Meine Mutter sagte, der Wolf Kaiser ist gestorben, er hat sich umgebracht. Sie klang sauer, hätte aber nie gesagt, warum. Wir hatten Wolf Kaiser in Kleiner Mann, was nun? gesehen, er hatte den Jachmann gespielt. In dieser Rolle hatte er dem Helden des Filmes geholfen, und diese Freundlichkeit war bis zu mir durchgedrungen. Wir stellten Essen und Geschirr auf den Tisch. Neue Dinge schoben sich in den Haushalt, verdrängten alte und gingen kaputt, und alte Sachen gingen auch kaputt. Meine Mutter räumte den Tisch wieder ab. Es war unklar, ob das Geld reichte. Das Portemonnaie, schon vorher geschlossen, schien sich schmerzhaft zu verkrampfen. Im harten Licht des Winters und des Frühlings sah alles klein und schäbig aus. Die Sommer ließen alles vergessen in ihren goldenen Ausschüttungen, und sie gingen vorbei.
Meine Mutter sagte, der Jürgen Frohriep ist gestorben, er hat sich totgesoffen. Ihre Stimme klang vorwurfsvoll. Ich kannte Frohriep als Ermittler im Polizeiruf. Seine Frisur war lange vor meiner Geburt mit Fortschritt und Schwung verbunden worden. Er stellte eine mit Linoleum ausgelegte Atmosphäre her, in der Sätze fielen wie: Bürger, jetzt kommen Sie aber mal zur Vernunft. Später, in dem Januar, in dem ich 36 Mal ins Kino ging, sah ich ihn in Sterne und erkannte ihn nicht. Ich war dann schon 16, urteilte streng, aß wenig und gab kaum Geld aus, nur für Kino.
Ein bisschen später sagte meine Mutter, der Arno Wyzniewski ist tot. Der sah immer ein bisschen zart aus, nicht?, und der Name ist schwer zu schreiben. Vielleicht spielte Mitleid hinein, als sie das sagte. Wyzniewski hatte neben Wolf Kaiser den Pinneberg gespielt, und Friedrich den Großen, und Gomulka in Die Abenteuer des Werner Holt. Ich spürte Feinheit und Entschlossenheit, wenn ich ihn sah. Es war schade um ihn, er war keine 60 geworden. Alles schien ein kurzes Ende zu nehmen, knapp zu sein, vor der Zeit zu verblühen. Der Ersatz, mit dem die Welt aufgefüllt wurde, war manchmal unseriös, wie Manfred Krug mit seinen blöden West-Rollen und wertlosen Aktien, oder die Seifenopern, die etwas Fremdes und Unverständliches verhandelten. Wir hätten Nerven und erhabene Maßstäbe gebraucht, um zu prüfen, wie gut das Neue war, und was die alten großen Rollen getaugt hatten, die vertraut gewesen waren. Sie fielen unversehens in ein Früher und blieben dort zurück wie in einem Gehege. Die Welt war erst in streng abgegrenzte Gebiete geteilt gewesen, und als das vorbei war, teilte sich die Zeit in ein Vorher und ein Nachher, die sich kaum berührten und einander verwundert anstarrten. Die Dinge teilten sich mit ihnen. Mein Vater sagte, das ist alles Mist, du musst dir das nicht angucken, es wird wiederholt. Wir hörten ihm nicht zu und sprachen über Schauspieler.
Der Rolf Ludwig ist gestorben, sagte meine Mutter, und sie schien verletzt, mich hat es auf jeden Fall verletzt. Ich hatte ein paar Hörspielplatten mit ihm als Sprecher, die ich wieder und wieder hörte, wenn ich krank war. Dabei lag ich auf dem Sofa und wickelte die Gardine vom Fenster über mir um meine Finger. Rolf Ludwigs Stimme war zärtlich gewesen, und diese Zärtlichkeit hatte mich erreicht. Er war in meinem Stadtviertel groß geworden, aber in einer fremden Straße. Wir hatten ihn besonders als Arzt in Paul und Paula wegen seiner Fürsorglichkeit gemocht. Sein Name war wie der eines Onkels. Ich hatte nicht gewusst, dass er gesoffen hatte. Es tat mir leid, und ich bewunderte ihn, weil er trotzdem so gut gewesen war. Die Katrin Sass trinkt auch, und der Jaecki Schwarz macht nur noch blöde Polizeirufe, und die anderen kriegen keine Rollen mehr, sagte meine Mutter. Es war, als ob sie von den Leuten in ihrer Schulklasse spräche. Sie war Mitte fünfzig. Es war das Jahr, in dem ihr Körper die ersten Symptome zeigte, und ich traute mich nicht, hinzusehen.