen? Man, es ist so zum Kotzen … Wenn schon das Milieu einer wohl eher liberalen bis linken Literaturzeitschrift so unfassbar träge und langweilig ist, was ist dann wohl der Rest der Gesellschaft? Gibt es denn da draußen auch nur einen, der sich noch wirklich bemüht, selbst zu denken? Der aufrichtig die Debatten sucht? Welches Selbstverständnis habt ihr selbsternannten »Schriftsteller« eigentlich? Hä? …

Na, hat das wenigstens eine REGUNG bei euch hervorgerufen? Ist irgendwer aufgewacht? Ich werde so lange für dieses Blatt nichts inhaltlich konstruktives mehr schreiben, bis endlich mal jemand auf die Idee kommt, dass es ja genau darum gehen sollte: die Inhalte, die Debatte, die Besprechung. Solange das nicht passiert, brauche ich auch keine Inhalte mehr zu liefern. ZEIT habe ich, keine Sorge. Und seien Sie sicher: Ich nehme (fast) nichts übel. Beschimpfen Sie mich ruhig erstmal, machen Sie mich nieder. Denunzieren Sie meine Werke und meine Worte, ist mir alles recht: Solange ich wenigstens IRGENDWAS zurückbekomme. Aus einem Streit, ja sogar aus Hass kann noch eine Freundschaft entstehen, doch wenn man gar nicht kommuniziert, dann ist alles wertlos …

Soweit, frohen restlichen Oktober, Karl T. Ziegler

PS: Wie ich darauf kam, vielleicht damit Sie klarer sehen: Seit einiger Zeit bekomme ich DIE ZEIT, und ich liebe diese Zeitung, denn sie liefert so viel für so günstig, dass man es kaum schafft, alles wirklich zu studieren und durchzudenken. Ich versuche, mir diese Zeit zu nehmen, wann immer möglich. Und immer wenn ich es tue, dazu vielleicht noch die Tagesschau sehe, Radio höre etc. manifestiert sich am Ende nur ein Blickwinkel immer fester: Ist das nicht alles eine riesige Scheiße? Wo man hinsieht funktioniert nichts, und die Menschen reden, doch kommunizieren nicht mehr. Nichts geht irgendwie voran – sehr zynisch, ich weiß, aber irgendwie schon wahr – und wenn man den Grund sucht, liegt er darin, dass keiner am Ende wirklich was ändern will, und es sich alle in ihrer Welt bequem gemacht haben. Sollten nicht gerade wir, die Schriftsteller, dazu beitragen, die Menschen aus diesen Löchern herauszuholen, ihnen die Stimme – und viel wichtiger: Gedankenimpulse, geistige Anregungen – geben, sodass sie Teil einer WIRKLICHEN Debatte und somit Teil einer – möglichst positiven – Veränderung werden? Sind wir den Lesern nicht schuldig, ihnen auf dem Weg zum Menschwerden mit unseren Texten behilflich zu sein? Das Rüstzeug liefern, die ›Conditio humana‹ zu klären. Es wäre eine Vision …

PPS: Nichts für Ungut an meinen treuen Verleger und womöglich sein Team, die einzigen, die wohl überhaupt mit mir reden …