Warum er letztlich im Fluss landete, wusste niemand. Außer vielleicht der Fluss selbst, aber der gluckerte oder brauste einfach weiter über Steine, Tiefen und Untiefen, als ob nichts gewesen wäre.
Für die einen war klar, dass es ein Unfall war. Abgerutscht war er, am vom Regen aufgeweichten Pfad über der Felswand abgeglitten. Er war ja doch ein Städter geblieben. Ein Zuagraster, sonderlich überraschend oder ganz ungewöhnlich wäre so ein Unfall also nicht. Manche sprachen von Selbstmord. Er habe sich eben nicht mehr herausgesehen, der junge Kaplan. So wie er dann da lag, mit verrenkten Gliedmaßen ans Ufer gespült, bekam man sogar ein bisschen Mitleid mit ihm.
Am Anfang, als er gekommen war nach Auerhof, waren ihm die Herzen noch zugeflogen. Besonders das von der Katharina. Hat auch flott ausgesehen, der Kaplan. Groß und schlank, volles Haar, voller Energie und Ideen, frisch vom Seminar und noch gestärkt von der schönen Weihe im Dom. Ein paar Auerhofer waren sogar dabei gewesen, als sich der zukünftige Kaplan vor dem Bischof hingelegt hat im Dom gemeinsam mit drei anderen Kame‑ ‑raden Selbstmord. Er habe sich eben nicht mehr herausgesehen, der junge Kaplan. So wie er dann da lag, mit verrenkten Gliedmaßen ans Ufer gespült, bekam man sogar ein bisschen Mitleid mit ihm.
Am Anfang, als er gekommen war nach Auerhof, waren ihm die Herzen noch zugeflogen. Besonders das von der Katharina. Hat auch flott ausgesehen, der Kaplan. Groß und schlank, volles Haar, voller Energie und Ideen, frisch vom Seminar und noch gestärkt von der schönen Weihe im Dom. Ein paar Auerhofer waren sogar dabei gewesen, als sich der zukünftige Kaplan vor dem Bischof hingelegt hat im Dom, gemeinsam mit drei anderen Kameraden aus seinem Jahrgang. Muss man sich ja früh anschauen, was man da neu bekommt. Und Kirche ist noch wichtig in Auerhof. Zumindest nehmen ein paar Leute sie noch sehr wichtig. Da schauen sie dann ganz genau.
Und zunächst hat der Kaplan das Spiel ja mitgespielt. Die Ministranten und die Jugend hat er geleitet, und gar nicht schlecht. Die Ministranten haben endlich einmal gewusst, was sie machen müssen in der Messe, und die Jugendgruppe ist ordentlich gewachsen. Mit den Jugendlichen hat er viel Zeit verbracht, auch außerhalb der Jugendstunden. Musizieren, Schwimmen, Radfahren, Wandern, Ausflug in die Stadt.
Wahrscheinlich hat er zu viel Zeit mit den Jugendlichen verbracht, besonders mit der Katharina. Das gehört sich nicht, so etwas. Die ist sogar einmal hinter ihm auf seinem Motorrad gesessen und hat ihre Arme um seine Hüften gelegt, als er sie heimgeführt hat, spät nachts, als die Eltern schon voller Sorge waren. So einer war er also, der Kaplan. Die Bandprobe habe länger gedauert, hat er dann gesagt. Katharinas älterer Bruder hat sich gar nicht erst bemüht, seinen Zorn zu verbergen. Mit geballten Fäusten ist er dagestanden und hat dem Kaplan voller Hass ins Gesicht geblickt.
Die Jugendband, die der Kaplan gegründet hatte, war jedenfalls ein Erfolg bei den Jugendlichen. Der Kaplan war selbst Sänger und Gitarrist. Kein Wunder, dass sich die Katharina in ihn verschaut hat. Einmal im Monat hat die Band bei den Gottesdiensten gespielt. Furchtbar. Viel mehr junge Leute als sonst, das schon. Aber trotzdem: Furchtbar. Da hat die Gemeinde ja nicht mitsingen können, bei dieser Rockmusik. Schon gar nicht bei den Liedern auf Englisch. Nicht, dass die Gemeinde an den anderen Sonntagen bei den deutschen Liedern besonders mitsingen würde. Aber verstehen tun sie die deutschen Lieder zumindest. Wer braucht es, dieses Englische? Das haben sie ihm dann auch gesagt, die Auerhofer. Also dem Herrn Pfarrer. Aufgeregt haben sie sich, aber ordentlich. Weil es einfach nicht passte, zwischen ihnen und dem Kaplan. Und der Herr Pfarrer hat auf sie gehört. War ja ohnehin ihrer Meinung. Seit fast zwanzig Jahren ist der jetzt schon in der Gemeinde, der weiß, was läuft. Und dann geben sie ihm so einen eigenartigen Jungspund an die Seite. Der von Innovation spricht und davon, dass man das Evangelium ganz anders verkünden müsse. Als Wechselspiel zwischen alt und neu. Zwischen Kern und Schale. Da hat er nicht lang zugeschaut, der Herr Pfarrer, sondern flott Bericht erstattet beim Herrn Bischof. Der Kaplan ist dann vom Bischofssekretär angerufen und gerügt worden. Aber das hat ja auch nichts geändert. Einfach gleich weitergemacht hat er. Ein richtiger Sturschädel war das.
Den Flüchtlingen im Dorf hat er sich auch noch angenommen, das sei Christenpflicht, hat er gemeint. Fußball gespielt hat er mit denen, und gekocht und seine scheußliche Musik mit ihnen gemacht. Was wollte er denn mit denen? Das waren ja nicht einmal Christen. Und die Jugendlichen waren natürlich auch dabei, ganz begeistert waren sie. Haben dann die Flüchtlinge in ihrem Alter zu sich nach Hause eingeladen. Die konnten dann ja auch schon ganz gut Deutsch, immerhin. Aber warum das Ganze? Taufen hat sich nur einer lassen von denen. Und ausgerechnet den haben sie dann abgeschoben. Haben ihm wohl nicht abgenommen, dass er den wahren Glauben für sich entdeckt hat.
Kurz nach der Abschiebung hat sich etwas geändert beim Kaplan. Seine Stimmung, sein Auftreten, alles. Eloquent war er immer noch, das muss man ihm lassen. Und eine Erscheinung. So jung und kräftig und groß und gutaussehend. Aber da war irgendwie ein Schatten über ihm. Fast wie im Comic, wenn die Figuren plötzlich eine Gewitterwolke über dem Kopf verpasst bekommen. Die Wolke hat ihn seither nicht mehr verlassen, den Kaplan. Und als dann auch noch ein paar aus der Kerngemeinde die xenophoben Schmierereien auf der Wand des Flüchtlingsquartiers verharmlost haben, da ist ihm fast der Kragen geplatzt. Da hat er der Gemeinde eine Standpauke gehalten in der Messe. Nicht vom Ton her, im Gegenteil, er hat sogar sehr leise gesprochen. So leise, dass der Mesner aufgestanden ist und draußen in der Sakristei das Mikro lauter geschaltet hat vom Kaplan. Macht er normal nie, der Mesner. Aber diesmal wollte er, dass alle den Kaplan hören können. Im Ton lag sie also nicht, die Standpauke, aber in den Worten. Er verstehe nicht, warum so etwas geschehen kann. Hier, bei uns, wo alle alles haben. Idylle mit Bergen, Seen, Wäldern, Schlössern und Heurigen. Warum kann man da nicht ein bisschen offen sein für das Andere? Das Neue. Unbekannte. Einfach ein bisschen Interesse zeigen und aus dem eigenen Trott herauskommen. Matthäus 12:34 hat er zitiert, obwohl das gar nicht dran war an diesem Tag. Weh euch, ihr Schlangenbrut. Das hat sich die Kerngemeinde natürlich nicht gefallen lassen, und der Kaplan hat wieder eine Rüge vom Bischofssekretär bekommen. Diesmal musste er sogar persönlich vortanzen in der Stadt. Jetzt war das erste Mal die Rede davon, dass er vielleicht versetzt werde. Das wäre wohl auch das Beste gewesen.
Aber da das nicht geschah, setzte er sich selbst wo hin, nämlich an den Fluss, gemeinsam mit Katharina. Die beiden hatten tatsächlich eine tiefe Beziehung, allerdings ganz anders als im Dorf angenommen. Sie hatten einfach das Gefühl, einander alles mitteilen zu können. Katharina erzählte dem Kaplan von ihrem Traum, Schauspielerin zu werden. Immer, wenn Theater Thema war, sprudelte es nur so heraus aus ihr, genau wie der Fluss unter ihnen über die Steine sprudelte. Besonders an der Stelle, an der sie gerne saßen, auf einer kleinen Böschung, gut verwachsen und von außen nicht einsehbar und kaum jemandem bekannt. Katharinas Eltern hielten nichts von ihrem Traum; Katharina solle lieber etwas Ordentliches machen. Aber Katharina war gut, und wenn ihre Eltern das Schulstück, in dem sie mitgespielt hatte, gesehen hätten, hätten sie vielleicht anders über die Sache gedacht. Der Kaplan hatte es gesehen und war von ihrem Talent beeindruckt. Fluss des Vergessens hieß das Stück und drehte sich um einen jungen Mann im antiken Griechenland, der unsterblich in eine schöne adelige Frau verliebt war. Er stirbt dann aber doch und landet in der Unterwelt, ohne seiner Geliebten nahe gekommen zu sein. Als er aufgefordert wird, aus dem Fluss Lethe zu trinken – dem Fluss des Vergessens – weigert er sich. Er will seine Angebetete niemals vergessen. Jedenfalls hatte der Kaplan Katharinas Vertrauen gewonnen und sie weinte sich aus bei ihm. Und weil auch er Katharina vertraute und sich von ihr verstanden fühlte, erzählte er ihr, dass er homosexuell war. So war das zwischen den beiden.
Der Kaplan kannte auch einen Theaterschauspieler aus der Stadt, mit dem er einmal in Liebe verbunden gewesen war. Lange bevor er zum Priester geweiht wurde, den Zölibat nahm der Kaplan nämlich sehr ernst. Den Schauspieler lud der Kaplan ein, Katharina einmal live auf der Bühne zu erleben. Katharinas Spiel gefiel dem Schauspieler und die drei sprachen noch lange nach dem Stück über mögliche Optionen und Wege für Katharina. Das war die Nacht, in der sie spät nachts auf dem Motorrad des Kaplans saß, mit ihren Armen um seine Hüften.
Dass er zu viel Zeit verbrachte mit Katharina, war ihm klar, aber er spürte nun einmal, dass er ihr guttat und dass sie nicht viele hatte, denen sie ihr Herz ausschütten konnte. Und er hatte auch kaum jemanden, schon gar nicht in Auerhof. Sie brachten einander zum Lachen, und das war wichtig. Ein gutes Geben und Nehmen war das. Hat einfach gepasst für die beiden.
Die viele Zeit mit Katharina ließ ihn jedoch unvorsichtig werden und einmal kam es zum Eklat. Katharinas Bruder und seine Freunde waren ihnen gefolgt, als sie sich wieder einmal am Fluss trafen. Katharina wurde unsanft nach Hause geschickt und dem Kaplan wollten sie eine tüchtige Abreibung verpassen. Der wusste sich allerdings zu wehren und so hatte nicht nur er am nächsten Tag ein geschwollenes Gesicht.
Vielleicht hatte ja auch Katharinas Bruder etwas zu tun damit, dass der Kaplan im Fluss landete. Wir werden es wohl nie erfahren. Die Wahrheit ist im Fluss. Und Lethe vergisst schnell.