Die Fensterrahmen sind leuchtend weiß. Die hölzerne Fassade ist blassblau gestrichen – das traditionelle Dunkelrot erschien uns zu aufdringlich. Ein großer Garten und mehrere Hektar Wald umgeben das Haus. Zwischen den Bäumen liegt ein kleiner See mit eigenem Steg. Paul und ich haben uns einen Traum erfüllt mit diesem Grundstück.
Ich knie im Dreck. Winzige Steinchen bohren sich durch den Stoff der zerschlissenen Jeans in meine Haut. Ich drücke die Erde rings um den Setzling leicht fest. Die zarten Blättchen am Ende des dünnen Stängels erzittern. Mein Blick bleibt für einen Moment an meinen Händen hängen. Die Finger heben sich gespenstisch weiß vom dunklen Boden ab. Die Knöchel sind blutig und unter den brüchigen Nägeln ist immer etwas Erde. Seitdem der Garten zu meinem Lebensmittelpunkt geworden ist, gehören die gepflegten Hände, auf die ich früher so viel Wert gelegt habe, der Vergangenheit an. Wir wollten uns nur noch auf das Wesentliche konzentrieren hier. Auf uns und auf die Dinge, die uns glücklich machen. Paul wollte lernen, aus unserem eigenen Holz Möbel zu schreinern. Ich wollte endlich wieder mit dem Schreiben anfangen. Doch einen Arbeitstisch habe ich immer noch nicht und mein Computer verstaubt in einer Umzugskiste. Seit Monaten habe ich kein Wort zu Papier gebracht.
Die Samen für meine Setzlinge habe ich mit viel Sorgfalt ausgewählt. Sie stammen ausschließlich von den größten und schönsten Exemplaren der letzten Ernte. Ich habe die Kerne getrocknet und mit einer Lupe gründlich auf Schäden untersucht, bevor ich sie für den Winter in kleine, säuberlich beschriftete Papiertüten verpackt habe. Ehe ich die Kerne vor ein paar Wochen in Töpfchen mit Aussaaterde gesetzt habe, habe ich ihre Ränder mit einer Feile abgeschliffen, damit sich die Keimlinge leichter aus der harten Schale befreien konnten. Ich habe alles in meiner Macht Stehende dafür getan, meinen Pflanzen den perfekten Start ins Leben zu ermöglichen. Ich setze mich auf meine Fersen und lege meine Hände auf meine Oberschenkel. Für einen Moment schließe ich die Augen und genieße die Sonne auf meiner Haut. Der Winter hier oben war eiskalt und stockfinster. Und einsam. In den vergangenen Monaten gab es Tage, an denen ich mir nicht vorstellen konnte, dass es irgendwann wieder besser werden würde. Doch inzwischen ist auch der letzte Schnee geschmolzen, das letzte Eis getaut. Licht und Wärme sind zurückgekehrt. Und irgendwie geht es weiter.
Das Geräusch eines herannahenden Fahrzeugs lässt mich aufhorchen. Hinter unserem Grundstück geht die schmale Schotterstraße in einen noch schmäleren Waldweg über. Niemand kommt hier zufällig vorbei. Ich öffne die Augen und werfe einen Blick über meine Schulter. Obwohl ich weiß, was ich dort sehen werde, kann ich nicht anders. Im nächsten Moment taucht der Pick-up zwischen den Bäumen auf.
Paul hält am Straßenrand vor dem Haus. Es ist Tage her, dass ich ihn zuletzt gesehen habe. Er hat sich nicht verabschiedet und nicht gesagt, wohin er geht. Das macht er schon lange nicht mehr. Und ich habe nicht nachgefragt. Durch den Zaun hindurch beobachte ich Paul dabei, wie er aussteigt. Wie immer ist er nicht allein. August, der eben noch auf dem Beifahrersitz saß, folgt ihm nach draußen und die beiden umrunden den Pick-up. Der Hund ist es auch, der mich als erstes bemerkt. Es ist nur ein ganz kurzes Zögern, das ihn verrät. Dann ist er mit seiner Aufmerksamkeit auch schon wieder ganz bei Paul. Paul selbst entdeckt mich erst, als er durch das Gartentor tritt. Unsere Blicke treffen sich. In Pauls dunkel umschatteten Augen liegt ein Ausdruck, der mir inzwischen nur allzu vertraut ist. Er sieht mich an, als könnte er mich und meinen Anblick nicht mehr ertragen. Mich und meine Pflanzen. Immer und immer wieder meine Pflanzen.
Ungelenk erhebe ich mich aus dem Beet und wische mir die Hände an der Hose ab. »Hallo«, sage ich. Dann weiß ich nicht weiter. Alles, was es zu sagen gibt, haben wir längst gesagt. Nichts davon hat etwas geändert. Wie sollte es auch.
»Hej«, entgegnet Paul, obwohl er sonst noch immer kein Wort Schwedisch spricht. Vielleicht klingt es deshalb so seltsam aus seinem Mund. Dann geht er an mir vorbei, ohne mich noch einmal anzusehen. Er durchquert den Garten und August weicht ihm dabei keinen Moment lang von der Seite. Ich war diejenige, die sich immer einen Hund gewünscht hat. Ich bin Paul so lange damit in den Ohren gelegen, bis er schließlich nachgab. Doch wir fanden nie richtig zueinander, August und ich. Bei Paul schien er sich von Anfang an einfach wohler zu fühlen. Bei Paul, der sich mit ihm im Gras balgt. Bei Paul, der unermüdlich Bälle und Stöckchen wirft. Bei Paul, der ihn heimlich unter dem Tisch füttert und glaubt, ich würde es nicht bemerken.
Ich schaue den beiden nach, bis sie durch die offenstehende Tür im Inneren des Hauses verschwunden sind. Ich warte. Bis Paul wieder auftaucht, vergehen nur ein paar Minuten. Er trägt jetzt ein frisches Hemd. Kariertes Flanell. Er trägt diese Hemden erst, seit wir hier sind. Als wären sie ein unabdingbarer Teil einer ganz bestimmten Vorstellung, die er von sich und seinem Leben in der Wildnis hat. Den Riemen über seiner Schulter bemerke ich erst, als er vor mir steht. Mein Blick wandert von der kleinen Reisetasche zu seinem Gesicht. Wir sehen uns an. »Ich habe ein kleines Haus im Dorf gefunden«, sagt Paul. »In ein paar Tagen komme ich noch mal vorbei und hole meine restlichen Sachen. Dann sollten wir auch besprechen, was wir damit machen.« Er nickt an mir vorbei und meint damit unser Haus, unseren Garten, unseren Wald.
Einen Moment lang bleibt er noch stehen, unschlüssig, und wartet auf eine Antwort. In seinen Augen sehe ich mich selbst. Ich schweige. Dann löst er den Blick. Er gibt dem Hund ein Zeichen und August prescht an uns vorbei Richtung Tor. Als könnte er es kaum erwarten, endlich wieder von hier fortzukommen. Paul folgt ihm.
Es war ein warmer Tag im Spätherbst, an dem alles anders wurde zwischen Paul und mir. Wir saßen Seite an Seite auf dem Steg an unserem See. Unsere Beine baumelten ins Wasser, das selbst im Sommer nicht richtig warm geworden war. »Ich freue mich so darauf, unsere Kinder hier aufwachsen zu sehen.«, sagte Paul irgendwann.
Ich sah ihn von der Seite an. Sah das Lächeln, das seine Lippen umspielte. Die kleinen Fältchen um die Augenwinkel. Wir hatten so lange von all dem hier geträumt, dass wir uns nie gefragt hatten, was danach kommen würde. In meiner Vorstellung hatte es immer nur uns beide gegeben, und den Hund. Niemanden sonst.