Bis kurz nach halb fünf ist alles wie immer gewesen.
Zwanzig vor vier hat der junge F. das Haus verlassen, er steht jetzt, am 27. April 1988, um 15:41 Uhr vor der Doppelgarage, er zögert, er streichelt das geriffelte Metall, er lauscht hinauf. Er steht, als ob er Abschied nehmen müsste. Perlendes Klavierspiel aus dem ersten Stock. Leise, aber dicht an dicht herunterperlend, feinperlig wie Graupelschauer.

Er steht immer noch, als wolle er gar nicht gehen, zögerlich, lauschend, suchend, mit fast begriffsstutzigem, leicht schräg gelegtem Schädel. Als wüsste er nicht. So abwesend und gedankenverloren steht er da, als würde er jeden Moment wieder umdrehen, und zurück ins Haus. Vielleicht denkt er auch, das Garagentor streichelnd, an die baldige Vollendung seines fünfzehnten Lebensjahres, an motorisierte Leichtkrafträder, die große Freiheit. Hinaus in den Sommer und allem davon. Knatternde Blechmusik! Zweitakter!

Jetzt aber nur perlendes Klavierspiel mütterlichen Ursprungs. Vielleicht denkt F. auch garnichts, blickt aber auf seine Armbanduhr. Es ist immer noch neunzehn Minuten vor vier.

Unter seiner Achsel trägt der junge F. eine Mappe aus Rindsleder, mittelbraun und grob genarbt, untenherum ockerfarbene, fast zu kurze Cordhosen, dazu weniger elegante, praktische und bequeme Velourschuhe mit abgesenktem Fersenbereich. Insgesamt deuten die Wohnsituation und seine weiche Gesamterscheinung auf ein gutes und bildungsnahes Elternhaus hin. Er entfernt sich jetzt aus der Einfahrt, immer noch zögerlich, und folgt einen leicht abschüssigen Fußweg zwischen großzügigen, naturnah angelegten Gärten. Frühlingshaftes Vogelgezwitscher. Keine Menschen.

Um 15:49 hat F. die Talsohle erreicht, der Weg zieht sich flach dahin und die an den Hang geschmiegten Einfamilienhäuser sind verschwunden; sind großen Häuserblocks gewichen, siebenstöckigen Schlachtkreuzern des sozialen Wohnungsbaus, allerdings mit irgendwie bunt gemeinter Außengestaltung. Aus deren Schatten lösen sich kleine Gruppen. Jugendliche in gemischtgeschlechtlicher Zusammensetzung, mit ganz anderen Schuhen, unter grellen und entschlossen ausrasierten Haaren. Teilweise ausgiebiges Sackkratzen, sofern Kratzbares vorhanden.

Was er hier wolle? Genauer: Ob er etwas wolle?

F. schweigt, das Rindsleder vor die Brust gedrückt. Die Gemischtgeschlechtlichen sehen die braune Mappe, abschätzend betrachten sie seine lächerlichen, dürren Unterarme, auch die Finger.

Los komm ma’ her da, Lutscher! Kannst’e ma’ da durch’n Fensterschlitz fummeln? In ’ne Karre rein. Weg’n Zündschlüssel. Scheißzündschlüssel, der wo noch mitten auf’n Sitz liegt. Scheißsitz.

F. fummelt in die Karre hinein, die Storchenarme bis zum Bizeps zwischen Scheibe und Rahmen verklemmt, Gelächter.

Voll Scheiße, dem sein Schlitzfummeln. Echt.

F. stark gerötet, vergeblich weiterfummelnd, immer noch eine Fingerbreit vom Schlüssel entfernt. Dann anschwellendes Gebrüll, Kreischen. Gelächter. Die Beifahrertür! Ja Scheiße aber! Ist doch gar nicht abgeschlossen gewesen, alles paletti also.

Frohes, jetzt doch ziemlich allgemeines Genitalbereichskneten. Und der Lutscher solle jetzt mal machen, dass er weiterkäme. Die arme Sau. Sie ziehen sich ins Halbdunkel der Eingänge zurück, grinsend: Dass ihr Herumlungern, ihre kleinen Gewalttätigkeiten, ihr grobes Abfingern nichts wäre gegen das, was ihm bevorstünde.

F. setzt seinen Weg fort. Er muss nun die Traghand wechseln. Weitertraben. Wirft ab und zu den Kopf nach rechts oder links, wie ein Schindersgaul. Ludwig den XVI. hinter sich auf dem Karren, das Fallbeil in Sicht. Der letzte Gang. Schwerer Schritt, lahmer Schritt.

Dann vor sich die Silhouetten der Wohntürme, graukantige Klötze, zufällig ins Grün gerammt. 23 Stockwerke. 92 Wohneinheiten. Um 15:59 steht F. vor dem blitzenden Tastenfeld der 92 Klingelschildchen. 6. Stock, 2. Wohneinheit rechts. F. gibt vor, das Klingelschild suchen zu müssen. Seit letztem Sommer aber kennt er diesen Namen, drückt er diesen Klingelknopf. Jeden Mittwoch steht er hier, genau um vier, vor diesem Namen: Tuttelbarth. E.+H. Tuttelbarth. Der Mann mit dem Atem. Die Frau mit dem Stöckchen.

Er hat es sich angewöhnt, zuerst hier unten zu klingeln. Damit sie Zeit haben, damit sie …

Was eigentlich? Damit sie dort oben …? Hinein. Im Aufzug die Bedientasten glänzend vor Körperfett. An den Türkanten ist der graubraune Innenlack bis aufs blanke Metall abgescheuert. Der Fahrstuhl ächzt in den Seilen. F. klemmt sich die Mappe zwischen die Knie, steht x-beinig im Aufzug, um die Handflächen an den Schenkeln trocken zu reiben. Dann der 6. Stock. Die Fußmatte ohne Willkommen, ohne Tiermotive, hinter der Wohnungstüre verdunkelt sich die Beobachtungslinse. Aufknarzen. In der Türe steht Tuttelbarth. Der Tuttelbarth. Mit schwerem, asthmatischem Atmen. Aus dem Hintergrund aber auch: Klavier. Und ihr Rufen: Ob es das Jingla wäre? Dann herein, nur herein! Der Tuttelbarth gibt die Türe frei, mit nachgiebig zittriger Geste. Nu, ruft er ins Innere, und: Je nu, er wäre da! F. setzt den Fuß über die Schwelle, kein Zurück jetzt mehr, immer noch im schleppenden Armesünder-Schritt. Er wittert: Kaffee, Fleischbrät, die Körperpflegeprodukte alter Menschen. Als Hintergrund: Kartoffelschnaps.

Vor den Tasten die Tuttelbarth selbst.

Nu, da biste ja, schönschön!

Sie hat sich ein wenig vom Piano zurückgestoßen, den Stock auf den Schenkeln.

Und heute? Was haste vorbereitet? Sie sagt heite, und voorberaität, irgendein singender ostischer melodischer Dialekt, fast undeutsch. Oder Kaumdeutsch. Hat sie ihm irgendwann einmal zu verstehen gegeben, was da gewesen wäre, früher, aber das Meiste hat er wieder vergessen, oder nie verstanden. Aus dem Osten geflohen, aus Schlesien oder Wolhynien oder Kasachstan, deportiert unter Stalin oder vertrieben, wegen dem Hitler. Wägen dem Krieje. Oder: Ostpreißen? Geflohen jedenfalls nur mit dem blanken Hemd auf dem Leibe. Läjbe.

Inzwischen ist Frau Tuttelbarths Leib schöner und vielschichtiger bedeckt, bunt und nachgiebig, die Strickjacke aber windschief verknöpft und die Haare immer noch wirr wie gerade erst frisch geflohen, auch die Brüste getürmt, hoch hinauf, höher als die höchste Tatra.

Was also? Was heite?

Heute und jetzt: Einsatz der mittelbraunen Rindsledertasche. Aufklappen, Herausfingern.

Chopin, sagt F., Chopin. Muzarka. Die da. Muzarka in d-moll.

Lieberherrjessus, singsangt die Tuttelbarth, Mazurka! Lieberherrjessus! Heißt sich: Mazurka! und rückt ihr Stöckchen gerade. Es ist bleistiftdünn, gut armlang, ein elastischer halber Meter. Könnte ihr Vater schon benutzt haben, vom Pferde aus, die Knechte dirigieren, oder ein Hauptmann der Schutztruppe. In Deutsch- Ostafrika.

F. wagt die ersten Töne, zögernd hinein ins Reich der Musik. Es ist dreizehn nach vier. Noch siebenundvierzig Minuten. Zweiundzwanzig Sekunden später die erste Fingerkollision, Abbruch, abrupte Stille; aus der Wohnküche das gleichmäßig asthmatische Keuchen des Tuttelbarths selbst. Ein metronomisches Schnaufen.

Noch einmal! Anfange beim achten Takt, dem achten!

Erneutes konzentriertes Hineinklimpern. Dann kommt der Stock. Wie eine Lanze von der linken Seite, fährt zwischen Daumen und Zeigefinger, die Tuttelbarth muss deutlicher werden:

Springän! Missen springen, die Fingär, springän wie Bällchen.

F.s Finger springen nicht. Schwer und träge, ganz verängstigt arbeiten sie sich durch die Tasten, Einsiedlerkrebse beim panischen Wechsel des Gehäuses, wie weich und schutzlos unter der stochernden Stöckchenspitze, die schubst und treibt und hebelt.

Springen!, ruft die Tuttelbarth und schwingt den Stock im Takt. Springen, springen, springen!

F. hockt. F. stockt. Nichts ist da gewesen mit Springen, nichts. Sind nicht hinaus gekommen über etwas träges, zähklebrig Dahinkriechendes, die Fingerchen.

Mazurka! Frau Tuttelbarth lässt ihre Brüste hüpfen. Was das denn heißen würde: Mazurka?

Mazurka? Es ist vier Minuten vor halb fünf. Kein Gedanke. Er zuckt die Schultern. Muzarka? Könnte irgendetwas mit Murks zu tun haben, mit Makulatur, oder mit Vergurken. Ein Nationalgericht vielleicht? Etwas Griechisch-Krustiges? Käsig-Zerlaufendes?

Tanz!, ruft die Tuttelbarth jetzt, und sie ruft es sehr laut. Ist Tanz! Müssen tanzen und springen wie die Bällchän, die Fingär!

In der Wohnküche stockt dem Tuttelbarth der halblaut geächzerte Atem, wohl vor Erschrecken, sein Rhythmus ist dahin.

Was denn wäre? keucht er herüber, Ebba, was denn wäre? und F. betrachtet seine Hände. Zwei ungehorsame, zaghafte Knochenfleischlappen, an die Klavierkante geklatscht, käsig zerlaufend.

Tanz also. Er nickt, und seine Hände beginnen noch einmal. Die tapferen kleinen ungelenken Finger. Vorwärts. Los! Ins hohe d hinaufschleudern, umgreifen. Fingersatz beachten. Gleich der Triller. Kleiner Ausrutscher, aber ordentlich durch die Läufe im vierzehnten Takt gekommen. Rechte Hand. Triolen. Über das punktierte b hinübergetanzt. Vorzeichen vergessen. Ins fis gestolpert. Den Akkord mit der Linken falsch angesprungen, zu kurz. Schlechtes Bällchen. Wieder, und wieder. Ausgetanzt, ausgesprungen. Die Luft ist raus aus den Bällchen. Die Tuttelbarth ist zurückgesunken, ihr schwerer, gebirgiger Oberkörper pendelt vor gequetschter Musikalität, vor Verwundung, vor Verzweiflung. Sie sammelt sich, und nun passiert das Unerwartete, das Ungeheuerliche.

Weg!, stößt sie nämlich hervor, Weg da, Jingla, so muss das klingän, so! Rutscht behände auf den Klavierstuhl, und dann springen ihre kurzen, wurstigen, fleischigen Stumpenfinger wie rasend, wie springende Bällchen. Sie tanzen und tanzen und springen, bis sie die zauberischsten Töne aus den Tasten herausgesprungen haben. Und getanzt. F. steht stumm, er weint nicht, aber die Tränen schwappen bis ans Unterlid. Um elf vor fünf haben Frau Tuttelbarths Finger ausgetanzt.

So! So müsse das klingen!

F. gibt einen verlegenen, unmelodischen Kehllaut. Er weiß jetzt auch, wie das klingen müsse, und er weiß, wie sein eigenes Spiel geklungen hat. Und er weiß, wie es niemals klingen wird.

Nie.
Nie.
Niemals.
Jetzt schweigen beide und lauschen dem metronomischen Atem ihres Mannes, der in der Küche sitzt.

Spielste noch einmal, Edda?

F. nickt. Er ist nicht gekränkt, und sie spielt noch einmal.

Der junge F. lauscht. Viel hat er nicht verstanden. Nur ein paar Saiten seiner mindermusikalischen Seelenharfe könnten ganz leicht ins Schwingen geraten sein, ins Schwingen und Singen. Singen von früher, von ihrer Jugend, vom Herrenhaus, von weiten Feldern, das Musikzimmer voller Gäste, flüsternd: So eine Begabung! Solch ein Talent! Die kräftigen jungen Finger über die Tasten tanzen lassen, ein Jubel, eine Lust. Eine schwingende Ahnung vom Mädchengymnasium in Gleiwitz, dem Vorspiel im Konservatorium, rauschend der Applaus, Glückwünsche: Hochbegabt! Fast ein Wunderkind! Ein Traum von Konzertreisen, Sälen voll Zauberklang.

Und dann davon müssen, aus dem Haus, über Nacht, nur davon, schnell davon, die Flucht, mit zerschundenen Fingern an den Wagen klammern, taub und tot vom Frost, vom Rübenklauben. Nichts mehr von Musik. Dann endlich ankommen, arbeiten, Hand anlegen, andere Dinge tun. Viel später erst wieder ein Klavier finden, spielen können, üben, üben, üben. Jetzt aber waren andere dagewesen, Jüngere, Bessere, mit schlankeren Fingern, auch Gepflegtere, mit gut gepflegten Beziehungen. So waren aus den großen Träumen kleine Klavierstunden geworden, mit guten und schlechten Schülern. Auch hoffnungslosen. Vollkommenen Stümpern. Musikalischen Analphabeten. Hackklötzen. Mit mir, mit müden Mordpfoten mittwochs Chopin massakrierend.

So!, sagt die Tuttelbarth, als der letzte Ton verklungen ist. Es ist eine Minute vor fünf, am 27. 4. 1988. So müsse das klingen!

Kurzes Nachspiel

Wir haben durchgehalten, Edda Tuttelbarth und ich, bis zum Ende des Schuljahres. Jeden Mittwoch habe ich mich unter meinem rindsledernen Panzer zu ihr hinüberbewegt, wie Ludwig XVI. auf dem Schinderskarren, den Eltern zuliebe. Aber seit diesem Tag Ende April ist mir klar gewesen, dass ihr Schmerz viel größer gewesen muss als meiner. Dass ihre Stockspitze zwischen meinen Fingern nichts war im Vergleich zum Tanz der Schmerzen in ihren Gehörgängen.

Dann endete der Tanz. Der stockende, stolpernde, verbockte, versaute, die wöchentliche Ohrenpein – die immer und ewig vermurkste Muzarka.