Die Stadt und die Stadt

Ich bin mit der Bahn in eine kleine Stadt gefahren und durch ihre putzigen Gassen geschlendert, hab sie aber für eine andere Stadt gehalten und bin deshalb ständig gegen Wände, Laternen und andere Passanten gelaufen, in Gräben und Flüsse gefallen, zweimal fast überfahren worden und schließlich in einem kleinen Waldstück gelandet, das eigentlich eine Zahnarztpraxis sein müsste. Da hab ich mich entschieden, diese Verwirrung aufzulösen und sie öffentlich bekanntgegeben. Wie zu vermuten war, konnte ich zu Beginn kaum jemanden überzeugen und bin von den allermeisten vorschnell als Spinner abgestempelt worden. „Dann geh doch in diese andere Stadt, wenn sie so toll ist“, war einer der häufigsten Einwände. Ich hab an meinem Projekt festgehalten und mit weiteren Vorträgen ein paar Leute auf meine Seite bringen können, mit denen ich erste Ecken der Stadt an die Stadt angepasst hab. Das Ganze haben wir, von Anschuldigungen, Protesten und körperlichen Auseinandersetzungen immer wieder unterbrochen, die nächsten Jahre fortgesetzt, bis die Stadt so ausgesehen hat wie die Stadt und ich endlich weiterfahren konnte.

 

Lärm

Gegen Mittag bin ich los. Ich hab die Boxen in den Kofferraum gehievt und bin los. Es war gar nicht weit. Was mich jedes Mal überrascht, weil man ja annimmt, dass diese abgeschotteten Dörfer ganz weit weg sein müssen, aber nicht wirklich, dafür hab ich es schon zu oft gemacht.

Ich bin los, dann hat es angefangen zu regnen. Das ist nie gut. Normalerweise mag ich den Regen, nur nicht bei der Arbeit. Dann hat sie nicht denselben Effekt. Nach einer halben Stunde bin ich angekommen. Als ich die Boxen aus dem Kofferraum gehievt hab, sind drei Kinder aus dem Busch neben mir gestürmt und schreiend über das Feld gerannt. Ich hab die Boxen aufgestellt und dem Mann, den wir kontaktiert hatten, Bescheid gegeben, dass er jetzt bitte alle versammeln soll. Das hat er gemacht, aber nicht sonderlich gründlich, denn es sind nur zehn, zwölf gekommen, und ich weiß, dass dort deutlich mehr Leute wohnen. Ich hab einen letzten Check gemacht und mich an die kleine Gruppe gerichtet: „Ja, hallo, vielen Dank, dass Sie so zahlreich hier erschienen sind“, hab ich angefangen, und dann den üblichen Kram, den wir eben sagen, den ich schon hunderte Mal gesagt hab, wie wichtig es ist, Lärm in seinem Leben zu haben, Lärm als Ausgleich, Lärm als Schutzfunktion, Lärm als soziales Element, Lärm als Werkzeug, und dass sie hinterher gerne das kleine Formular ausfüllen können, das hilft uns immer sehr. Dann hab ich auf Play gedrückt. Nichts ist passiert. Ich hab nochmal drauf gedrückt, dann nochmal draufgedrückt, die Kabel überprüft, aber da hat alles gepasst. Ich wusste, dass mir das schon einmal passiert war, vor vielen Jahren, als ich mit dem Lärmmachen gerade angefangen hatte, konnte mich aber nicht mehr an die genauen Umstände erinnern. Also hab ich eben, nachdem ich es noch ein letztes Mal probiert hab, angefangen zu schreien, und dabei mit einem dicken Ast, der praktischerweise neben mir im Gras gelegen hat, auf den Boxen rumgeklopft, hab auf den Boden gestampft und versucht, sie zum Mitmachen zu animieren, aber sie haben sich nicht überzeugen lassen und weiter regungslos zugeschaut. Das Ganze hab ich etwa zwei Minuten gemacht. Danach war ich ganz schön fertig. „Ja“, hab ich außer Atem gesagt, „vielen Dank“, und eben, dass es normalerweise nicht so laufen sollte, aber manchmal einfach passiert, und mich für ihre Geduld und ihr Interesse bedankt und alles abgebaut und in den Kofferraum gehievt. Kurz hab ich noch den Mann gesucht, den wir kontaktiert hatten, ihn aber nicht mehr gefunden. Dann hab ich mich auf den Rückweg gemacht. Auf der Fahrt ist es mir unfassbar peinlich geworden, und ich hab sogar kurz am Straßenrand angehalten, weil die Erinnerung an meine Aufführung unterträglich geworden ist. Dann bin ich aber doch weiter gefahren, denn es blieb mir ja nichts anderes übrig, und es war ja auch gar nichts Besonderes.

 

Die Prügelei

Normalerweise geh ich nicht zum Bäcker, diesmal schon. Ich wollte ein paar Brötchen und Croissants, vor allem aber wollte ich mal wieder zum Bäcker. Ich bin los, als es unfassbar dolle gestürmt hat, schief geregnet und stechend hell geblitzt und erderschütternd gedonnert, und war schon gut nass, als ich die Tür aufgemacht hab und es gebimmelt hat. Vor mir waren zwei und hinten beim Getränkeautomaten noch ein dritter, von dem ich nicht sicher sagen konnte, ob er anstand oder nicht. Als ich schließlich dran war, hab ich „Hallo, ich hätt gern“ gesagt und musste husten, woraufhin nach nur ein paar Sekunden der Schlägertrupp für Momente, in denen einer an einem regnerischen Tag beim Bäcker hinter zwei, eventuell drei weiteren Parteien ansteht und bei der Bestellung vor dem siebten Wort zu husten anfängt, reingekommen ist. Erst hab ich sie gar nicht erkannt. Dann hab ich einen auf die Fresse bekommen. Ich bin zu Boden gegangen und hab weitere extrem unwahrscheinliche Schläge und Tritte kassiert, aber gar nicht mehr wirklich mitbekommen.

 

Die Karte

Es gibt eine Karte, die dir unsere Stadt zeigt, nicht die ganze Stadt, nur ein paar Straßen in der Nähe des Marktplatzes, aber die zeigt sie dir so genau, dass du sie nicht wieder erkennst, wenn du sie entlangläufst oder auf der Karte siehst, sie zeigt dir, wie sie eigentlich aussehen, und je mehr du hinsiehst, je mehr du erfährst, desto weniger siehst du, denn die Karte, die die Straßen zeigt, zeigt eigentlich nur eine einzige, nicht mal die, bloß den Mülleimer mit der Bank nebendran, auf der ein Mann sitzt und die Karte studiert, sich verwirrt umschaut, wieder auf die Karte guckt, wieder um sich guckt und schließlich erkennt, dass es keinen Ausweg gibt.

 

Der Große

Es gibt einen bei uns in der Nachbarschaft – ich glaub, er heißt Karsten, kann mich aber auch täuschen –, der ist viel größer, als er aussieht. Also, viel, viel größer. Man läuft die Straße lang, um zur Bushaltestelle zu gehen, um ein paar Freunde im Schwimmbad zu treffen, um die Katze zu verscheuchen, die alle anderen Katzen terrorisiert, und läuft gegen ihn. „Hey“, kommt es dann von irgendwo, nur nicht von da, wo man gerade ist. „Tschuldigung“, murmel ich, seh mich um, obwohl ich schon weiß, dass mir das nichts bringen wird, und die Katze ist verschwunden. Ich lauf zurück zum Haus, immer schön vorsichtig, nicht nochmal gegen Karsten zu laufen, aber er ist schon längst weg.

 

Scheiße

Erst war es nur ein weißer Striemen, ein roter Fleck, ein Juckreiz. Ich hab Panik bekommen und gedacht, ich krieg wieder Borreliose, dann ist ohne wirklichen Grund auf einmal ein kleines Stück Scheiße aus meiner Handfläche gequillt, was seltsam ist, weil mittlerweile weiß ich, dass es mit dem Druck zusammenhängt, den man auf die Hand ausübt oder eben nicht. Natürlich hab ich nicht gleich verstanden, dass das Scheiße ist. Ich hab die kleine braune Masse weggeschnipst und sie ist hinter der Couch gelandet. Als ich sie vorhin gesucht hab, aus mehr oder weniger nostalgischen Gründen, hab ich sie nicht gefunden. Es ist schon unangenehm. Kann man nicht anders sagen. Die Sache selbst, wenn also die Scheiße aus meiner Hand kommt, ist erstaunlich angenehm, diese Art von Drücken und Stechen und Kitzeln, die wirklich gut tut. Der Rest eher nicht so. Man findet sich zwar damit ab, aber da bleibt etwas, an das sich nicht zu gewöhnen ist. Wenn wir uns am Mittelkreis aufstellen, der Gegner an uns vorbeiläuft und wir alle Hände schütteln und „Gutes Spiel, gutes Spiel“ sagen und mir auf einmal die braune Suppe aus der Hand läuft und einer deshalb richtig aggressiv wird, dann, dann sind das diese Momente.

 

Der Kommentator

Es gibt einen Mann in unserer Straße, der jedes Mal, wenn jemand hinfällt – meistens sind es Kinder –, zu der Person hingeht und sagt: „Jetzt bist du hingefallen“. Während ich hier aufgewachsen bin, hat er mir das bestimmt fünfzehnmal gesagt, und jedes Mal bin ich richtig pissig geworden. Warum sagst du mir das, hab ich mir gedacht, ja, ich bin hingefallen, ich seh’s selber, es tut weh, es wird mir eine Lektion sein, aber warum sagst du mir das, was soll das, es aber, wenn ich mich richtig erinnere, nie gesagt. Und das ist auch gut so, denn mittlerweile versteh ich, warum er das sagt.