Mutter, die Erde friert

Ach Mutter, recht hast du gehabt. Mit dem Johan und dem Schalkers Bursch bin ich losgezogen, und du hast mir doch noch gesagt, ich solle es lassen. Vater lieber zu Felde helfen. Pferdekarren spannen und den Acker bestellen, aber nein. Ich glaubte es besser zu wissen.

Weißt du noch, wie die Erde immer hart war um die Weihnachtszeit herum? Wie der Frost in sie kroch und sie ward wie Stein? Dann, wenn ein jeder Maulwurfshügel auch hätt‘ sein können aus Fels, ja, das war immer ganz furchtbar gewesen, finde ich.

In Russland ist es jetzt so, Mama, das spüre ich, im Rücken, in den Beinen. Es ist kalt und so einsam. Ach, was tät ich nicht, dass du mich noch einmal nämest zu Schoße, bei unserem schönen Kamin und einem Feuer – ei, ein Feuer! Mit dem Buchenholz das Vater und ich stets schlugen! Wie fein das wäre!

Doch Feuer gibt es wohl für mich keines mehr. Johan ist bei mir, glaube ich, aber er, so fürchte ich, kann keines mehr machen jetzt. Es sieht grausig aus, ich möcht’s dir gar nicht beschreiben.

Mama, der Krieg ist so fürchterlich, so schrecklich. Ich hatte doch geträumt von Heldenmut und von Abenteuer, von Kameradschaft und Rittertum. Aber es wird mir jetzt doch so fürchterlich klar, dass der Heldentod- Mama, der Heldentod ist doch auch nur das Ende des Lebens. Er tut gleichermaßen weh, die Kugel in meinem Magen schont mich nicht, weil ich eines Ehrenmannes Ende finde, ganz und gar nicht.

Ich wünschte mir noch einmal deinen Eintopf kosten zu können, den mit Steckrüben und den Kartoffeln und mit Sellerie, die du doch manchmal auf dem Markt hast, gekauft. Aber, was red‘ ich denn? Der würd mir doch gleich wieder aus dem Loch im Bauch hinauslaufen! Das wär doch schad‘ drum, um den Eintopf mein‘ ich, wenn der uns auf den Boden liefe. Fast lachen muss ich, wenn ich daran denke, wie böse du immer warst, wenn ich dir den Schlamm aus dem Wald ins Wohnzimmer trug, als meine Heldengeschichten noch mit Stöcken und den Nachbarskindern ausgefochten wurden! Ha, was herrliche Zeiten, als eine Niederlage eine bloße Blessur versprach!

Nun lieg ich hier, ich glaube einige Kilometer von Nowgorod. Sicher weiß ich das doch nicht, ich war ja nie so gut in Geographie. Aber das weißt du wohl am besten, hast du mich doch getadelt, wenn der Herr Lehrer mein Heft mir beschmierte, mit den abscheulichen Noten!

Ich würde geben, was ich habe, um noch einmal deine Stimme zu hören, sei es wie sie mich zurechtweist oder tröstet. Der Boden ist so kalt unter mir, dass ich nicht glaube jemals wieder warm zu werden.

Ich möchte ehrlich mit dir sein, Frau Mama, ich wollte immer stark sein für dich, dein kleiner Held, dein Ritter. Aber jetzt, wo ich mein Leben schwinden spüre, da habe ich Angst. Schlimme, schlimme Angst. Und ich habe geweint, und ich weiß, dass du das hast spüren müssen, irgendwo ganz tief in deinem Herzen, dass dein kleiner Abenteurer vor Schmerz und Angst die Tränen nicht mehr halten konnte, all diese Kilometer von der Heimat entfernt.

Mein Deutschlehrer, der Herr Bardenecker, der hat uns manchmal vom Gevatter Tod erzählt, da muss ich jetzt daran denken. An die Unterrichtsstunden, die ich so habe gehasst, doch nun – nun könnt ich mir bald nichts schöneres mehr vorstellen.

Der Gevatter Tod, aber natürlich! Wie konnt‘ ich es bloß nie sehen? Wenn der Vater mich kommt holen, nun bald, dann ist er es der mich aus dem Leben muss nehmen. Denn es warst ja du, Mutter, die mich in dasselbige hat gebracht. Es kann nicht Gevatter sein der mich gebiert, nicht wenn er es auch ist der mich kommt holen, genauso kann’s nicht sein die Mutter die der Moiren Fäden schneidet, spinnst du diese doch zusammen mit ihnen.

Oder nein, was red‘ ich denn? Sind Gevatter und Vater noch gleich das- selbe? Ich weiß’s nicht mehr.

Oh je, Mama, das hätt‘ doch keiner von uns beiden gedacht, dass ich im Griechischunterricht wohl aufgepasst habe. Dass ich an die Moiren denke als mir das Eis in die Knochen fährt, das ist ja doch kaum zu glauben!

Es fängt an zu schneien jetzt, sehe ich. Weißt du noch, wie wir Kinder

waren, meine Geschwisterchen und ich, wie wir Winter um Winter auf dem

fürchterlich harten Boden ach so schöne Schneemänner haben gebaut? Wie

Rickert sie manchmal hat umgestoßen, der Tollpatsch, aber du sie hast wiederaufgerichtet, wenn ich dann geweint habe? Herrliche Zeiten waren das, wie der Schnee noch mein Freund war, obwohl er in meiner Nähe schmolz und das Weite suchte. Wie seltsam, denke ich mir, nun ist er mein Feind, doch gerade jetzt, das merke ich – er schmilzt mir nicht mehr auf der Haut, er bleibt liegen. Er sucht die Nähe, die er mir Jahrelang hat, verwehrt. Ach, Mutter, ich werde dich missen- meine Welt wird nun dunkel, langsam, und ich denke an dich.