Da seht, dort sind die Kinder
Ohne Freude, mehr oder minder.
Seht ihr sie auf schwarzen Wolken sitzen,
Es regnen und es blitzen?
Warten auf den blauen Mond,
Der vor Unheil sie verschont.
Madame Rouge trägt gerne Rot. Sowie Mama gerne Blau. Nur ist Madame Rouge nicht meine Mama und sie mag eben rot und nicht blau. Und obwohl sie doch beide ganz unterschiedliche Menschen sind, sind sie sich doch ein wenig sehr ähnlich. So wie Biene und Hummel oder Falter und Schmetterling.
Einfach so unterschiedlich aber doch gleich. Und irgendwie, da mag ich Madame Rouge sehr, auch wenn sie manchmal gerne provoziert. So mit Essen und so. Weil Madame Rouge ist nicht meine Mama, und auch nicht meine Freundin, sondern meine Schwester. Also für mich als Kranke. Eine Krankenschwester eben.
Und jetzt, wo ich zwischen allen möglichen Krankenhäuser hin und her spaziere, da glaube ich, habe ich endlich eines gefunden, das mir zusagt. Und das Krankenhaus sieht gar nicht mal so aus wie ein Krankenhaus, eher so wie eine Herberge mit vielen erwachsenen Kindern drin, die nicht mehr wissen, wie man schaukelt und tobt und Spaß hat. Und dann sind da noch die Krankenschwestern, ganz ganz viele, und die sitzen manchmal im Stationszimmer rum und reden ganz lange über ihre Pflegekinder. Über die verlorenen Kinder, die einfach nicht essen wollen. Und jetzt bin ich wohl auch so ein Kind, auf das man gut aufpassen muss, weil es sich ansonsten irgendwo im Irrgarten des Lebens verrennt. Und irgendwie, da fühle ich mich wohl, wenn ich weiß, dass da Jemand ist, der auf mich aufpasst, dass da Jemand ist, der mich auffängt, wenn ich mal wieder irgendeinen Abgrund hinunterstürze. Weil ich glaube, es ist besser, wenn dort unten ein lieber Mensch auf einen wartet, so mit offenen Armen, als ein Seil mit einer offenen Schlinge. Denn bevor ich falle, wurde schon ein Netz gespannt.
Ich teile mich mit, manchmal. Weil Madame Rouge gesagt hat, das sei wichtig. Sehr wichtig sogar. Sonst weiß doch niemand, wie es mir doch wirklich geht. Und wie es um mich steht.
Dabei weiß ich doch, dass man reden muss in einer Therapie, dass Wunden nicht nur mit Verbänden und Fäden heilen, sondern auch mit Worten. Weil die Worte legen sich dann sanft um den Schmerz, der da grad‘ ist, und reden ihm gut zu, mit all den Buchstaben die es so gibt. Und wer versteht mehr von Buchstaben, als Worte? Wer kann seinen Aussagen mehr Ausdruck verleihen, als sie es tun? Es ist das Zusammenspiel von Buchstabe und Buchstabe und Sinn und Nachdruck, dass den Sätzen Bedeutung schenkt.
Und manche Menschen haben diese Gabe, ihren Worten so viel Wucht mitzugeben, dass sie niemals ihren Laut verlieren. Und einer dieser Menschen ist Madame Rouge. Weil oft, da sitze ich nur so da und weiß nichts mehr zu entgegnen, wenn sie ihre weisen Worte von sich gibt. Und immer, wenn sie das so macht, da bin ich so beeindruckt, und wünschte ich könnt’s auch, mit meinen Worten zaubern und laut schreien, ganz einfach – unvergessen sein. Vielleicht kann ich das ja irgendwann auch, irgendwann, wenn ich mal so richtig erwachsen bin. Wenn ich kein Blümchen mehr, sondern eine richtige Blume bin. Weil dann blume ich einfach so vor mich hin neben all meinen Blumenkollegen die dort so sind und darauf warten, dass die Sonne scheint.