KOLUMNE #1: Unser russischer Winter

In Schnellzügen und auf Last-Minute-Inlandsflügen ziehen sich unsere Spuren durch das ganze Land. Wir sind 24/7 abrufbar und durchstreifen auf unseren Pfaden Tag und Nacht grell erleuchtete Städte. Wir beziehen mit einem Klick Waren von der ganzen Welt und Milliarden Bruttoregistertonnen an genormten Überseecontainern börsennotierter Reedereien tun ihr Bestes, diesen permanenten Strom des Konsums nicht versiegen zu lassen. Wir Menschen schlafen nicht mehr, wir schaffen das Wochenende ab, die Privatsphäre, die Mäßigung. Unser Motto ist höher, weiter, schneller. Wir verschieben die Grenzen, machen das Unmögliche möglich. Weltweite sekundenschnelle Kommunikation etwa. Oder argentinisches Angus-Entrecôte auf meinem Teller beim 300 Dollar Geschäftsessen im Steakhouse über den Lichtern der Hamburger Hafencity.

Oder die globale Pandemie eines neuartigen tödlichen Erregers. In den Zeiten von kostenfreiem Streaming und öffentlichem Hot-Spot-W-Lan in Stadt und Staat denken wir beim Begriff »viral« lediglich an wöchentliche Deutschrap-Releases und Influencer Marketing auf Fake-Insterlife-Storys, denn die Assoziation mit »infektiösen organischen Strukturen« [Zitat: wikipedia] kommt dank Apo-Discount, Intervallfasten-Kur-Apps und den verlässlich sinkenden Anforderungen der Prüfungen zur Erlangung der Hochschulreife selbst bei Biologen kaum mehr auf.

Doch die Bedrohung ist allgegenwärtig. Konkret. Unmittelbar. Und in Ihrer Wirkung umfassend zerstörend! Wir Menschen haben Gott abgeschafft, vertrauen ganz auf die Packung Tempo und das Fläschchen Desinfektionsmittel; Schnabelmaske, Essigschwamm und Ablassgebet aus Zeiten von Yersinia pestis haben wir als vorsintflutlich ins Museum verbannt, heute räuchern wir Häuser nicht mehr mit Weihrauch aus, sondern vernebeln tanklastzugweise Isopropylalkohol zwischen den Straßenschluchten hermetisch abgeriegelter Quarantäne-Stadtviertel. Doch weder verzweifelte rigorose Seuchenschutzmaßnahmen staatlicher Kontrollbehörden noch die überdramatisierten realitätsfernen Geschriebsel-Exzesse privater Boulevardmedien vermochten handfeste Wirkungen zu erzielen und COVID-19 an seinem globalen Siegeszug – raus aus den verarmten Millionenvorstädten Hunde-verzehrender und Tigerknochenpulver-schnupfender Chinesen, rein in die beschaulichsten mitteleuropäischen Dörfer schmerbäuchiger Weißbiertrinker – zu hindern.

Die Schuld tragen wir alle. Alle die in ihrem Made-in-Taiwan handgenähten Adidas-Track-Suit gemütlich ein Bier am Mainufer sippen, alle die viermal am Tag Ihre Hände mit Virostatika einreiben und bei einem Grad Temperatur und dicker Nase das Penicillin gleich packungsweise aus der Apotheke tragen. Die Folgen spüren wir alle. Alle Schüler deren Abschlussprüfungen auf der Kippe stehen, alle betagten Mitbürger, deren schwache und lediglich durch Kamillentee gestärkte Immunabwehr im Angesicht resistenter Krankheitserreger mit gezogenen Fahnen kapituliert. Jeder der Aktien besitzt, sieht diese Tage seine Dividende die fallenden Kursgraphen herunterrutschen und jeder, der auch nur halbwegs vorausschauend seine Tage plant, kann erstmal einen dicken roten Strich über die Kalenderblätter der nächsten Wochen machen.

Und was wird als Bilanz stehen bleiben? Das ist noch nicht abzusehen, niemand mag die Kosten in Dollar oder BIP-% kalkulieren, keiner die Zahl zusätzlich verkaufter Grabsteine abschätzen und niemand die Gewinne der Mundschutz- und Latex-Handschuh-Fabrikanten angeben. Fakt ist jedoch schon heute, dass weder Robert Koch noch Max Planck und Fraunhofer, kein Uniklinikum, keine noch so gut vorbereitete föderal-organisierte Landesbehörde und kein Mundschutz die bisherigen Ausmaße verhindern konnte. Milliarden an staatlichen und industriellen Forschungsgeldern erzielen zwar Tag für Tag Fortschritte bei der Steigerung der Lebenserwartung HIV-infizierter Personen, doch zerfallen zu Staub in Konfrontation mit dem Dämon, den der Mensch sich selbst herangezüchtet hat, der Kernwaffen und Teerlungen ob seiner Unfassbarkeit und Unberechenbarkeit tief in seinen dunklen Schatten stellt. Dieser Dämon sind eben multiresistente Krankheitserreger, sich in Schnellzügen, ISO-Containern und Lufthansa-Maschinen rasant über den Erdball verbreitende Viren, Bakterien und Pilzsporen. Heute sehen wir uns einem Virus gegenüber, welches nur für ältere Mitmenschen und vorerkrankte Risikogruppen eine wirkliche Bedrohung darstellt. Doch Übermorgen schon kann »Walking Dead« in den Mediatheken von Prime und Netflix unter »Dokumentarfilme« eingeordnet sein, nachdem Morgen ein noch letaleres und unkontrollierbareres Virus seinen evolutionären Plan angetreten hat.

Eins ist sicher: Die Menschen sind auf gar nichts vorbereitet und jeder Schreiberling, der irgendetwas anderes faselt, hängt den gleichen verträumten Illusionen nach, mit denen 1932 einem gewissen Adolf Hitler von der Crème de la Crème der Berliner Journalisten sämtliche Chancen auf einen Platz in Hindenburgs Parlament abgesprochen wurden. Menschen machen die gleichen Fehler wieder und immer wieder, wir lernen nichts und verhalten uns noch dümmer als die Kinder, die nach dem fünften Mal Bauchschmerzen wenigstens endlich die Finger von den Süßigkeiten lassen. Wir Menschen überleben den zweiten Weltkrieg, um die Welt wenige Jahre später in Kuba an den Rand des Untergangs zu bringen; wir schwören nach dem letzten Kater, nie wieder zu trinken, um am Ende selbst ein Fall in der Sterbestatistik der Alkoholtoten zu werden; wir verseuchen Seen, brandschatzen Wälder und betonieren Wiesen, während wir mit verkaufsoffenen Sonntagen das BIP immer weiter ans Limit dopen. Gegen Corona mögen Lehman Brothers und eventuell sogar 1929 eine leichte Ohrfeige gewesen sein, und doch vertrauen wir weiter auf die globalisierte Wirtschaft, die die Aspirin-Produktion nach Indien auslagert und uns statt mit Medikamenten nur sicher mit kontaminiertem Plastikspielzeug versorgt.

Und nicht zuletzt vermehren wir Menschen uns wie Rehwild in einem Wald ohne Wölfe, fressen unser Zuhause kahl und lehren unsere Kinder nichts wirklich Neues, nur damit sie den gleichen Fehler begehen wie schon unsere Altvorderen und wieder im Winter in Russland einmarschieren …

Anmerkung des Autors zur Kolumne:

Der Kolumnist schrieb dieses Pamphlet auf einer Geschäftsreise im Schnellzug von Würzburg nach Hamburg. Er reiste ohne Mundschutz und Desinfektionsspray und reichte dem Schaffner das Ticket nicht mit Gummihandschuhen. Der Mitbewohner von einem Kommilitonen seines Mitbewohners ist mit COVID-19 infiziert. Möglicherweise hat er so zu einer Verbreitung des Virus beigetragen und zum Zeitpunkt des Erscheinens der Kolumne bereits mehrere Menschen auf dem Gewissen. Er empfiehlt jedoch – ob seines medizinischen Grund- und Allgemeinwissens – den Empfehlungen der KLW-Redaktion zu folgen und reichlich Frostschutz zur Abwendung jeglicher Infektionsgefahren zu trinken.

Bleibt für den Augenblick gesund, so gut es geht,

herzlich,

K. Ziegler